Freitag, 19. April 2024

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Das vierte Opfer

Zwei Tote innerhalb von zwei Monaten beunruhigen den Küstenort Kaalbringen. Zwei Männer, die auf brutale Weise geköpft wurden. Wer ist der Täter? Ein Massenmörder? Ein Psychopath? Wo ist das Verbindende? Da die Ermittlungen stagnieren, soll Hauptkommissar Van Veeteren aus Maardam die Aufklärung vor Ort unterstützen. So heisst es im Roman:

Sabine Barth | 07.03.2000
    "Er schaute auf die Uhr. Halb sechs. Noch ein paar Stunden Akten wühlen im Hoteizimmer und dann etwas essen ... genau das richtige Programm, um die Zeit totzuschlagen. Das war wohl die einzige Eigenschaft, die er im Laufe der Jahre hatte entwickeln können: die Fähigkeit, die Zeit totzuschlagen. Ja, und natürlich eine gewisse Veranlagung, Gewaltverbrecher dingfest zu machen."

    "Das vierte Opfer" ist der dritte Kriminalroman des Schweden Hakan Nesser, der jetzt auf deutsch vorliegt. Der Held, Hauptkommissar Van Veeteren, ist nicht nur ein exzellenter Ermittler, sondern vor allem ein Mensch mit Schwächen, der viel Verständnis für schwache Menschen hat. Seine wichtigste Eigenschaft ist zu warten, bis der Punkt erreicht ist, von dem aus die Lösung ganz logisch und selbstverständlich wird. Van Veeteren nennt ihn zu Ehren seines ehemaligen Ausbilders "Borkmanns Punkt", so auch der Originaltitel des Romans. Jeder Fall ist für den passionierten Schachspieler gleichsam ein Spiel, in dem er die Züge seines Gegenübers verstehen und parieren lernt. In "Das vierte Opfer" hat Van Veeteren ausreichend Gelegenheit zum Schachspiel mit seinem Kollegen Bausen aus Kaalbringen. In zwei Monaten wird Bausen pensioniert, und Van Veeteren hat ihm versprochen, daß sie bis dahin den Fall des"Henkers" gelöst haben. Doch auch nach dem dritten Mord weiß er nicht mehr über den Täter als bisher. Dazu der Autor:

    Der Name Van Veeteren geht auf zwei Quellen zurück: Zum einen auf den niederländischen Autor Jan-Willem Van de Wetering, beide Namen sind verwandt. Zum anderen bedeutet im Schwedischen "van veet", was immerhin zwei Drittel von Van Veeterens Namen ausmacht, "wer weiß" bzw. "weiß der Teufel", was soviel heißt wie: Niemand weiß es. So könnte man Van Veeterens Namen übersetzen."

    Doch der Leser weiß mehr. Er kennt das Motiv des Mörders: Rache. Dieses archaische, archetypische Gefühl, das schon in der Antike zu großen Dramen inspirierte, treibt den Täter an. Er nimmt Rache für ein Verbrechen an seiner Tochter, das kein Gericht sühnen würde. Hakan Nesser verstärkt durch den Perspektivenwechsel von den Ermittlern zu dem Mörder die Spannung und schafft so einen eigenen Rhythmus. Während sich die einen im zähen Nichts der Unkenntnis befinden, erreicht der andere sein Ziel. Doch als es endlich so scheint, als stünde der Fall durch die Intuition der jungen Inspektoren Beate Moerk vor der Lösung, wird diese vom "Henker" entführt. Van Veeteren und seine Kollegen kämpfen jetzt nicht nur gegen den Mörder sondern auch gegen die Zeit. Nesser zählt neben Henning Mankell zu den bekanntesten schwedischen Kriminalautoren. Fast könnte man ein neues Doppel sehen, das zwar nicht miteinander veröffentlicht, doch jeder für sich nicht weniger erfolgreich als das legendäre Autorengespann Sjöwall-Wahlöö. Dazu der Autor:

    "Man kann nicht ein schwedischer Kriminalautor sein und den Einfluß von Sjöwall/Wahlöö ignorieren. Ich habe sie in den 60ern und 70ern gelesen und genossen, aber ich versuche -sie nicht zu kopieren. Sie setzen den Standard für schwedische Kriminalliteratur, von daher gibt es wohl eine Art verborgenen Einfluß. Nach dem Tod von Sjöwall/Wahlöö war ein Vakuum für Kriminalliteratur in Schweden für ca. 15 Jahre, eine Art Depression, wie die Kritik meint. In den 90ern hat es eine Renaissance der Kriminalliteratur gegeben."

    Wie Sjöwall/Wahlöö in den 60ern und 70ern greift auch Nesser die Themen der Gesellschaft in den 90ern auf: Drogenmißbrauch, Inzest, sexuelle Gewalt. Nesser beschreibt seine Mörder nicht als Psychopathen, sondern als letztlich getriebene und einsame Menschen. Sie müssen ihren Weg gehen, ohne die Möglichkeit, sich einem Gegenüber zu erklären. So sehnt der Mörder in "Das vierte Opfer" geradezu den Zeitpunkt der Aufklärung herbei. Er fühlt sich befreit, als er Beate Moerk die Gründe für sein Tun darlegen kann. Der Autor:

    "Einsame Menschen sind interessante Charaktere, und das berücksichtigt man, wenn man einen Charakter entwickelt. Ich glaube, daß z.B. die meister Mörder sehr einsam sind. Wenn man stirbt, wird man einsam sein."

    Hakan Nesser interessiert sich für die psychologischen Zusammenhänge, die er in dem Roman sehr genau darstellt, ohne dabei zum Hobby-Freud zu werden. Er stattet Van Veeteren mit viel Verständnis und Nachsicht gegenüber dem Mörder aus, denn auch er zählt zu den Einsamen:

    "Eine große Trauer und eine große Entschlossenheit, das sind wohl die Hauptzutaten zu diesem Gericht." Das sind Moerks Worte, nicht meine, aber sie taugen sicher gut als Zusammenfassung. Trauer, Entschlossenheit und Notwendigkeit. Es ist nicht unbedingt eine schöne Welt, in der wir leben, aber das ist uns ja schon vor langer Zeit klar geworden. Oder?"

    Nessers Dramaturgie ist wie sein Thema geradezu klassisch. Fünf Akte, die jeweils mit einer genauen Datumsangabe eingeleitet werden. Die Entführung des vierten Opfers steht im dritten Akt, anschließend Lösung und Epilog. Auch bei der Verwendung des Wettersymbols als Spiegel für innere Zustände verfährt Nesser sehr konventionell. Doch das manche Formulierungen etwas ins Pathos rutschen, liegt mehr an der Übersetzung als am Original. Diese kleinen Einschränkungen ändern aber nichts am Gesamteindruck: Ein Kriminalroman der besonderen Klasse.