Archiv


"Menschen, die Sie nicht verstehen können, deren Freund werden Sie nicht"

Der Schriftsteller Burkhard Spinnen kann die Klage der UNESCO über das Verschwinden von Sprachen nur zum Teil nachvollziehen. Die Hauptfunktion von Sprache sei nicht Erinnerung und Überlieferung, sondern die Kommunikation, betont Spinnen. Er sei "ein bisschen getröstet", wenn jemand eine alte Sprache nicht mehr, dafür aber eine andere spreche, mit der er sich mit seinen Nachbarn besser verständigen könne.

Burkhard Spinnen im Gespräch mit Karin Fischer |
    Karin Fischer: 230 Sprachen sind seit 1950 verschwunden. Der UNESCO-Atlas für bedrohte Sprachen verzeichnet und aktualisiert wöchentlich den damit verbundenen Kulturverlust. Alle zwei Wochen geht eine Sprache verloren. Dieter Offenhäuser, Sprecher der deutschen UNESCO-Kommission in Bonn, erklärt das an einem Beispiel:

    "Es gibt eine Sprache im Grenzgebiet zwischen Ecuador und Peru, in der ist eigentlich das ganze Wissen über den Regenwald aufgehoben. Also, seine gesundheitsfördernden Wirkungen, das ganze biologische Wissen, das physikalische Wissen, das meteorologische Wissen des Regenwaldes ist in dieser einen Sprache aufgehoben und die wird noch von drei Menschen gesprochen."

    Fischer: Grundsätzlich aber zeigt sich auch: In einer globalisierten Welt, die kollektiv Englisch oder Spanisch oder demnächst vielleicht auch Chinesisch spricht, gewinnt das Regionale wieder an Bedeutung. Weshalb in Deutschland im Zusammenhang mit dem Internationalen Tag der Muttersprache, der heute ist, meistens über deutsche Dialekte gesprochen wird, die es auch ganz schön schwer haben. Den Schriftsteller Burkhard Spinnen habe ich vor der Sendung gefragt, was ihm die in Sprache aufgehobene Erinnerung bedeutet?

    Burkhard Spinnen: Also, ich bin, was diese antiquarischen Eigenschaften der Sprache angeht, sehr empfänglich einerseits und andererseits auch ein bisschen skeptisch. Natürlich ist die Sprache der Aufbewahrungsort für Traditionen, Erinnerungen, auch für sehr komplexe Bedeutungszusammenhänge. Aber 99,9 Prozent der Funktionen von Sprache im Alltag sind kommunikativ. Und unsere Probleme sind weniger die der Erinnerung und der Überlieferung als die der momentanen, der akuten Kommunikation. Die Dissonanzen, die sich dadurch ergeben, dass zum Beispiel bei Störungen in der Integration von Ausländern und so weiter sich das immer gleich als Sprachstörung niederschlägt, die sind für mich wesentlich wichtiger als das, was die UNESCO jetzt so bedauert.

    Fischer: Das heißt, Sie würden auf jeden Fall der Lebendigkeit der Sprache den Vorrang geben vor dem immer wieder beklagten Kulturverlust durch abgelegene Dialekte?

    Spinnen: Ich will Sie und die Hörer jetzt mal mit einem vielleicht etwas gewagten Bild strapazieren: Schauen Sie, so, wie die Sprachen hinwegsterben, sterben auch Schmetterlinge und andere größere Tiere hinweg. Das wird von den entsprechenden Organisationen ja auch zu Recht sehr bedauert. Aber all diese Tiere, die in der Regel dem Menschen und seinen Verrichtungen weichen müssen, waren einmal ein Teil der Schöpfung. So sagen es eigentlich alle Religionen. Viele Religionen aber, unsere ganz zumal rangiert die vielen Sprachen nicht unter die Schöpfung ein, sondern eigentlich unter das Gegenteil. Die babylonische Sprachverwirrung ist ein Fluch gewesen. Dass der einen den anderen nicht oder schlecht versteht, wird seit Jahrzehntausenden in der Überlieferung der Menschheit weiß Gott nicht nur als schöne Artenvielfalt empfunden, sondern vor allem als Problem. Ich war unlängst in Bosnien, habe dort erlebt, wie eine Sprache wieder auseinanderdifferenziert wird, damit man sich unterscheiden kann in diesen neu gegründeten Staaten. Das sind eigentlich furchtbare Tendenzen. Und wenn die Sprachen wegsterben, man mir auf der anderen Seite aber versichern kann, dass jeder, der eine dieser Sprachen jetzt nicht mehr spricht, dafür eine andere spricht, mit der er sich mit seinen Nachbarn besser verständigen kann, dann bin ich, ehrlich gesagt, ein bisschen getröstet.

    Fischer: Burkhard Spinnen, ein Gegenbeispiel dazu wäre vielleicht Indien, wo 122 Sprachen gesprochen werden und darüber hinaus noch eine ganze Anzahl von Unterdialekten der Hindi-Sprache existieren, weshalb das Land bis heute keine einheitliche Nationalsprache hat. Das bedeutet ja aber auch, das Nebeneinander - siehe auch die Schweiz - ist selbst in größeren Ländern kein Hindernis für solche gelingende Verständigung.

    Spinnen: Nun, wenn Sie moderne Kommunikationsstrukturen entwickeln - und die Schweiz ist in vieler Beziehung ein sehr modernes Land, auch Indien hat zumindest, was eine gewisse Oberschicht angeht, sich sehr stark globalisiert -, dann sind diese Probleme vielleicht in den Griff zu bekommen. Aber die gesamte Geschichte des nordafrikanischen Kontinents und Afrikas, große Teile des Schreckens dieser Geschichte gehen darauf zurück, dass es keine Sprache auf diesem Kontinent geschafft hat sich durchzusetzen, zu größeren Strukturen zu finden. Und ich sage Ihnen noch mal: Menschen, die Sie nicht verstehen können, deren Freund werden Sie nicht.

    Fischer: Der Schriftsteller Burkhard Spinnen zum Internationalen Tag der Muttersprache.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.