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"Menschenrechte gibt es nicht mehr"

In Lateinamerika wird zunehmend über die Rolle der Staatsgewalt bei der Bekämpfung der Gewalt gesprochen, weil die Polizei immer öfter für die Eskalation verantwortlich gemacht wird. In Brasilien herrscht außerdem ein kaum noch zu durchdringender Filz von Politik, Polizei, Drogenmafia und Alltagskriminalität. Peter B. Schumann mit den Einzelheiten.

    "An der siebenstündigen Razzia im "Complexo do Alemão" in Rio haben heute Kriminalpolizisten, Militärpolizei und Sondereinheiten der Nationalen Sicherheitskräfte teilgenommen. Sie hinterließen 13 Tote und 10 Verletzte und stellten eine Fülle von Waffen und anderes Material sicher." So berichtet der Reporter einer lokalen Radiostation. "Insgesamt 1.300 Mann haben sich daran beteiligt und sich mit den Kriminellen von früh bis spät heftige Schießereien geliefert. Die Sondereinheiten bleiben noch auf ihren Posten, während die Polizeikräfte die Zone verlassen haben."

    Es ist der Höhepunkt der bisher größten Operation gegen das organisierte Verbrechen in einer Favela im Norden von Rio de Janeiro. Sie dauerte 54 Tage. Ursprünglich sollten nur die Mörder von zwei Polizisten "gejagt" werden, aber dann eskalierte die Aktion. Die Bilanz ist erschreckend: 24 Tote und 76 Verletzte, darunter 19 Kinder. Die cidade maravilhosa, die "wunderbare Stadt", hat sich in eine Hochburg der Gewalt in Brasilien verwandelt. Und daran hat nicht nur die Drogenmafia Schuld.

    "Die brasilianische Polizei soll in den Favelas theoretisch das Verbrechen bekämpfen" - so der Menschenrechtler Mauricio Campos. "Aber dabei führt sie richtige Schlachten durch, und es ist ihr egal, wie viele unschuldige Bewohner von ihren Schüssen getroffen werden. Sie betrachtet das als unvermeidliche Folge eines Kriegszustands."

    Im Jahr 2003 hat dieser Krieg der Polizei - nach offiziellen Zahlen - 1.200 Opfer gefordert, allein in Rio de Janeiro. Die wenigsten von ihnen waren Kriminelle.

    "In den ersten drei Monaten dieses Jahres, als der neue Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro sein Amt antrat, waren es bereits offiziell 700 Tote, die auf das Konto der Polizei gehen, ganz abgesehen von denen, die in keiner Statistik auftauchen" - erklärt die Sozialarbeiterin Marcia Honorato. "Wir leben in einem Großstadt-Krieg. Dafür rüstet die Regierung ständig auf. Sie hat gerade neue Tanks, sogenannte große Totenschädel, gekauft, gepanzerte Fahrzeuge, aus denen sie wild in der Gegend herumschießen kann - wie in einem Großstadt-Krieg."

    Marcia Honorato wohnt nicht in einer Favela, sondern in einem der ärmeren Viertel der Baixada Fluminense, einem riesigen Gürtel von Stadtbezirken, in denen die Mittelschicht wohnt. Die Gewalt macht vor keinem Viertel mehr Halt.
    "In der Favela tötet die Polizei in Uniform, in der Baixada als zivile Todesschwadron. Am 31. März 2005 haben sie 29 unbeteiligte Menschen auf offener Straße einfach abgeknallt. Es soll wohl Streit innerhalb ihrer Polizeieinheit gegeben haben. Und einen neuen Befehlshaber, der hart durchgreifen wollte und den sie mit diesem Massaker einschüchtern wollten."

    Ihre wirklichen Motive wurden nie geklärt. Von den fünf beteiligten Polizisten wurde einer zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Die anderen warten noch immer auf ihren Richter - seit mehr als zwei Jahren. Deshalb meint Mauricio Campus:

    "Der Staat ist tief in die Gewalt verstrickt. An den meisten Todesschwadronen sind Mitarbeiter staatlicher Organe beteiligt: Polizisten, Feuerwehrleute, Funktionäre und ehemalige Polizisten, die aus irgendeinem Grund entlassen wurden und noch immer gute Beziehungen zu ihren früheren Kollegen pflegen. Es gibt aber auch Bürgermeister einzelner Bezirke der Baixada Fluminense, die mit den Todesschwadronen in Verbindung stehen, was alle wissen."
    Wenn sich eine Sozialarbeiterin wie Marcia Honorato gefährdeter Jugendlicher annimmt und Morde an ihnen öffentlich bekannt macht, dann gerät sie selbst ins Fadenkreuz dieser Todeskommandos.

    "Die Situation ist äußerst kritisch. Mich haben sie mehrfach mit dem Tod bedroht, mich verfolgt, auf mich geschossen, mich wirklich zu töten versucht. Ich glaube, um mich hat sich eine eigene Todesschwadron gekümmert, so dass ich aus meinem Viertel wegziehen musste. Das ist wirklich eine Schande. Es gibt keine Menschenrechte mehr in Brasilien."

    Sie sind zumindest für die ärmeren Schichten der Bevölkerung eingeschränkt - wie Mauricio Campos meint.

    "Die Gewalt ist heute für die Armen ein vorherrschendes Problem. Früher mussten sie um einen Arbeitsplatz und für eine Unterkunft kämpfen. Das müssen wie auch weiterhin. Aber heute kämpfen sie auch darum, am Leben zu bleiben, in den Armenvierteln von Rio."

    Am 8. April dieses Jahres tauchten vor der Wohnungstür von Marcia Honorato zwei Männer auf. Der eine packte sie am Hals, strich ihr mit einem Revolver übers Gesicht und sagte: "Möchtest du sterben?" Dann schoss er in die Luft. Als sie diese letzte Attacke auf dem nächsten Polizeirevier anzeigen wollte, war niemand daran interessiert.

    " Brasilien ist ein gutes Land mit vielen Möglichkeiten, abgesehen von Polizei und Justiz. Denn Gerechtigkeit gibt es hier nur für Leute mit Geld Staatsanwälte werden gekauft. Abgeordnete lassen Todeskommandos für sich arbeiten. Für viele der städtischen Angestellten in den drei armen Bezirken der Baixada gilt das gleiche. "

    Und die Gewalt geht weiter, auf allen Seiten. Vor zwei Wochen mussten zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens mehrere Flüge von São Paulo nach Rio de Janeiro wegen einer Schießerei in einer Favela gestrichen werden. Nun sah sich Staatspräsident Lula da Silva doch zum Handeln gezwungen:

    "Manche Leute glauben, man könnte Banditen dadurch bekämpfen, dass man ihnen Blumen hinstreut" - so der Präsident. "Wir müssen uns ihnen im Bewusstsein stellen, dass sie manchmal bessere Waffen besitzen als die Polizei und dass die Mehrheit des Volkes in den Favelas arbeitsame und rechtschaffene Leute sind, die nicht einer Minderheit ausgeliefert werden dürfen."
    Umgerechnet 1,3 Milliarden Euro lässt sich der Staatspräsident die seit Jahren überfällige Sanierung der schlimmsten Favelas von Rio de Janeiro kosten. So viel, wie für die Panamerikanischen Spiele aufgewendet werden. Für diese Summe sollen endlich Straßen angelegt, ein Kanalisationssystem geschaffen, Schulen und Krankenhäuser gebaut werden. Auch die Kultur soll nicht zu kurz kommen für die Million von Menschen, die hier hausen muss. Seit Jahrzehnten ist dies der erste nennenswerte Schritt, dem ausgegrenzten Teil der Bevölkerung zu helfen und Rio wieder in die "wunderbare Stadt" zu verwandeln, die sie einmal war.