Dienstag, 19. März 2024

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Menschlicher Tastsinn
"Berührungsmangel macht krank"

Jeder dritte Deutsche sehne sich nach mehr Berührung, sagte der Mediziner Bruno Müller-Oerlinghausen im Dlf. Denn diese Urform der Kommunikation sei heute nicht mehr selbstverständlich. Das führe zu Missverständnissen und Unsicherheit. Wir müssten Achtsamkeit bei Berührungen wieder erlernen.

Bruno Müller-Oerlinghausen im Gespräch mit Michael Köhler | 19.04.2019
Kind in der Sonne, die Hand seiner Mutter liegt auf seinem Kopf.
Handauflegen, Schutz, Trost - die Bedeutung einer Berührung hängt immer auch vom sozialen Kontext ab (imago / Antoine Arraou)
Der Mediziner Bruno Müller-Oerlinghausen unterschied die negativen Berührungen, beispielsweise von Eltern die ihre Kinder schlagen und die traumatisierende Erfahrungen darstellen, von den positiven Berührungen: Das In den Arm genommen werden, wenn Kinder traurig sind oder wenn Menschen getröstet werden oder wenn der Priester beim Segen die Hand auflegt. Diese Berührungserfahrungen hinterließen positive Spuren. Jede Berührung, die wir erfahren, sei irgendwo gespeichert. "Wir sprechen von einem Körpergedächtnis", sagte der Mediziner.
Jeder dritte Deutsche sehnt sich nach mehr Berührung
Die Haut sei das faszinierendste, älteste und größte Sinnesorgan, welches die Menschen haben. Sie habe viele Rezeptoren, die verschiedene Arten von Berührung vermitteln können. Der Tastsinn entstehe bereits während der embryonalen Entwicklung und bleibe erhalten bis zum letzten Atemzug.
Berührungsmangel mache krank. Jeder dritte Deutsche sehne sich nach mehr Berührung - das betreffe insbesonders alte Menschen oder die 50 Prozent Singles, die alleine leben.
In der Pflege sei das inzwischen verstanden worden. Die basale Stimulation durch beispielsweise Handauflegen könne bei alten oder verwirrten Pflegepatienten geradezu Wunder bewirken. Auch bei Sterbenden sei Berührung sehr wichtig: Wenn nichts mehr anderes geht, könne man immer noch die Hand des Sterbenden halten.
"Wir brauchen eine Berührungskunde"
Dennoch gebe es zunehmend Schwierigkeiten mit Berührungen - übergriffigen, missverständlichen Berührungen. Dies entstehe daraus, dass Berührung nicht mehr die normale Kommunikationsform darstelle.
Anstelle einer weiteren Technisierung in unseren Schulen durch Computer und Digitalisierung solle es eine "Berührungskunde" geben, forderte der Mediziner. Berührung zu geben und zu empfangen müsse gelernt werden: "Wir müssen Achtsamkeit lernen. Wenn ich jemand anfasse, muss ich überlegen, wie das auf denjenigen wirkt." Die Bedeutung einer Berührung hänge immer auch vom Kontext ab.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.