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Menschenkörper für das Wohnzimmer

Der Provokateur und Profiteur Gunther von Hagens stellt seine Plastinate nicht mehr nur aus: Er bietet in seinem Webshop Einzelteile, das heißt Körperteile zum Verkauf an. Die Plastinate können nun ins Wohnzimmer gehängt werden.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 24.10.2010
    Die Wirklichkeit hat unsere Prognosen mal wieder überholt: Als Gunther von Hagens große Leichenschau namens "Körperwelten" so museumsdidaktisch daherkam, war die Empfehlung, solche Teile auch im Museumsshop zu verkaufen, als parodistische Zuspitzung gemeint. 15 Jahre lang ging das "Körperwelten"-Getöse rund um die Welt, und fast immer funktionierte es nach demselben Erregungsmuster: Kirchenvertreter und Jugendschützer formulierten moralische Bedenken, Journalisten ekelten sich wortreich vor den Exponaten, aber die Besucher kamen in Strömen und machten von Hagens die Kasse voll.

    Natürlich ist der Mann eine prekäre Mischung aus Provokateur und Profiteur. Proteste sind sein Elixier; wo immer die Empörung herkommt, er surft auf ihr. Seine Grusel-GmbH in Guben lebt von dem Schauder, den jeder Mensch in jeder Kultur angesichts von Toten spürt. Und jetzt, so scheint es, macht von Hagens die Toten zum Teil der Trash-Kultur. Er bietet in seinem Webshop Einzelteile, das heißt Körperteile zum Verkauf an: zum Beispiel einen Arm samt Hand ab 5355 Euro inklusive Arterien und Nerven, zuzüglich Versandkosten. Oder einen Kopf für etwas über 22.000 Euro.

    Diese Objekte heißen Plastinate. Sie entstehen durch eine Art moderner Mumifizierung, sie sind - wie es in der Anpreisung heißt, "von elastischer, gummiartiger Konsistenz, dazu farbig und geruchlos", aber in ihnen steckt die Materie einer Leiche. Das macht die Sache ja so skandalös und kitzelig. Aber worin genau besteht der Kitzel, was genau macht den Skandal aus? Es ist schon fast ein Verdienst dieses abgründigen Handelsangebots, dass jeder die Gelegenheit bekommt, über die primären Primitivreaktionen der Presse hinauszudenken, um auf diese Fragen Antworten zu suchen.

    Goethe hatte keine Hemmungen, sich den Schädel seines viel früher gestorbenen Freundes Schiller auf den Schreibtisch stellen. Er schrieb sogar ein Gedicht darüber mit dem Titel: "Bei Betrachtung von Schillers Schädel". Nachdem Friedrich Dürrenmatt gestorben war und eingeäschert wurde, verschwand die Urne mit seinen pulverigen Überresten, und es gibt Vermutungen, dass seine Witwe sie im Schrank verwahrt.

    Es ist also nicht die Sache selbst, die den Tabubruch markiert, sondern eher ihre anonyme Käuflichkeit. Allerdings werden zu wissenschaftlichen Zwecken schon seit eh und je Skelette und Körperpräparate kommerziell vermarktet. Auch da greift die vorschnelle Verdammung zu kurz. Was also ist es, womit von Hagens etwas in unserem ethischen Empfindungshaushalt durcheinanderbringt? Es ist wohl vor allem die frohgemute Öffentlichkeit seines Handelns, das Schaubudenhafte, das Kirmesmäßige eines Mannes, der um des Spektakels willen eine Obduktion zu mitternächtlicher Stunde live im englischen Fernsehen übertragen ließ.

    Er führt uns mit seinen Plastinaten plastisch vor, was das Hauptproblem unserer Zeit ist: Wir wissen nicht, wann das Leben anfängt (siehe Embryonenforschung) und wann es aufhört (siehe Sterbehilfe), und jetzt können wir nicht einmal zwischen echtem und künstlichem Fleisch, Knochen und Gewebe unterscheiden. Dafür können wir, apropos Kirmes, unserer Liebsten statt eines Lebkuchenherzes eines aus Guben schenken - kostet allerdings 4165 Euro, inklusive 19 Prozent Mehrwertsteuer.