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Menschenfreundlichkeit und Selbstheilung

Das Theatertreffen in Berlin versammelt in diesem Jahr mehr junge, mehr weibliche und mehr Regisseure aus dem Osten. Eröffnet wurde das Treffen am vergangenen Freitag mit Karin Beiers Inszenierung der Trilogie "Das Werk/Ein Bus/Ein Sturz" von Elfriede Jelinek.

Von Karin Fischer | 12.05.2011
    König Lear kommt mit hundert Mann an, der eigene Vater immerhin noch mit zwanzig Bücherregalen. König Lear glaubt, er könnte Vermögen gegen Liebe tauschen. Der ehemalige Physiker-Vater will das Vererben versachlichen und optimieren und stellt dafür eine Exponentialgleichung auf. Die Performance-Truppe She She Pop hat tatsächlich Shakespeare auf die Vater-Tochter-Problematik hin analysiert und die eigenen Väter auf die Bühne gestellt. Die hundert Mann sind "ein Mantel aus Würde", sagen die Väter. Die Töchter listen Zumutungen auf, püriertes Essen oder Wannenlifter. Die grandiose Auseinandersetzung von She She Pop mit der ganz aktuellen Frage "Erben" gegen "Pflege" ist viel mehr als Theater. Sie ist fast eine Therapiestunde. Sie arbeitet, ähnlich wie in den Stücken von Rimini Protokoll, auf mehreren Ebenen, führt Verletzungen vor, führt auch noch einen Meta-Diskurs übers Theater und fragt am Ende vor allem: Wo bleibt die Freundlichkeit?

    "Menschenfreundlichkeit" könnte die Überschrift über diesem Theatertreffen auch lauten. Die Bühne reißt keine Gräben mehr auf, sondern versucht, sie zu überwinden. Viele Stücke beginnen einen Analyse-, vielleicht sogar einen Heilungsprozess. Elfriede Jelineks, "Ein Sturz" über die Kölner Archivkatastrophe gehört dazu, ebenso die Produktion des Ballhaus Naunynstraße "Verrücktes Blut", in dem eine Lehrerin ihren Schülern mit Migrationshintergrund Schiller mit der Knarre beibringt. Das Stück enthält Klischees en masse, zu viel Hysterie und zu viele Gutmenschensätze, aber am Ende haben alle etwas gelernt. Auch von der letzten Produktion von Christoph Schlingensief, nämlich von Afrika. In all diesen Stücken wird der Zuschauer weder schockiert noch eingelullt. Er spürt, dass all das ihn etwas angeht. Manchmal wird er hart angefasst, häufig ist er einfach bewegt.

    Dieses Theater ist nicht unbedingt "bemerkenswerter" als eine gut gedachte, gut gemachte Inszenierung, die ihre Figuren auf der Höhe der Zeit psychologisch auspinselt. Die Theaterteffen-Jury hat aber den derzeit wichtigsten Bühnentrend punktgenau erwischt. Es ist der Sinn für neue politische Realitäten: Off-Theatergruppen und postmigrantisches Theater liefern die intelligenteren Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit. Und fünf von zehn Inszenierungen sind großartige Übersetzungen des Politischen in den Theaterraum, vom Fall Kampusch über den Kölner Archiveinsturz bis zum Unterricht in Problemvierteln oder zum Kulturaustausch zwischen zwei Kontinenten.

    Dem widerspricht nicht, dass die sogenannte Provinz ausgerechnet mit einer Hauptstadtpflanze, Herbert Fritsch zum Theatertreffen reist. Der zählte an Frank Castorfs Volksbühne zu den Bühnen-Berserkern und hat zusammen mit Milan Peschel jede Vorstellung gründlich aufgemischt. Jetzt ist er 60 und erfüllt sich den Wunsch, mit seinen Schauspielern Spaß zu haben, herauszufinden aus der Authentizitätsfalle wie aus den Schrecknissen der Dekonstruktion. Seine Inszenierungen sind verwegen bunt, die Figuren schon von der Kostümseite her zugespitzt bis zur Karikatur. In seiner "Nora" lässt er ein kindliches Püppchen zwischen bleichen Untoten agieren, Ibsen als Horror-Kabinett. Hauptmanns "Biberpelz" ist eine Mischung aus Comicstrip und Volkstheater, laut, rasant, überzeichnet, null Naturalismus. Die Jury hat hier eine interessante neue Farbe entdeckt, von der noch nicht sicher ist, ob sie nicht schnell abblättert. Doch auch Fritsch passt ins diesjährige Theatertreffen-Bild. Der ehemalige geschundene Schauspieler heilt auf der Bühne nicht die Welt, sondern sich selbst:

    "Ich war eigentlich nie gerne Schauspieler. Das war alles doch sehr grausam, sehr hart, bis zur Verzweiflung, dass man aus den Proben kommt und sich vors Auto werfen will. Und das versuche ich, den Schauspielern jetzt zu nehmen: Bitte macht das anders, bitte seid stolz auf euch, bitte lasst uns das anders machen."