Sonntag, 19. Mai 2024

Archiv


Dicke Lügen

Ich wollte in diesem Roman zeigen, wie man eine kleine Infamie begeht - eine Lüge oder einen Ehebruch oder einen kleinen Verrat. Um die zu kaschieren, sieht man sich oft gezwungen, einen noch viel größeren Fehler zu machen - eine dicke Lüge, einen großen Verrat. Das ist das Grundgerüst dieses Romans, in dem alle ihre kleinen Infamien begangen haben. Um die zu vertuschen, muss anschließend jemand einen Mord begehen.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 02.03.2005
    Mit diesen Worten skizziert Carmen Posadas das Grundkonzept ihres Romans, zu dem kein geringerer als Bill Clinton, der ehemalige Präsident der USA mit seiner überall breitgetretenen Affäre mit Monika Lewinsky das Paradebeispiel der Infamie lieferte: Hatte er nicht, um von eben dieser Affäre abzulenken, eine vermeintliche Giftgasfabrik im Sudan bombardieren lassen?

    Doch zurück zum Roman, der beim ersten Blick nach dem klassischen, schon etwas abgenutzten Erfolgsrezept "Essen und Erotik" verfasst zu sein scheint. wie wir es aus den Romanen von Isabel Allende oder Laura Esquivel kennen. Bei Carmen Posadas wollen der renommierte Kunsthändler Ernesto Teldi und seine Ehefrau Adela in ihrem Sommerhaus ein rauschendes Fest geben, das der Catering - Service Maulbeer& Mistel ausrichten soll. Nur - und so fängt der Roman an - droht der Chefkoch Néstor Chaffino im Kühlhaus zu erfrieren, nachdem die Tür frühmorgens mit einem lauten Knall hinter ihm zugeschlagen war.

    Wer wollte da dem berühmten Chef an den Kragen, der schon für die Gaumenfreuden von Maria Callas, Onassis und etlichen anderen Berühmtheiten gesorgt hatte? Wo er doch gerade erst angefangen hatte, all die kulinarischen Geheimnisse, die kleinen Kniffe und Tricks, die einem Gericht den unverwechselbaren Schliff geben, einem Notizbuch an zu vertrauen; um es später als "Kleine Infamien" zu veröffentlichen. Hatte jemand absichtlich die Tür hinter dem Chefkoch zufallen lassen? Carmen Posadas weiß, wie man Spannung erzeugt, Verdacht erregt, Mutmaßungen anstellt und wieder verwirft, wie in einem richtigen Krimi.

    Ich habe die Krimistruktur gewählt, weil ich davon ausging, dass das Buch auf zwei Ebenen
    elesen werden könnte. Zunächst von einem, der sich unterhalten und herausfinden will, wer
    der Mörder ist und das Geheimnis entziffern will; auf einer zweiten Ebene wende ich mich an den literarisch gebildeten Leser mit einer psychologischen Studie der Romanfiguren und
    einer Gesellschaftssatire.


    Genau gesehen werden die Protagonisten des Romans, allen voran Ernesto Teldi gelegentlich von ihrer bestens verdrängten Vergangenheit heimgesucht und zwar nachts, wenn sich der Schlaf nicht einstellen will und unliebsame Erinnerungen an Argentinien hochkommen. Ja, Mitte der 70er Jahre hatte er dort ein Vermögen gemacht, als er in Argentinien zu einem Spottpreis Kunstwerke renommierter Künstler aufgekauft und auf dem internationalen Kunstmarkt höchst gewinnbringend weiter verkauft hatte. Um die Militärs, die sich 1976 an die Macht geputscht hatten, hatte er zwar einen Bogen gemacht, nur: hatte er damals nicht einem Oberleutnant seinen Privatjet geliehen? Waren aus eben diesem Flugzeug heraus nicht Regimegegner ins Meer geworfen worden? Nein, von alldem habe er nichts gewusst, wird er später lächelnd einer Journalistin entgegnen und sich mit Verweis auf seine Stiftung für Nachwuchskünstler als generöser Kunstmäzen gerieren und weitere Fragen mit einem charmanten Lächeln abblocken.

    Klarstellen möchte ich, dass ich diese Romanfigur, die mit der Militärdiktatur zusammengearbeitet hat, auf gar keinen Fall rechtfertige. In den Anfangsjahren der Militärdiktatur wusste man nicht, was da alles geschah; ich erinnere mich noch, wie wir
    damals in Uruguay staunten über all die Chinesen, all die Leichen von Chinesen, die damals auftauchten und niemand wusste woher - eine schreckliche Geschichte, aber das war nun mal so; es waren keine Chinesen, sondern Opfer der Repression, die im Meer orientalische Züge angenommen hatten. Meine Romanfigur ist ein Schmuggler, der einem Militär sein Flugzeug leiht, wobei der Militär ihm bedeutet, keine Fragen zu stellen. Aus heutiger Sicht mag das wie eine Zusammenarbeit mit der Militärdiktatur scheinen; dem ist jedoch nicht so.

    Vielleicht ist das ja die große Infamie: die Oberflächlichkeit mit der hier eine belastende Vergangenheit "entsorgt" wird; da kann einem schlecht werden, trotz all der kulinarischen Köstlichkeiten, die da aufgetischt werden, trotz der bissigen Seitenhiebe, die als Sozialsatire daherkommen wollen und doch eher in die Klatschspalten der Hochglanzmagazine gehörten, denen Ernesto Toldis Ehefrau Adela entsprungen zu sein scheint. Sie will sich nun, nach dreißig Ehejahren, wo jeder seine eigenen Wege gegangen ist, von ihm trennen; wegen Carlos, diesem netten jungen Mann, der bei dem Catering - Service Maulbeer & Mistel arbeitet und bei Madame Longstaffe, einer urbanen Wahrsagerin; etwas Mehr über den Verlauf seines Lebens in Erfahrung bringen möchte. Da halte ich mich lieber an "die kleinen Infamien"

    Einer der schönsten Momente eines guten Essens ist, wenn nach Tisch diese kleinen Delikatessen kommen, die im allgemeinen zum Kaffee gereicht werden. Schokoladentrüffeln, Karamelkirschen, Mandelplätzchen. kandierte Orangen in Blätterteig...Es gibt keine geeignetere Krönung für ein Menu als diese Leckerbissen, die, wie wir gleich sehen werden,auch ihr Geheimnis haben, ihre kleine Gemeinheit.

    Carmen Posadas: "Kleine Infamie"
    Roman, Suhrkamp 2004,
    282 Seiten, 19,80 €