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100 Jahre Poesie

Die zum Hörbuch des Jahres 2009 gekürte CD "Lyrikstimmen" erschlägt zunächst durch Masse: 122 Autorinnen und Autoren, 420 Gedichte, neun CDs, Gesamtspielzeit: knapp elf Stunden. Ein außerordentliches Dokument, obwohl der Blick der Herausgeber auch ärgerliche blinde Flecken aufweist.

Von Daniela Seel | 11.12.2009
    Der Herbst begann gerade, seine überlangen Arme um Berlin, diese sibirischste der deutschen Städte, zu legen, als die Post eine kleine, gewaltige Schachtel in die Behausung der Rezensentin trug. Schon das satte Grau ihres Einbands, nur spärlich von Rottönen durchhuscht, schien es mit dem Berliner Himmel aufnehmen zu wollen. Eine weiße Schrift versprach: "Die bedeutendste Originaltonsammlung deutschsprachiger Lyrik". Hoppla - so vollmundig tönt es aus den Marketingetagen der Verlage doch eher selten, zumal wenn es um Dichtung geht. Neugierig und zugleich gewarnt machte ich mich daran, zu hören.

    "Lyrikstimmen. Die Bibliothek der Poeten", im Oktober beim Münchner Hörverlag erschienen, besticht zunächst durch schiere Fülle: 122 Autorinnen und Autoren, 420 Gedichte auf neun CDs mit einer Gesamtspielzeit von 638 Minuten; das sind knapp elf Stunden, um die Stimmung unterm Berliner Himmel aufzuhellen. "100 Jahre Lyrik im Originalton" überspannen sie, beginnend mit der ältesten erhaltenen Tonaufnahme eines deutschsprachigen Dichters aus dem Jahr 1907, Hugo von Hofmannsthal.

    Die Poesie wird mitunter als die älteste Kunstform bezeichnet, und tatsächlich gehen manche Wissenschaftler heute davon aus, dass der Mensch singen konnte, bevor er sprechen lernte, dass also unsere Fähigkeit, zu sprechen und Sprache zu bilden, sich aus unserer Fähigkeit zu singen entwickelt hat. Der Dichtung eignet bis heute wie keiner anderen literarischen Gattung eine ihr wesentliche Doppelgestalt. Ähnlich dem Licht, das sich als Welle und Teilchen bewegt und dessen eine Existenzform ohne die andere kaum verstanden werden kann, oszillieren Gedichte gleichsam zwischen ihrer Fixierung in Schrift und ihrer Bewegung durch eine Stimme.

    Atembewegungen, Körperrhythmen und Stimmlage eines Dichters beeinflussen sein Schreiben, seinen Tonsatz; sie zeigen sich etwa in einer Neigung zu bestimmten Metren, einer Vorliebe für oder Meidung von bestimmten Lautfolgen und syntaktischen Fügungen. Während der Arbeit an einem Text prüfen Dichter durch lautes Lesen Dichte und Stimmigkeit; wo die Stimme stolpert, stimmt oft etwas im Gedicht noch nicht. Durch den Entstehungsprozess sind Gedichtkörper dem Körper des Dichters also in besonderer Weise verbunden. Die Stimme des Dichters kann uns etwas vermitteln, was keine stille Lektüre, keine Analyse und kein schauspielerischer Vortrag einzuholen vermögen.

    Allein darum schon ist dem Hörverlag großes Lob auszusprechen. Neun Jahre nachdem dort mit "The Spoken Arts Treasury [100 Modern American Poets Reading Their Poems]" die wegweisende amerikanische Sammlung aus dem Jahr 1970 für Hörer auch hierzulande zugänglich gemacht wurde, liegt nun erstmals ein derart umfangreiches Konzert deutschsprachiger Dichterstimmen auf Tonträger vor. Fünf Jahre haben die vier Herausgeber Christiane Collorio, Peter Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger zusammengetragen und ausgewählt. In der Abfolge ihrer Geburtsdaten stehen nun selten gehörte und der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr präsente Autoren wie Paula Ludwig und Friedrich Schnack neben modernen Klassikern, die man immer wieder gerne hört, folgen Texte, an denen die Zeit nicht schadlos vorüberging, auf Verse, die auch nach Jahrzehnten nichts von ihrer Kraft eingebüßt haben, wie etwa die folgenden von H.C. Artmann.

    Die häufig charakteristischen dialektalen Einfärbungen der Dichterstimmen machen einen manchmal auf erfrischende Weise irritierenden Reiz dieser Tondokumente aus - etwa wenn Joachim Ringelnatz seinen niederdeutschen Seemann Kuddel Daddeldu auch nach Jahren auf See und Bühnen noch in leicht sächsischem Singsang intoniert. Und erschrickt man anfangs über manche Grobheiten des Vortrags, so stellt sich im Verlauf dieser akustischen Aufzeichnungen eine überraschende Erkenntnis ein: Die Geschichte der Dichtung im 20. Jahrhundert erweist sich hier nämlich auch als die Geschichte einer Annäherung zwischen Mensch und Maschine. Wir leben heute in so enger Symbiose mit Geräten, dass wir sie fast als Erweiterungen des eigenen Körpers betrachten, und können uns eine Zeit, in der es nicht selbstverständlich war, in ein Mikrofon zu sprechen, kaum mehr vorstellen. Sich in Erinnerung zu rufen, dass die Vorleser, Deklamierer, Sprecher und Sänger bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ganze Säle mit unverstärkter Stimme füllen mussten und ihnen die Hörer im Jenseits des Äthers wohl ferner erschienen sein müssen als tuschelnde Gäste einer dritten Galerie, hilft dann, auch den eher keifenden älteren Herren aus den Anfangsjahren der Tontechnik mit Genuss zu lauschen. Doch haben die Dichter das Mikrofon einmal für sich entdeckt, scheint es als Arbeitsmittel und Werkzeug der menschlichen Stimme nicht mehr wegzudenken. So wie einige der eindrücklichsten Schöpfungen der konkreten Poesie Produkte der Schreibmaschine sind, so wären - das lernen wir hier zu hören - die Entwicklungen gerade der Lautpoesie ohne Mikrofon nicht möglich gewesen. Ihre für die Bühne etwa des Cabaret Voltaire verfassten frühen Meisterwerke konnten die fein ausdifferenzierte Komplexität von Laut-, Sinn- und Stimmverschiebungen nicht erreichen, die später Ernst Jandl, Oskar Pastior oder Gerhard Rühm gelingen.

    Die Verfolgung solcher Entwicklungen wird allerdings dadurch erschwert, dass leider nur die Aufnahme-, nicht die Entstehungsjahre der Gedichte im umfangreichen Booklet vermerkt sind, das vor allem Biobibliografien und Quellennachweise aufführt. Und nur die limitierte Sonderedition enthält auch Textfassungen in Form von zehn Autografen.

    In der Komposition hoch komplexer Laut-, Sinn- und Stimmtexturen in den letzten Jahren am weitesten gegangen ist Anja Utler. Ihre jüngsten Gedichtbände sind als mehrstimmige Partituren komponiert und von ihr auch auf CDs eingesprochen worden. Sie schafft darin Schrift- und Stimmkunstwerke, die eine bezwingend präzise Radikalität im Tonsatz entwickeln, ohne auf Narrative zu verzichten. Unbegreiflicherweise ist sie auf den "Lyrikstimmen" nicht zu hören. Ebenso wenig Oswald Egger, dessen "Herden der Rede", von ihm selbst vorgetragen, den Bann mittelalterlicher Zaubersprüche entfalten und eine Klangschönheit, die ihresgleichen sucht.

    Wirkt die Anthologie zunächst vielfältig und überreich, beinahe monumental, treten bei genauerer Betrachtung leider deutliche Mängel hervor. Die anfängliche Begeisterung für etwas, das ein poetischer Stimmatlas der letzten 100 Jahre hätte werden können, weicht Ernüchterung angesichts dessen, was und wer alles fehlt. Von 122 ausgewählten Stimmen sind nur 20 weiblich, nicht einmal ein Sechstel! Mag man den Herausgebern noch zugestehen, dass von Else Lasker-Schüler, Gertrud Kolmar, Emmy Hennings oder Inge Müller tatsächlich keine Tonaufnahmen existieren, so kann dies für Herta Müller, Kathrin Schmidt, Ilma Rakusa, Brigitte Oleschinski, Ulrike Draesner, Marion Poschmann oder Monika Rinck nicht gelten.

    Aus der Schweiz nur sage und schreibe drei Dichter, und was hätte gerade hier an Klangfarben gewonnen werden können, zum Beispiel mit Kurt Aebli oder Raphael Urweider. Und während einer nur noch schwer erträglichen Nachkriegsbiederkeit allzu breiter Raum geschenkt wird, fehlt anderes beinahe ganz, etwa der vitale Untergrund der späten DDR und die Stimmen aus der Nervenheilanstalt Gugging, die Stimmen aus dem Banat oder von Dichterinnen und Dichtern, die wie Zhuzsanna Gahse, Yoko Tawada und Farhad Showgi in mehreren Sprachen zu Hause sind und die deutschsprachige Literatur dadurch in besonderem Maße bereichern.

    Auch ganze Genres tauchen nicht auf. Etwa die für die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts so entscheidende Form des Langgedichts, wo hierzulande jüngst durch Ulf Stolterfoht, Ursula Krechel, Paulus Böhmer und Gerhard Falkner endlich wieder Anschluss an die Weltliteratur gesucht wurde, was zumindest in Ausschnitten hätte gezeigt werden können. Auch Otto Nebel, Konrad Bayer, Ror Wolf und Wolfgang Hilbig seien noch als präsente Abwesende genannt.

    Der verengte Blick der Herausgeber ist ärgerlich und präsentiert ein tristeres Panorama der deutschsprachigen Dichtung, als sie es eigentlich verdient hätte. Denn hat man sich durch die gesamte vorliegende Auswahl gehört, überwiegt - nach der Hoch-Zeit der Moderne - leider der Eindruck erschreckender Provinzialität im schlechtesten Sinne insbesondere der deutschen Autoren und noch bis in die Gegenwart hinein. Vergleicht man, welche Werke zur gleichen Zeit in unseren Nachbarsprachen Dänisch - mit der Jahrhundertdichterin Inger Christensen - und Polnisch entstanden oder natürlich im Englischen, von Allen Ginsberg über Sylvia Plath bis John Ashbery und Derek Walcott, um nur einige der mittlerweile auch in Deutschland bekanntesten und einflussreichsten zu nennen, erscheinen weite Teile der Nachkriegsdichtung in Ost wie West als betrübliche Sackgassen. Dieser "deutsche Sonderweg" verwechselt den freien Vers mit "frei von Kunstfertigkeit", vernachlässigt, indem er die poetische Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf semantische Aspekte reduziert, die der Dichtung so elementaren syntaktischen, prosodischen, musikalischen, Dimensionen, und setzt private Betrachtungen an die Stelle ästhetischer und kompositorischer Herausforderungen. Wären die Österreicher und die Dichter der Diaspora nicht gewesen, zwischen Brecht und Brinkmann bliebe für die Nachgeborenen nicht viel. Dafür tragen die Herausgeber zwar keine Verantwortung, wohl aber dafür, dass sie für die späteren Jahre, wo es so viel anderes und Besseres, Mutigeres, Vielfältigeres gibt, dies nicht zeigen.

    Natürlich ist jede Auswahl parteiisch, kann keine Anthologie vollständig sein. Doch anders als im Printbereich, wo jedes Jahr mehrere Sammlungen erscheinen, die sich wechselseitig ergänzen, wird diese wohl ohne ausgleichende Nachfolger bleiben. Die Chance, wirklich, wie es in einem der Vorworte heißt, die "ideale Bibliothek des Ohres" zu schaffen, wurde vertan. Statt eines Meilensteins scheint vielmehr der Endpunkt für eine an ihre Grenzen gekommene Publikationsform gesetzt.

    Bezeichnenderweise feierte just in der Woche, in der die "Lyrikstimmen" mein Postfach erreichten, eine Institution ihr zehnjähriges Bestehen, die sich seit ihrer Gründung konsequent für eben eine solche "ideale Bibliothek des Ohres" einsetzt: Auf www.lyrikline.org wächst beständig ein einzigartiges internationales Archiv der Dichterstimmen, das neben Audiofiles auch Texte und meist mehrere Übersetzungen umfasst.

    Dass die "Lyrikstimmen" trotz aller Schwächen ein außerordentliches Dokument sind und viel Hörenswertes enthalten, dafür mögen abschließend zwei der ganz Großen in der Kunst der Poesie zeugen. Christine Lavant und Elke Erb.


    Lyrikstimmen - Die Bibliothek der Poeten
    Herausgegeben von Christiane Collorio, Peter Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger
    Der Hörverlag, München 2009