Reimer Gronemeyer ist Jahrgang 1939. Er ist Professor für Soziologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit den Fragen des Alterns in der Gesellschaft. Reimer Gronemeyer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten besonders mit der Palliativmedizin, mit Demenz und der Hospizbewegung beschäftigt.
"Die Alten wegzuschließen - das war ein großer Fehler"
Andreas Main: Herr Gronemeyer, was ist in der aktuellen Pandemie richtiggemacht worden?
Reimer Gronemeyer: Es ist richtiggemacht worden, dass wir unsere Ohren und unsere Sinne aufspannen und die Gefährdung des Anderen versuchen zu vermeiden. Dafür sind viele Maßnahmen richtig und notwendig gewesen.
Main: Was ist falsch gemacht worden?
Gronemeyer: Die Abschottung insbesondere der Menschen in Pflegeheimen, in Hospizen, auch in Krankenhäusern. Das ist ein Akt gewesen, gut gemeint, aber mit fatalen Folgen für die Menschen, die in diesen Einrichtungen leben, weil sie ohne den sozialen Kontakt mit ihren Angehörigen, mit Menschen überhaupt nicht überleben können.
Ich bin kein Prophet, und ich bin selber gewissermaßen blind gegenüber vielem. Ich mache auch keine Schuldvorwürfe. Das steht mir nicht zu. Aber wir wissen inzwischen, dass viele Menschen - gerade solche mit Demenz - kaputtgegangen sind, daran, dass ihre Töchter oder Söhne sie nicht besuchen konnten.
Ich weiß von einer Geschichte, wo eine Frau ihre Mutter am Fenster sehen konnte. Sie selber stand hinter einem Absperrgitter, weil alles andere verboten war. Und die Mutter hat dann zu ihr gesagt: ‚Ich will mit dir nicht mehr reden. Ich will nur wissen, warum du im Gefängnis bist.‘
Eine andere Frau, die erzählt hat, dass ihre Mutter im Rollstuhl gesessen hat und der Besuch, der tägliche Besuch so wichtig war, weil sie mit ihr rausfahren konnte, weil die Frau selber ihren Rollstuhl gar nicht mehr bewegen konnte, das Pflegepersonal nicht die Zeit hatte, um das zu tun, und die in dieser Zeit der Isolation völlig verfallen ist.
Also, was wir nicht von Anfang an gesehen haben. Und ich sage wirklich Wir, ich sage Wir, weil wir nicht gesehen haben, dass der soziale Tod oder die soziale Isolation mit Krankheitsfolge mindestens ebenso dramatisch ist wie die Angst vor dem Virus, die dazu geführt hat, dass man die Alten weggeschlossen hat. Das war ein großer Fehler.
"Die Maske erschwert das Verständnis"
Main: Viele mittelalte Menschen wundern sich, dass nicht nur Junge recht achtlos sind im Umgang mit Masken, mit Abstand et cetera, sondern auch viele Ältere. Können Sie uns erklären, warum gerade die Verletzlichsten, teils entspannt, andere gelassen und manche unvorsichtig sind?
Gronemeyer: Nun ja, ich meine, dieser Augenblick, wo das Gesicht des anderen hinter einer Maske verschwindet, ist ein schmerzlicher Augenblick. Ich in meinem Alter - ich höre nicht mehr so gut. Die Maske ist für mich ein elementares Instrument, auch um das Verständnis, das Verstehen des Anderen zu erschweren. Also, dann sagen sich vielleicht manche alten Menschen, dann riskiere ich das lieber, bevor ich überhaupt nicht mehr sehe, wer mit mir spricht, und ich das nicht mehr hören kann, was der sagt. Das ist doch nachvollziehbar.
Und ich denke, dass man dahin hören muss. Das ist ja ein vielleicht auch so, dass mancher 85-Jährige sagt: ‚Mir ist jetzt das Antlitz meines Enkels wichtiger als die Frage nach meiner Gesundheit.‘ Das muss man ja vielleicht als eine Möglichkeit auch begreifen können. Ob man es billigt, ist eine andere Frage.
"Tiefe Verstörung bei Dementen"
Main: In puncto Demenz: Manch eine Hörerin, manch ein Hörer wird es vielleicht selbst erlebt haben, dass Eltern nicht verstehen, warum plötzlich keine Familienfeiern mehr stattfinden. Die erklären es dann womöglich immer wieder, warum nur zwei Menschen ins Altenheimzimmer kommen dürfen. Und trotzdem verstehen die alten Menschen - gerade die Dementen - es nicht. Können sie uns beschreiben, was in diesen alten Menschen vorgeht, die eben nicht mehr ganz klar sind, wenn ich das so formulieren darf, und die dann diese exzeptionelle Corona-Situation erleben?
Gronemeyer: Ja, ich stelle mir diese 85-jährige Frau vor, die mit viel Mühe sich noch an ihre Tochter erinnert. Das ist ja dann auch etwas, was noch verschwinden kann. Plötzlich kommt die nicht mehr - oder mit einem Mal steht die mit Maske vor ihr. Dass das eine tiefe Verstörung und auch einen Verfall der Person auslöst oder auslösen kann, das ist ja wohl außer Frage.
Main: Was empfehlen Sie Angehörigen?
Gronemeyer: Also, es gibt keine Patentrezepte. Aber es gibt inzwischen, glaube ich, bei Pflegeheimleitungen und bei Hospizen eine Wahrnehmung, dass dieser Imperativ, um jeden Fall und um jeden Preis die Begegnung zu vermeiden, der falsche Weg war.
Es gibt Möglichkeiten, darüber nachzudenken: Was ist jetzt wichtiger, hier die sterbende Frau vor einer Ansteckung mit Corona zu bewahren oder ihre Tochter reinzulassen, damit sie an ihrem Bett das Verlöschen des Lebens begleiten kann? Das sind Abwägungen. Aber das ist am Anfang falsch gemacht worden.
"Die Frage nach Sterblichkeit und Tod wird ausgesperrt"
Main: Alter, Sterben - welche philosophisch-theologischen Grundannahmen würden uns jetzt mit Blick auf die Zukunft helfen, damit wir als Gesellschaft solidarisch mit den Alten durch die Krise kommen?
Gronemeyer: Also ich glaube, wir müssen über Sterblichkeit und Tod nachdenken. Diese Risikogesellschaft, in der wir uns befinden, hat alles darauf konzentriert, sozusagen die Übertragung auszusperren. Was ich nicht kritisiere, was aber gleichzeitig die Frage, was ist wichtig und was bedeutet Sterblichkeit, ausgesperrt hat, genauso, wie sie die Angehörigen ausgesperrt hat.
Das ist etwas, worüber wir gemeinsam nachdenken müssen jenseits der Maßnahmen der Distanzierung, der sozialen Distanzierung und der Maske. Was ist der höchste Wert? Ich finde, darüber muss gesprochen werden.
"Was ist wirklich wichtig?"
Main: Und wie sollten sich alte Menschen einstimmen auf das, was noch kommen wird? Denn ich zum Beispiel kann womöglich in ein oder zwei oder in fünf Jahren Reisen, die jetzt verschoben worden sind, dann vielleicht machen. Diese Unterbrechung, die wir jetzt erleben, das kann für ein 87-Jährigen bedeuten, dass er nie wieder reisen wird, dass die Chance vorbei ist. Wie verkraften ältere Menschen das?
Gronemeyer: Das weiß ich natürlich nicht. Ich weiß, dass ich es selber sehr schlecht verkrafte.
Main: Was hilft Ihnen dann?
Gronemeyer: Es hilft natürlich einerseits die Hoffnung, dass es vielleicht dann doch im nächsten Jahr wieder anders wird. Was wahrscheinlich eine Illusion ist. Und dann hilft vielleicht der Satz: 'Herr, lehre mich bedenken, dass man Leben ein Ende haben wird.' Also es ist ja auch die Möglichkeit, sich noch mal zu fragen, was ist wirklich wichtig? Ist die Reise nach Mallorca wirklich wichtig? Oder ist es wichtig, dass ich mich mit meinen Freunden, meinen Angehörigen zusammensetzen kann und mir die Frage stellen kann: Was ist wichtig noch für die Zeit, die für mich bleibt?
Corona ist eben auch verbunden, mit dem Zwang, möchte ich fast sagen, sich der Frage zu stellen: Was ist wichtig? Und die Frage, ob noch mal eine Reise zum Grand Canyon wichtig ist, um den zu bewundern - oder ob es wichtig ist, noch mal ein Gedicht oder einen Morgen mit Sonnenaufgang zu erfahren? Diese Frage muss sich jeder stellen.
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