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Menschenspuren im Südseestrand

Die abgelegenen Südseeinseln wie beispielsweise Tonga, Samoa, Hawaii oder die Osterinseln wurden erst sehr spät von Menschen besiedelt. Wie diese Wanderungsbewegung sich aber genau entwickelt hat, darüber wusste man bisher sehr wenig. Doch nun fördern zwei Studien neue Erkenntnisse zutage. Die eine Studie stammt von Genforschern, die andere von Sprachwissenschaftlern - und beide entwickeln ein ähnliches Szenario.

Von Matthias Hennies |
    Die Inseln der Südsee liegen so verloren in der Weite des pazifischen Ozeans, dass man sich seit langem fragt, wie und wann sie besiedelt wurden. Russell Gray, Professor an der Universität Auckland in Neuseeland, hat jetzt ein detailliertes Szenario entwickelt.

    Gray ist Sprachforscher. Er rekonstruierte die Entwicklung der Sprachen in Austronesien, der Region um Australien und Polynesien, und setzte die Sprachgeschichte in Beziehung zu den Wanderungsbewegungen der Menschen. Als erstes stellten Gray und seine Kollegen das Basisvokabular der austronesischen Sprachen zusammen.

    "Das sind die Worte, die wir am häufigsten benutzen und die in den meisten Kulturen existieren. Begriffe für Körperteile, Zahlen oder Verwandtschaftsverhältnisse etwa. Ein Beispiel: Die Nummer Zwei heißt in einigen Sprachen auf Formosa 'Dúha' oder 'Dúsa' und in polynesischen Sprache heißt es 'Rúha' oder 'Lúha'. Wir haben dann solche Worte zu Päckchen zusammengefasst, die nicht nur in Bedeutung und Form gleich sind, sondern auch im Klang eine so deutliche Verwandtschaft zeigen, dass sie auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen müssen."

    Auf den einsamen Inseln im Südpazifik entwickelte sich eine fast unüberschaubare Vielfalt von Sprachen und Dialekten. Um die gesamte Region abzudecken, suchten die Wissenschaftler in 400 Sprachen ähnliche Begriffe. Ergebnis waren 3000 bis 4000 Begriffspäckchen, die auf ihre Verwandtschaft untereinander untersucht werden mussten.

    "Wir haben dann einen Computer benutzt, denn für 400 Sprachen gibt es mehr mögliche Verwandtschaftsbeziehungen als Atome im Universum."

    Nach welcher Regel wurde der Rechner programmiert? Um die Verwandtschaft verschiedener Sprachen zu bestimmen, untersuchen Linguisten traditionell den Lautwandel: Wenn sich eine neue Sprache abspaltet, wird etwa aus dem Vokal U der Diphtong Au oder der Konsonant S wandelt sich zu einem R.

    Gray ging anders vor: Er stellte fest, in welchen Sprachen ein Basisbegriff vorhanden war und in welchen nicht. Dieses Verfahren bot den Vorteil, dass es sich leicht in ein Computerprogramm umsetzen ließ.

    "Statt die einzelnen Lautveränderungen zu dokumentieren, haben wir die Anwesenheit oder Abwesenheit eines Begriffs festgehalten. Sie können sich einfach eine Matrix von Nullen und Einsen vorstellen: Die Null zeigt, dass ein Wort nicht in der Sprache vorkommt und die Eins, dass es vorhanden ist."

    150 Computer rechneten vier Monate lang, erzählt Gray, danach waren alle 400 austronesischen Sprachen in einem Stammbaum erfasst. Dieser Schritt ist in der Linguistik nichts Neues: Die indoeuropäischen Sprachen zum Beispiel, vom Indischen über das Albanische bis zum Deutschen, sind schon vor langem zu einem solchen Stammbaum zusammengestellt worden.

    Doch Russell Gray ging darüber hinaus: Er bestimmte auch den Zeitpunkt, wann sich einzelne Sprachen vom Ursprungsstamm abspalteten - und diese Verzweigungen gehen darauf zurück, dass Siedler ihr Ursprungsland verließen und anderswo sesshaft wurden.

    "Es ist, wie wenn Sie sich einen großen Baum in Ihrem Hof vorstellen und sich überlegen, wann die dicken Äste, die auf halber Höhe wachsen, vom Stamm abgezweigt sind. Das Gleiche machen wir mit unserem Sprachfamilienbaum. Um die Verzweigungen zu datieren, greifen wir auf Aufzeichnungen alter Sprachen zurück, auf dokumentierte historische Ereignisse oder archäologische Belege."

    Mithilfe solcher verlässlich datierten Referenzpunkte fanden die Forscher heraus, dass sich die ersten austronesischen Sprachen vor rund 5200 Jahren aus dem Formosischen abspalteten, das auf Taiwan gesprochen wird. Zu dieser Zeit stachen dort die ersten Siedler in See.

    Dieses Datum bestätigt eine aktuelle genetische Studie: Ein internationales Team hat das Erbgut von Heliobacter-Bakterien untersucht, Krankheitserreger, die relativ häufig im menschlichen Magen vorkommen. Sie sind so eng mit ihrem Wirt verbunden, dass sie die genetischen Veränderungen der Menschen mitmachen. Das heißt: Wenn eine Bevölkerungsgruppe ihr Herkunftsland verlässt und sich auf einer fernen Insel ansiedelt, spiegelt sich das nicht nur im menschlichen, sondern auch im Erbgut des Bakteriums. So konnten die Genetiker belegen, dass Australien schon vor 30.000 Jahren von Menschen besiedelt worden ist, die aus Asien kamen. Und sie fanden eben heraus, dass eine zweite Besiedlungswelle vor rund 5200 Jahren in Taiwan begann.

    Wie sie sich fortsetzte, ermittelten die Sprachforscher um Russell Gray - und sie können eine verblüffende Menge Details beisteuern. Zum Beispiel dauerte es rund 1000 Jahre, bis die Philippinen besiedelt wurden, weil sie von Taiwan durch eine Meerenge mit starken Strömungen getrennt sind, die die Menschen mit ihren herkömmlichen Booten nicht überwinden konnten.

    "Sobald sie aber das Auslegerkanu entwickelt hatten, waren sie in der Lage, sich mit unglaublicher Geschwindigkeit zu verbreiten. Vor rund 4000 Jahren kamen sie also auf den Philippinen an und dann verbreiteten sie sich innerhalb von 1000 Jahren über eine Entfernung von 7000 Kilometern, die ganze Strecke von den Philippinen bis hinunter nach Polynesien. Und erstaunlicherweise kam es in Polynesien zu einer weiteren Unterbrechung: Es dauerte erneut 1000 Jahre oder mehr, bis sie nach Ost-Polynesien gelangten."

    Ost-Polynesien, das sind die Inseln, die weit draußen im pazifischen Ozean liegen: Hawaii, Neuseeland und die Osterinseln zum Beispiel. Man weiß nicht, ob größere, seetüchtigere Boote fehlten, um die Entfernung zu überwinden, oder ob die Menschen ein neues Sozialverhalten lernen mussten, damit sie mit der Einsamkeit während der endlosen Reise und auf den abgelegenen Inseln umgehen konnten. Vielleicht änderten sich eines Tages aber auch die Windverhältnisse und Strömungen, so dass Menschen schließlich den Fuß auf die letzten unberührten Strände der Südsee setzen konnten: Grob gerechnet etwa 1500 Jahre vor heute.

    Historiker und Archäologen konnten bisher nur eine fragmentarische Geschichte der austronesischen Region schreiben. Die Jahreszahlen, die schon vorliegen, passen genau zu Grays Besiedlungschronologie. Offensichtlich spiegelt die Sprachentwicklung die Wanderungsbewegungen der Menschen und die Entstehung neuer, eigenständiger Bevölkerungsgruppen recht gut. Damit zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass die Historische Sprachforschung auch anderswo Auskunft über geschichtliche Ereignisse geben könnte. Oder kann man diese Methode nur auf abgelegene Regionen anwenden, wo die Sprache nur durch wenige, überschaubare äußere Kontakte beeinflusst wird?

    "Ich habe auch andere Regionen untersucht, in Mittelamerika etwa die Sprachfamilie der Maya und der Azteken. Die Resultate sind vielversprechend. Es ist noch offen, ob man immer so klare Aussagen über relativ junge Bevölkerungsbewegungen bekommt. Aber in allen untersuchten Regionen haben die Sprachstammbäume uns einen tiefen Einblick in die menschlichen Aktivitäten während der letzten rund 8000 Jahren vermittelt."