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Menschen aus Holz

Der 48-jährige deutsche Künstler Stephan Balkenhol ist einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsbildhauer. Die Kunsthalle Baden-Baden unweit von Karlsruhe, wo Balkenhol lehrt, zeigt nun auch Zeichnungen und Radierungen und eine neue Großskulptur.

Von Christian Gampert |
    Ikarus ist abgestürzt. Er liegt in einem langgezogenen Raum der Baden-Badener Kunsthalle, eine massive, schwarz angemalte Eisenfigur, die sehr kleinen Flügel bestehen aus bronzenen Blättern, und man fragt sich angesichts dieser Skulptur, wie diese voluminöse Schwere je auf den Gedanken des Schwebens kommen konnte, ob der Mensch überhaupt je wird fliegen können, obwohl er es nachweislich ja tut - aber hier liegt ein Gescheiterter, übergroß, ganz Körper, ganz Resignation.

    Die Figur, eigens für diese Ausstellung gefertigt, ist absolut untypisch für Stephan Balkenhol, der ja fast immer in Holz arbeitet und die Skulpturen aus einem Block herausschält. Aber die raumfüllende Präsenz dieses wuchtigen Elends zieht den Betrachter hin zu diesem Körper, der hinreichend anonym bleibt, eine Projektionsfläche, eine Installation, ein Theater-Arrangement.

    Der scheidende Kunsthallen-Direktor Matthias Winzen wollte zum Schluss noch einmal einen Maßstab setzen: endlich eine große Rückschau auf Balkenhol, der zwar international anerkannt ist, aber noch nie umfassend zu sehen war. Der Katalog ist ein Kompendium, das weit über die Ausstellung hinausgeht: Er zeigt auch Balkenhols Spiel mit öffentlichen, offenen Räumen, eine Nischenfigur im Städelgarten, den Mann auf der Giraffe am Eingang von Hagenbecks Tierpark, den klobigen, riesigen "Seemannsarm" oder von Bojen getragene Figuren auf der Themse. Es gibt dort auch Fotos aus Balkenhols Studentenzeit bei Ulrich Rückriem oder Bilder aus dem Atelier – mit Klöpfel und Stechbeitel und Kettensägen unter der Werkbank.

    Stephan Balkenhol schlägt seine Figuren aus Holzblöcken heraus, er lässt die Späne und handwerklichen Spuren stehen und erzeugt so eine lakonische Struktur, die die dargestellte Figur absolut interpretationsoffen macht: keine gestische, soziologische Zuordnung, kein Leidenspathos, kein politischer Impetus. Sondern die Frage: Was bleibt, wenn man all das weglässt? Es bleiben fremde, leere Gesichter voller Geschichten und Möglichkeiten, die sich freilich mehr im Kopf des Betrachters abspielen.

    Die Ausstellung ist wunderbar inszeniert. Die große Halle ist oben umgeben von einem Fries kurioser Motive, eine frühe Arbeit; in der Mitte in einem Rondell Varianten von Balkenhols Grundfigur, einem lakonisch dastehenden Mann in schwarzer Hose und weißem Hemd. Was der erwartet und denkt, wird auch in den weiteren Abwandlungen der Figur sorgsam innen gelassen: man sieht nur einen wechselnd großen Menschen auf einem Sockel, immerhin, der in seiner psychischen Nacktheit Raum für sich beansprucht. Manchmal ist er, ebenso wie die weiblichen Pendant-Figuren, als Relief in eine Holzplatte eingefügt; manchmal schrumpft er zum verkleinerten Kopf, der auf einem großen, überlangen Stab angebracht ist. In den weiten Baden-Badener Raumfluchten steht aber auch eine Frauenbüste, ein veralltäglichter Mona-Lisa-Kopf, der eine ganze Türöffnung einnimmt.

    Man mag gerne glauben, dass Balkenhol, als er 1972 als 15-Jähriger auf der documenta jobbte, sich sofort für Kienholz, Oldenburg oder Hanson begeisterte. Spuren des Inszenatorischen finden sich auch in Baden-Baden: diese vor einen Hintergrund, vor optische Koordinaten gestellten und dadurch definierten Menschlein in Kleinformat, die Hybridwesen, zum Beispiel jener skurrile Elefantenmensch, und vor allem der Tanzsaal: Ein ganzer Raum ist mit kleinformatigen Tanzpaaren bestückt, die den absurden Eindruck statuarischer Bewegung hervorrufen: viele fließende Paarbeziehungen, die sich durch die Vervielfältigung wieder relativieren.

    Es gibt in dieser Ausstellung manches zu entdecken: das große handwerkliche Können Balkenhols, der elsässische Abteikirchen als Relief aus der Fläche wachsen lässt; seinen Humor, der eigentlich nicht bildwürdige Pudel und Zebras verwurstet und im nächsten Moment antike Motive zur Hand hat; seine Liebe zum Holz, gefälltes, totes Material, das wieder lebendig wird; sein sicherer Strich in der Zeichnung, sein sorgsamer Umgang mit der Fotografie.

    Entscheidend aber ist Balkenhols Frage: Was ist, wenn wir alle sozialen Definitionen weglassen? Der Moment der Leere ist bei seinen Figuren der Moment der Wahrheit – also das, was im Fernsehen nicht zugelassen ist: die Pause, die Stille, die Konfrontation mit sich selbst. Immerhin, im Museum ist sie zu haben.