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Das Daseinsgefühl der Abwesenheit

Wenn dieser Dichter an Deutschland denkt, dessen Geschichte der Spaltung sich buchstäblich in seinen Körper eingeschrieben hat, dann ist er nach dreißig Jahren des Schreibens noch immer um den Schlaf gebracht.

Von Michael Braun | 03.07.2011
    Kurt Drawert, 1956 geboren im brandenburgischen Henningsdorf, aufgewachsen und sozialisiert in Dresden, ist das Daseinsgefühl der Abwesenheit nie losgeworden, auch nicht nach seinem Weltenwechsel von Leipzig nach Bremen und später nach Darmstadt.

    Was bleibt, nach einem halben Leben in einem Land, das die existenzielle Heimatlosigkeit nie aufheben konnte, ist ein ätzender Sarkasmus. Es klingt wie ein bitterer Schlussakkord, wenn Drawert in einem New York-Zyklus aus dem Jahr 2010 noch einmal seine Biografie resümiert.

    "Mein Land", heißt es da, "mein Land war eine Rittmeisterpeitsche, / ein vergifteter Brunnen, Abfall vom Hund. / Ich werde es nicht mehr erwähnen, / ostdeutsch verwundet und westdeutsch / verwaltet, ich habe zu sprechen begonnen / und war sofort allein."

    Und dieser Vers lässt sich fast als Daseinsformel des Autors Kurt Drawert lesen: "Ich habe zu sprechen begonnen und war sofort allein".
    Denn die Geschichte des Sprechens ist bei diesem Dichter mit Traumatisierungen verbunden. Als Kind hatte Drawert unter dem autoritären Charakter seines Vaters zu leiden, einem Polizeioffizier, der dem widerborstigen Jungen die Alphabete des real existierenden Sozialismus einprügeln wollte, bis dieser ins zwanghafte Verstummen zurückfiel. Für sein Sprach-Versagen wurde der junge Drawert in die Dunkelheit des Kellers gesperrt, da er nicht willens schien, sich in die die Sprachregelungen des Staates einzuüben. Dort, in der Finsternis des Kellers, scheint sich das Misstrauen gegenüber allen fest etablierten Sprachordnungen ausgebildet zu haben, das den Schriftsteller Kurt Drawert geprägt hat, bis in die Mikrostruktur seiner Gedichte hinein. Das Zur-Sprache-Kommen, so hat es Drawert in seinen Essays immer wieder beschrieben, ist der Sündenfall. Die Alphabetisierung ist der Schrecken, denn sie ist mir Gewalt verbunden, mit der gesellschaftlichen Durchsetzung einer Herrschaftssprache.

    Das neue Gedichtbuch Kurt Drawerts, eine Art Bestandsaufnahme und lyrische Summa, versammelt die intensivsten und substanziellsten Texte des Autors aus drei Jahrzehnten, ergänzt um zwei Dutzend neuer Texte. Wer die frühen Gedichte aus den achtziger Jahren mit den neuen Texten vergleicht, der entdeckt rasch die motivische Konstante dieses Werks.
    Denn zur Identifikationsfigur und zum symbolischen Kronzeugen dieser Lyrik wird ein rätselhafter Fremdling, der sich in die Welt der Sprache erst zögernd hineintasten musste. Es ist der Findling Kaspar Hauser, der im Mai 1828 urplötzlich auf einem Marktplatz in Nürnberg auftauchte und den die überraschten Zeitgenossen sogleich den Maximen ihrer Lebenswelt anpassen wollten. Der stumme Kaspar Hauser, der aus seiner lichtlosen Höhle heraustritt und sich plötzlich einer neuen Ordnung unterwerfen muss - das ist die literarische Urszene, die uns in unterschiedlichen symbolischen Repräsentationen und Variationen in den Gedichten Kurt Drawerts immer wieder begegnet. Kaspar Hauser, der in die Menschenwelt Hineingetriebene, träumt noch einmal im gleichnamigen Gedicht von der glücklichen Zeit "jenseits der Sprache", da er noch geborgen war in der "Geschichte der Stille". Das Gedicht vergegenwärtigt den Augenblick, da Kaspar Hauser mit tödlichen Stichverletzungen des nahen Todes bewusst wird und auf sein Leben zurückblickt.

    Kurt Drawert liest "Kaspar Hauser":


    Kaspar Hauser

    Wenn er jetzt, versehentlich
    in der Welt, an die Zeit
    im Kamin denkt,
    jenseits der Sprache
    und im glücklichen Spiel
    mit seinen Zehen,
    als da nichts war
    außer den flinken,
    fröhlichen Mäusen
    zur wunschlosen Stunde
    und die Wärme
    im Schatten des Namens
    tief war im Körper,
    wo jetzt die Klinge
    hart bis zum Schaft
    ihren Platz hat ... .,
    wenn er jetzt, den Mund
    voll von Blut, den Beamten
    des Fortschritts
    die Geschichte der Stille
    erzählt,
    dann bereut er
    noch einmal
    die Entdeckung des Lichts,
    das erste Öffnen der Tür,
    und wie er im zu guten Glauben
    a gesagt hat.


    Der Eintritt in die Menschenwelt und ihr kommunikatives Handeln wird hier also zum fatalen Ereignis. Das "A-Sagen" – es ist die Einweihung in das Regelwerk einer Gesellschaft, die sich den Einzelnen systematisch unterwirft.

    Wie in diesem "Kaspar Hauser"-Denkbild entwerfen viele Gedichte die Szene einer abgrundtiefen Fremdheit des Subjekts, die sich am fragilsten Ort des Sozialen, nämlich in der sprachlichen Verständigung, manifestiert. Es ist die Erfahrung einer unaufhebbaren Fremdheit der Sprache, der Verlust jeder Selbstverständlichkeit bei der Suche nach Verständigung über sich selbst und über die Dinge. Kaum beginnt das Subjekt zu sprechen, zerfällt die Ordnung der Dinge. Es vollzieht sich sogleich eine Spaltung von Name und Ding, die Sprachzeichen verfehlen die von ihnen bezeichneten Gegenstände, die Bedeutungen entfernen sich immer weiter ins Diffuse.

    In ihrem innersten Kern handeln fast alle Gedichte Kurt Drawerts von diesen Erfahrungen der elementaren inneren Spaltung und Trennung, vom Verlust des Sprachvertrauens und dem Ausgesetztsein eines Sprechenden, der seine Identität durch die gewaltsam verfügte Sprachordnung bedroht sieht.

    Vom ambivalenten "Glück des Verstummens" spricht denn auch das Gedicht "Wo es war", das der Autor dereinst zum programmatischen Titelgedicht eines 1996 publizierten Lyrikbands erhoben hat. Es ist ein Erinnerungsbild, ein Standfoto der Kindheit und ihrer Sehnsuchtsorte und Sehnsuchtsempfindungen. Zugleich lässt der Text erahnen, dass die "vaterlose, friedliche Stille" irgendwann ein Ende gefunden hat und das Subjekt von einer Verstörung aus der Bahn geworfen wurde, nämlich "an einer empfindlichen Stelle / der Biografie".

    Wo es war

    Ich wußte nicht mehr, wie wir uns trafen,
    damals, in den Städten, in denen heute
    die Hymnen verwaist

    ihr Vaterland suchen. In den Ruinen
    des letzten Krieges war eine friedliche,
    vaterlose Stille zu finden.

    Hier kam ich als Kind her, verstört,
    hier ging es uns gut, hier war die Sprache
    außerhalb des Körpers geblieben.

    Später, an einer empfindlichen Stelle
    der Biografie, brach, wie dem einen
    die Stimme, dem anderen

    das Rückgrat, erinnere dich,
    mir war das Glück des Verstummens
    gegeben, wo es war.

    Wo es war, hat das Gras schon zu wuchern
    begonnen. Die kleine Senke im Boden,
    in der ich von Liebe geträumt haben muss,
    ist mit Schotter gefüllt, Lachen von Flußtang
    und Öl, zerdrückte Aluminiumdosen,

    ein Brandfleck. Auch diese Erde
    hat ihre Geschichte verleugnet. Schon lange
    war es dunkel geworden, als ich noch immer
    bewegungslos dastand. Was ich hörte,
    war fremd. Was ich dachte. Und es war Tag.


    Es sind, wie hier, die flüchtigen Alltagsaugenblicke und kleinen Epiphanien an Wendepunkten des Lebens, die Kurt Drawert in seinen Gedichten aufzeichnet. Sehr viel verdankt seine Lyrik dabei der Dichtung Karl Krolows, dessen Gesten des Lakonismus, der Technik des Understatements und der ruhigen, nüchternen Beiläufigkeit seiner Notate. Die Aufmerksamkeit auf die unscheinbaren Phänomene des Alltags, wie sie Drawert so kunstvoll inszeniert, ist aber nicht nur eine Erbschaft des Lakonikers Krolow.

    In den ganz frühen Gedichten Drawerts ist als Vorbild auch der rebellische, ganz der Alltagsbeschreibung zugewandte Lyriker Rolf Dieter Brinkmann sichtbar. Die Orientierung des jungen Kurt Drawert an westdeutschen Autoren hat denn auch die frühen DDR-Leser irritiert. So erklärt sich auch die Verwirrung von Drawerts großem Förderer Heinz Czechowski, der 1987 ein Nachwort zu Drawerts Debütbuch "Zweite Inventur" beisteuerte. Denn mit Drawerts kühlen Lakonismen, seinen akribischen Erkundungen eines Lebens, das sich aufzulösen beginnt, hatte man in der DDR der achtziger Jahre Schwierigkeiten. Hier sprach ein Autor ganz beharrlich vom "Privateigentum an Empfindung" – und das war nicht mehr unterzubringen in einer Poetik, die auf eine unerschütterbare Ordnung der Kollektivität aus war. Ein ganz frühes Gedicht Drawerts, das den Titel "Tagebuch" trägt, entwirft geradezu idealtypisch das Programm dieses Autors: Es ist zunächst die Konzentration auf einen ganz kleinen Ausschnitt der Lebenswelt, das Festhalten eines flüchtigen Alltagsdetails – und schließlich die sprachskeptische Reflexion auf die Bezeichnung der gesehenen Gegenstände. Und es kommt ein zentrales Motiv ins Bild – das Verschwinden der Phänomene im Akt des Sprechens selbst. "Die Lust zu verschwinden im Körper der Texte", heißt ein Essay Kurt Drawerts, der im Mittelteil seines neuen Bands "Idylle, rückwärts" abgedruckt ist. Dieser Essay ist geistig affiziert von den Theoretikern des französischen Strukturalismus, die bereits im Motto seines ersten Gedichtbands auftauchten: nämlich Michel Foucault und Jacques Lacan. Und vom Verschwinden handelt auch das frühe Gedicht "Tagebuch":

    Tagebuch

    Die Wolken treiben dahin
    an diesem Morgen, wie die
    Worte in meinem Herzen,

    bis sie verschwinden, wie die
    Wolken in diesen Morgen,
    der Morgen in diesen Tag,

    und der Tag in den Sätzen:
    Das war eine Wolke oder
    das war ein Morgen

    verschwunden sein wird.
    Ich denke, dass alles endet,
    indem es beginnt,

    und es ist Montag, und die Dinge
    verschwinden, und ich gehe
    aus dem Haus, über die

    Straße, über den Platz, deine
    Bemerkung erinnernd: >Unsere Liebe
    ist wirklich<, wie dieser Morgen,

    diese Wolken, dieser Tag,
    wie die Worte in meinem Herzen
    wirklich wirklich

    gewesen sein werden.



    Im Gedicht "Tagebuch" blitzt noch ein weiteres Zentralmotiv des Dichters Kurt Drawert auf, das er nicht nur in lakonischen Gesten, sondern in ganz liedhaften Formen variationsreich durchgespielt hat. Es ist seine Passion für das Liebesgedicht, die große Kunstfertigkeit, die Dinge des Herzens zu sagen, ohne sich süßlicher Klischees zu bedienen. Da finden sich im Band "Idylle, rückwärts" zum Beispiel Liebesgedichte, die sich an die romantische Volksliedstrophe Heinrich Heines anlehnen – und in schöner Knappheit auch Metaphern des Spiegels und der Spiegelung. So geht es im Gedicht "Kontakte" um einen Augenblick des Begehrens.

    Das handelnde Subjekt ist die Schaulust des Autofahrers, dessen Blick auf eine fremde Frau fällt. Der Alltag des hektischen Unterwegsseins auf Autobahn oder Landstraße wird für einen Moment unterbrochen und aus dem leeren Strom des Transitorischen ein Augenblick scharfkantig heraus geschnitten, die Bewegung stillgestellt - und obwohl sich nichts ereignet, hat sich für das Ich einige erfahrungsprägende Momente lang die Welt verändert. Eine direkte Verständigung, ein lebendiger "Kontakt" findet nicht statt, denn es kommt weder zu einem Austausch der Blicke noch zu irgendeiner Form verbaler oder nonverbaler Kommunikation. Aber das Begehren ist da und spiegelt sich nicht nur in den Scheiben eines Autos, sondern auch in den Zeichen der Natur

    Kontakte

    Ich sah sie hinter den Scheiben,
    sprechen, sah, dass sie allein war,
    und sah, dass sie mich nicht sah,

    und sprach. Hinter ihrem Fahrzeug,
    am Straßenrand,
    zwei zueinander geneigte,

    sehr nackte Platanen,
    dahinter die tote Fabrik,
    darüber der Mond,

    etwas gesplittert vom Winter.
    Dann fuhr ich weiter,
    und ich fuhr lange ohne Erinnerung hin.



    Die flüchtige Begegnung zweier Menschen, die sich zufällig an irgendeiner Landstraße treffen, bleibt zwar ohne Folgen. Sie bleiben verkrochen in ihre Fahrzeuge, die Distanz wird nicht aufgehoben, und kurz nach der Begegnung trennen sich ihre Wege wieder. Eine doppelte Barriere vertieft die Distanz zwischen dem Ich und der fremden Frau. Da ist nicht nur die trennende Scheibe, traditionell die Fläche unzähliger narzisstischer Spiegelungen, die eine unüberwindbare Grenze setzt. Da ist auch das offenbar intime Gespräch der Fremden mit einem unsichtbaren Partner, das vermutlich mit einem Handy geführt wird, dem Signum einer narzisstischen Kommunikationskultur.

    Als etwas überdeutliches Symbol für das Begehren des Betrachters wird ein Naturzeichen herbei zitiert: die "sehr nackten Platanen", deren "Zueinander-Geneigtsein" hier gewissermaßen Modell steht für den ersehnten "Kontakt" des Mannes mit der Frau. Das ist eine sehr alte Wunschfantasie. Die Natur wird einmal mehr in einem Identifikationsakt als lyrischer Imaginationsraum genutzt - sie ermöglicht auch die Rückwendung des sprechenden Ichs auf sich selbst.

    Zurück bleibt der begehrende Blick des Ichs, das sein automatisiertes Alltagshandeln, die Autofahrt, fortsetzt. Dieser Grundfigur der misslingenden Begegnung stehen aber auch Gedichte gegenüber, die in schöner Einfachheit und zartem Minimalismus von der Utopie der Liebe sprechen. In solchen lyrischen Miniaturen, in denen sich eine durchaus romantische Empfindung artikuliert, fallen die für Drawerts Dichtung konstitutiven Zweifel weg – und es entfaltet sich ganz ungeschützt ein Sehnsuchtslied:

    Fünf Zeilen

    Ich möchte es noch einmal sein,
    verliebt in den Schein der Liebe.
    Wie die Barke, wenn sie ins Weltmeer sticht,
    unwissend stolz. Und Herz ist Herz,
    und Stein bleibt Stein, ehe das Segel bricht.


    Der schöne Schein der Liebe ist bei Drawert auch ein Augenblick des ästhetischen Vor-Scheins. Selbst im zarten Fünfzeiler ist noch ein Vorbehalt notiert: Es ist ja nicht die Liebe selbst, sondern der "Schein" der Liebe, den sich das Ich schreibend erträumt. Und die Zerbrechlichkeit dieser Utopie wird auch angedeutet: Es ist nur eine kleine, nicht sehr wetterfeste Barke, die sich der Meeres-Gewalt aussetzt.

    Wer nun also die lyrischen Sageweisen aus drei Jahrzehnten genau studiert, die Kurt Drawert im Band "Idylle, rückwärts" zusammengetragen hat, der bekommt auch einen starken Eindruck von der stilistischen Vielseitigkeit, die diesen Autor auszeichnet. Die lakonischen Gedichte finden zu einer fruchtbaren Koexistenz mit den eher liedhaften Formen. Und ganz am Ende des Bandes steht dann das jüngste Werk Kurt Drawerts, ein weit ausgreifender rhapsodischer Gesang über Amerika, gewürzt freilich mit viel Bitterkeit und Sarkasmus. Das Gedicht "Matrix Amerika" liest sich wie das Manifest einer Endzeit, in der die falschen Versprechungen des Kapitalismus ebenso in sich zusammenbrechen wie die Illusionen des Künstlers. "Matrix Amerika" – das ist ein Resümee eines vollkommen desillusionierten Dichters, der weder in der Alten, noch in der Neuen Welt eine Heimat gefunden hat:

    Matrix Amerika
    III
    (Fast alles Lügen, aber das macht nichts.)

    Und mein Unglück ist auch kein Unglück,
    sondern nur die Summe der verlorenen Tage.

    Mein Land war eine Rittmeisterpeitsche,
    ein vergifteter Brunnen, Abfall vom Hund.

    Ich werde es nicht mehr erwähnen,
    ostdeutsch verwundet und westdeutsch

    verwaltet, ich habe zu sprechen begonnen
    und war sofort allein. Alles ist mit allem

    in keinem Gespräch, wir müssen damit rechnen,
    in keiner Sprache mehr verstanden zu werden,

    und ein Foto ist die größte aller Lügen.
    Meine Frau ist Fotografin. Am Abend kommt sie

    in mein Leben zurück. Auf Bildern zeigt sie,
    was sie alles nicht sah. Ich erzähle ihr

    von meinem Schweigen und lese weiter
    in einem fast leeren Buch. Die Seitenzahlen

    sind gut übersetzt, das hält mich wach.
    >Hast du auch kalte Hände?<, fragt sie

    und nimmt einen Schnappschuß
    von einer freien Stelle am Himmel.



    Kurt Drawert: "Idylle, rückwärts. Gedichte aus drei Jahrzehnten"
    C.H. Beck, München 2011
    272 Seiten, 19,95 Euro