Archiv


Mensch unter Wölfen

In seinem Film "Wolfsbrüder" erzählt der spanische Regisseur Gerarado Olivares die Geschichte eines Jungen, der in die Wildnis geworfen wohl oder übel mit Wölfen zusammenleben muss. Doch ob die Wölfe das Wilde oder Barbarische repräsentieren oder nicht vielmehr die Menschen, die den Jungen hier allein ließen, ist eine der Fragen, die der Film "Wolfsbrüder" stellt.

Von Hartwig Tegeler |
    Dass zuallererst der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, darüber kommen am Anfang von "Wolfsbrüder" keine Illusionen auf: Marcos ist sieben Jahre alt, als er von seinem Vater an einen Großgrundbesitzer verkauft wird. Wölfe haben eine Herde angegriffen.

    "Die Wölfe haben sich fünf Ziegen geholt."

    Die Verantwortung lag bei Marcos und seinem Bruder, den beiden Jungen, den Hirten, und damit bei ihrem Vater.

    "Wenn wir die unserem Herren nicht ersetzen, dann müssen wir hier raus."

    Es ist der Anfang der 1950er-Jahre, Spanien ist eine brutale Klassengesellschaft unter Diktator Franco; es herrscht Armut.

    "Wir haben schon jetzt fast nichts mehr zu essen."

    Auf dem Land gibt es sogar noch Leibeigenschaft.

    "Gib einen der Bengel weg. Sind beide groß genug. Man merkt, dass es nicht deine sind."

    Nein, Gerarado Olivares Film "Wolfsbrüder" ist kein Disney-Film; hier wird nicht im Stil des "Dschungelbuchs" der Mythos der Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Wolf neu aufgewärmt. Denn der Film beginnt mit einem Bild, das man sich brutaler nicht vorstellen kann und das zeigt, wie der Mensch dem Menschen ein Wolf ist: Der Vater, hinter sich der kleine Sohn, reitet von zu Hause weg. Sein vom "padre" verordnetes Schicksal wird fortan sein, jetzt in einem einsamen Gebirgstal wieder Ziegen zu hüten.

    "Man hat mir gesagt, du kannst gut mit Ziegen umgehen."

    Der Vater lässt den verkauften Sohn zurück.

    "Papa, wo gehst du hin?" - "Nach Hause" - "Und ich?"

    Marcos wird in das "Tal der Stille" zu einem alten griesgrämigen Ziegenhirten gebracht. Wildnis, Berge, Sierra Morena: Gerardo Olivares zeigt wunderschöne, imposante Bilder einer kargen spanischen Gebirgslandschaft. Aber als Kontrapunkt zu dieser Schönheit ist immer - schwelend - die Brutalität der Menschenwelt präsent, die auch hierher, in die Isolation des Tals, hineinreicht. Denn der alte Ziegenhirt bringt dem Jungen nur kalte Ablehnung entgegen. Einmal wirft er ihm ein totes Kaninchen hin. Die vergeblichen Versuche des Siebenjährigen, die Nahrung ohne Messer zu zerlegen: ein weiteres hochemotionales Bild über die Gewalt. Doch dann weicht der alte Mann langsam auf; bringt Marcos bei, in der Wildnis zu überleben, Fallen zu stellen, Tiere zu fangen und die Ziegen zu pflegen:

    "Ein Schlangenbiss? - Nein, sie hat sich ein Bein gebrochen. Holt mir ein paar Stöckchen und Seidenbast."

    Vor allem aber bringt der Alte dem Jungen bei, vor den Wölfen des Tals Respekt zu haben und sie nicht als Feinde, sondern als Teil seines Lebens zu betrachten. Als Marcos nach dem Tod des Mannes allein bleibt, werden auch diese Wölfe Sorge tragen, dass er nicht verhungert. Sie gehen ihm von ihrer Jagdbeute, wenn er ihnen von seiner gibt. Hier sind die stärksten Szenen des Films: wenn er kommentarlos zeigt, wie Überleben in solch einer Wildnis funktioniert, für den Menschen, wie für den Wolf. Wenn deutlich wird, dass dies kein Streichelzoo ist.
    Das ist ein Prozess, für den sich Olivares in "Wolfsbrüder" Zeit lässt. Doch "Wolfsbrüder" hinterlässt durchaus einen zwiespältigen Eindruck. Das liegt zum einen an der - mit Verlaub - Musiksoße, die der Score von Klaus Badelt über den Film gießt; das liegt zum anderen daran, dass die Erzählung am Ende wie abgerissen wirkt. Denn nach seiner Initiation in die Wildnis sehen wir Marcos kurz darauf als erwachsenen Mann in Tierfellen in der Lebensgemeinschaft der Wölfe. Ein kurzer Moment, dann nimmt ihn die Polizei gefangen; entführt ihn quasi aus seinem Tal. Ein harter Schnitt, ein trauriger Abschied, und schon zeigen die letzten Einstellungen den wirklichen Marcos - Marcos Rodríguez Pantoja - als alten Mann. Auf seiner Geschichte beruht dieser Spielfilm. Wir erfahren, dass er, nachdem er in die Zivilisation zurückgekehrt war, sich nie in die menschliche Gesellschaft einfügen konnte, aber dass er auch nie seinen Traum verwirklicht hat, zum Leben mit den Wölfen zurückzukehren konnte. Ich war so allein und verloren, dass ich mich in den Alkohol geflüchtet habe, sagte Pantoja in einem Interview. So legt sich schließlich - trotz wunderschöner Bilder der Landschaft und der Wölfe in ihrem natürlichen Lebensraum - ein trauriger, melancholischer Schleier über den Film. Der uns allerdings, ja, vielleicht leise, unaufdringlich, aber damit auch eindrucksvoll von einer gelingenden Kommunikation zwischen dem Jungen und den Wölfen erzählt und so ein Gegenbild zur Brutalität und Kommunikationslosigkeit der menschlichen Gesellschaft entwirft. Deswegen mag man Gerardo Olivares sogar die Musik von "Wolfsbrüder" ein wenig verzeihen.