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Menschen im Zug

Die Autorin Theresia Walser schätzt den sorgsamen Umgang mit ihren Texten und der Regisseurin Shririn Khodadadian sagt man nach, sie gehöre nicht zu den Stückzertrümmerern auf der Bühne. Zum dritten Mal hat sie nun ein Stück Walsers in Szene gesetzt: die Uraufführung von "Morgen in Katar" am Theater Kassel.

Von Hartmut Krug |
    Die Fahrt im ICE von Berlin nach Kassel war wie eine dramatische Beweisführung, dass Theresia Walsers Stück über Menschen im Zug zwar kein realistisches, aber doch ein von Realität erzählendes Stück ist. Denn ein junges Paar an meinem Tisch las sich antike Mythen vor, und am Nebentisch entspannen sich nach dem Fund eines Geldscheines intensive Diskussionen über Moral, Wahrheit und Wirklichkeit. Fast wie in Theresias Walsers Auftragsstück für das Staatstheater Kassel.

    In "Morgen in Katar" sind Menschen in einem Zugwaggon eingesperrt, weil der Zug nach einem Unfall mit "Personenschaden" anhalten musste. "Stille" lautet die häufigste Regieanweisung für die Wartesituation, aber die Menschen reden unentwegt. Nicht, weil sie wirklich etwas zu sagen haben, sondern weil sie nichts wissen, aber alles wissen wollen. Von sich, nicht vom anderen. Weshalb sie eher voreinander als miteinander reden. "Am Ende spricht man ja eh immer mit sich selbst, ob man zu zweit ist oder nicht", heißt es da.

    In Theresia Walsers neuem Stück ist ein rundes, buntes Dutzend von Reisenden unentwegt in bewegt stockender Redeflucht: darunter ein Geschäftsmann mit Head-Set, der alle an seinen Telefonaten teilnehmen lässt. Ein Araber mit Kopfhörern, der ganz bei sich bleibt und das spießige Ehepaar Edith und Arnold (beide Mitte 50).

    Wahrnehmungsschwäche ist ein grundsätzliches Problem dieser Menschen, was Edith mit ihren und des Stückes ersten Worten auf den Punkt bringt: "Wenn man nicht wüsst, dass es die Rückfahrt ist, könnte man meinen, es sei die Hinfahrt." Stets wird nach den richtigen Wörtern gesucht. Die Menschen, die Wirklichkeit, ihre Wahrnehmungen und ihre Worte, sie finden bei Theresia Walser nicht zusammen.

    Die Regisseurin Shirin Khodadadian arbeitet die immanente Komik vieler Szenen so leicht wie bühnenwirksam heraus, ohne allzu sehr auf Wirkung zu setzen. Im besten Fall haftet an den Figuren ein Rest von Mehrdeutigkeit. Denn die Figuren und das Stück haben keine Botschaft, sind nicht Protagonisten eines sozialen Erklärstücks, sondern vollführen für und vor uns Suchbewegungen. Zwar öffnen sich die Reisenden, nach dem Genuss von Alkoholika aus dem Minibarwagen, doch einander immer mehr. Doch ihre Masken fallen nicht völlig, und die Konflikte spitzen sich nicht allzu sehr zu.

    Walsers Stück verbleibt in seiner Mittellage einer etwas braven, kritisch am ziehenden Existenzschmerz seiner Figuren kratzenden Wohlfühldramatik. Wobei die Autorin die Probleme ihrer Figuren nicht für uns löst, sondern sie nur ausbreitet. Dabei verdichtet sie weder das Geschehen noch spitzt sie die Rede-Handlung zu. Weshalb die rund zweistündige, durchaus unterhaltsame pausenlose Inszenierung auch immer mal wieder durchhängt.

    Die Bühnenbildnerin Ulrike Obermüller hat eine schmale, nach vorn geneigte Spielfläche in die Mitte der leeren Bühne gehängt. Auf ihr wird Theater gespielt, erklärt uns die Regisseurin und lässt den Darsteller des Schaffners zu Beginn den Raum einrichten: Er schleppt Koffer herbei, rollt den Teppich im Mittelgang aus, holt sich seine Schaffnermütze aus einem Koffer und holt die anderen Schauspieler auf die Bühne.

    Gespielt wird im Zwischenraum zwischen Realität, Vorspiel und tieferer Bedeutung. (Weshalb auch die Reisetasche, die vielleicht dem Araber gehört, vielleicht eine Bombe enthalten könnte, eigentlich nur eine Stolperfalle im Gang ist, aber keine dramatische Sprengkraft besitzt.) Wenn die Reisenden am Schluß diesen Raum verlassen, verlieren sie sich um ihn herum in und als Traumfiguren: spielend wie Kinder auf imaginären Gleisen, die sich in einer undeutlichen Zukunft verlieren, für die Walsers Figuren stets Ort und Ordnung gesucht haben.

    Wie dies, von einem so disziplinierten wie animierten Ensemble mit lockerem Witz gespielt, von Regisseurin Shirin Khodadadian in Kassel mit wohltemperierter Genauigkeit inszeniert, zur Bühnenwirksamkeit gebracht wurde, das bescherte Theresia Walsers solidem, wenn auch nicht vollständig überzeugendem Stück große Publikumszustimmung.