Freitag, 19. April 2024

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Greenwichprosa

"Und so bleiben zwei Röntgenbilder, ein paar Linien, die sich abzeichnen, ein Gerüst, ein Gespinst, helle Striche auf dunklem Hintergrund." - Nein, keinen weiteren Fall von literarisch aufgearbeiteter Krankheitsgeschichte eröffnet die Erzählerin in Krupps Erstlingsroman mit diesen zugleich resümierenden Worten. Vielmehr werden wir, wie die bis zum Schluß des Buches namenlos bleibende Erzählerin, "Augen- und Ohrenzeuge" eines nüchternen 24-Stundenprotokolles im Leben einer jungen Frau namens Lene Mertens. Von Beruf Bürokauffrau, ist sie als literarische Figur gerade so durchschnittlich wie repräsentativ für jenes "vorgestanzte Leben", das sie bis dato führte.

Claudia Kramatschek | 01.01.1980
    Doch damit hat es ein Ende. Lene hat gekündigt, und nun begleiten wir die junge Frau, beginnend in ihrem noch dämmemden Erwachen um 7.48 Uhr, durch den letzten Arbeitstag und eine ebenso lang durchzechte wie redselige Nacht bis hin zum neuerlichen Tagesanbruch um 7.50 Uhr. Der Aufbruch in die unbekannte Freiheit wird folgen, doch nicht ohne vorhergehende Verortung, eine Art Kartographierung ihres Inneren. Denn wie sich von Greenwich aus das orientierungsstiftende Raster von Längen- und Breitengraden über die Welt zieht, so wünscht Lene jenen archimedischen Punkt in ihrem bisherigen Leben zu rekonstruieren, von dem aus all ihre unscheinbaren und doch signifikanten Fluchtlinien, vor allem aber dies allzubekannte "Verlangen, der Versteinerung zu entfliehen", ihren Anfang nahmen. Wo und wann löst sich solch gelebtes Leben von der inneren Wahrheit einer Person ab? Gibt es diese innere Wahrheit überhaupt? Wenn ja, dann wohl nur um den Preis ihrer zwei Seiten. Und so interveniert - als Garantin größtmöglicher Objektivität - jene anonyme Erzählerin, um, quasi als Medium, der jungen Frau nicht nur ihre Stimme und Sinne zu verleihen. Wie ein Enzephalogramm vielmehr, registriert diese Erzählerin in stichwortartigen Momentaufnahmen ausschnitthaft jene unscheinbaren, über den Tag und die Nacht verstreuten Gesten und Ereignisse, die nur beiläufig wirken, doch die Sinnhaftigkeit des Alltags erst gewährleisten. Die Akribie aber läuft fehl. Denn jene subjektive Verzerrung, die sich jedem Wahrnehmungsprozeß einschreibt, hat auch in diesem Aufschreibeverfahren bereits ihre Spuren hinterlassen. Auf die Minute sind sie datiert, diese Notate, immer in der noch absichtsvollen Hoffnung, schließlich "der Grammatik des Tages die Grammatik der Nacht entgegenhalten" zu können.

    Die Grammatik des Tages - das ist nicht nur das Staccato der Bild- und Geräuschfetzen der modernen Alltagskulisse. Das ist ebenso die fließbandhafte Monotonie jener ewiggleichen, bereits sinnentleerten Ritualien der Arbeitswelt: Von den eigenen Handgriffen über die Körperbewegungen bis hin zu den mittäglichen Kaugewohnheiten der anderen - nichts, was sich nicht wie mikroskopisch vergrößert, dem Auge unbarmherzig, ja schmerzhaft einprägen würde. Mit sicherer Hand wechselt Krupp dabei von impressionistisch-poetischen Momentwiedergaben über schnell skizzierte Personentypisierungen zu einem starr aneinandergereihten Hauptsatzgefüge, dem bereits die ganze beklemmende Ödnis solch einer mechanisch geregelten Welt anhaftet.

    Mit der hereinbrechenden Nacht verlagert Krupp den Schauplatz bezeichnenderweise in ein Café in einem Keller. An diesem Ort, laut Bachelards Sinnbild des "vermauerten Dramas", diktieren nun weit zurückreichende Erinnerungen die Grammatik der Nacht: Bruchstückhaft aufschwemmendes Stückgut aus der Vergangenheit, Reminiszensen an Ausstellungsbesuche, gemeinsam verbrachte Abende, Kindergeburtstage, vernommene Märchen. Zeitweilig droht auch der Leser in diesem Mahlstrom an Bildern den Faden zu verlieren. Um so mehr, da nicht gespart wird an beschwörend wiederkehrenden Hinweisen auf eine verborgene, nicht faßbare Wahrheit, die sich unter dem Mantel der schätzenden Worte nur immer mehr entziehe. Die Lösung dieser Seelenarchäologie erfolgt spät, fast zu spät für den Leser. Da mutet es fast ein wenig leichtfüßig an, wie reibungslos sich Lenes gordischer Knoten, die Verstrickung von Tag- und Nachtseite ihres Lebens entwirren läßt. Wenn Wirklichkeit schon am seidenen Faden einer immer nur konstruierenden Erinnerung hängt, wäre es dann nicht konsequenter, das Ringen zwischen Tag und Nacht in einer Balance mit offenem Ausgang zu belassen?