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Menschlicher Freiheitsdrang

Der Filmregisseur Chris Kraus erhielt für sein Gefängnisdrama "Vier Minuten" letztes Jahr den Deutschen Filmpreis. Mit der Oper hat dieser Chris Kraus normalerweise also nichts am Hut. Doch für die Aufführung von Beethovens einziger Oper "Fidelio" konnte er nun in Baden-Baden unter Beweis stellen, ob er mit Despotie und Freiheitsdrang etwas anzufangen wusste.

Von Kirsten Liese |
    Die Frage ist berechtigt: Was hat Claudio Abbado dazu bewegt, einem musikalisch Unbedarften die Regie anzuvertrauen, der sich im Interview zu seinen "Vier Minuten" beschämend abschätzig über Schumanns Klavierkonzert äußerte und zuvor noch nie ein Opernhaus von innen sah.

    Seine Chance hat Chris Kraus gleichwohl verdient. Denn im Gegensatz zu anderen Opern inszenierenden Quereinsteigern wie etwa Doris Dörrie oder Bernd Eichinger missbraucht er den Fidelio nicht zur puren Selbstdarstellung. Auch drängt sich bei ihm die Regie nie mit hilflosen Aktualisierungsversuchen auf.

    Vielmehr interpretiert er das Drama von dem zu Unrecht gefangenen Florestan und seiner ihn rettenden tapferen Frau allemal plausibel aus seiner Entstehungszeit und vor dem Hintergrund der französischen Revolution.

    Das finster-kalte Staatsgefängnis liegt hier jedoch nicht in Sevilla, sondern in Paris, wo die Gefangenen enthauptet werden. Auf Maurizio Balòs Bühne wird die Schreckensherrschaft in jedem Moment spürbar zwischen Guillotine, dunklen hohen Mauern, Schächten, Kerkerzellen und Falltüren. Nur übertreibt es Kraus bisweilen mit allzu makabren Szenarien, in denen das Fallbeil voller Wucht nach unten saust. Das erinnert an großes Actionkino und wäre verzichtbar gewesen.

    Dagegen bezeugen andere Szenenbilder handwerklich allemal eine Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem Text. Zum berühmten Freiheitschor etwa verlassen die körperlich geschwächten Gefangenen kriechend ihr finsteres Verließ durch eine schmale Ritze. Der eingeschüchterte Kerkermeister buckelt vor dem an Krücken gehenden fiesen Gouverneur, der seine Behinderung durch Härte zu überspielen versucht.

    Seine größte Herausforderung an jeden Regisseur stellt Beethovens utopische Freiheitsoper freilich mit seinem Finale, bei dem sich die zutiefst pessimistische, tiefschwarze Stimmung in Florestans Verließ nahezu bruchlos ins lichte C-Dur der Freiheit aufhellt. In schlechten Inszenierungen, die sich über Partitur und Libretto hinwegsetzen, bleibt Florestan ein Gefangener. Kraus findet eine bessere Lösung. Leonore darf Florestan von den Fesseln befreien, dann aber treiben Soldaten das übrige Volk noch im Jubelgesang zurück in die Kerker und errichten weitere Guillotinen.

    Abbados musikalische Einstudierung mit dem originalklangversierten Mahler Chamber Orchestra ist eine Klasse für sich. Frisch, zupackend, erregt und hitzig tönt es aus dem Graben, vor Energie durchpulst, als stünde ein weitaus jüngerer Dirigent am Pult. Dabei drohen die flotten Tempi nie in Hektik umzuschlagen, und trotz dramatischer Schwere sorgen die Streicher stets für einen wunderbar durchsichtigen, elastischen Klang.
    Nur einmal schimmert auch die Altersweisheit des Dirigenten durch- im magisch-entrückten Quartett "Mir ist so wunderbar".

    Glanzlicht eines sonst eher schwächeren Sängerensembles ist die mit einem lieblichen Timbre gesegnete Julia Kleiter als Marzelline. Anja Kampe als Leonore und Clifton Forbis als Florestan stemmen sich etwas mühevoll durch ihre hohen Register. Das aber verschmerzt eine insgesamt glänzende Premiere, die mit einem wahren Jubelsturm für Claudio Abbado ausklang.