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Menschlichster aller Schriftsteller

Heute vor 100 Jahren ist Anton Pawlowitsch Tschechow 44jährig im Schwarzwälder Kurort Badenweiler gestorben. Im Bewusstsein des deutschen Lese- und Theaterpublikums jedoch ist dieser große russische Schriftsteller so lebendig und präsent wie nie zuvor. Seine tragikomischen Stücke, mit denen er das Theater der Moderne begründete, haben unsere Bühnen erobert, und seine Erzählungen lesen wir, als handelten sie von uns heute und unseren brennendsten Lebensfragen.

Von Carla Hielscher |
    Und auch die Persönlichkeit Tschechows, dieses "menschlichsten aller Schriftsteller", wie ihn der amerikanische Romancier Richard Ford genannt hat, erregt zunehmend Neugier und Sympathie und ist für viele seiner Leser zu einer Leitfigur geworden.

    Im Jahr seines hundertsten Todestages sind nicht nur Tschechows Werke in zahlreichen Ausgaben und alten und neuen Übersetzungen auf den Markt gekommen, sondern auch einige neue Bücher zu seiner Biographie.

    Schreiben Sie doch mal eine Erzählung darüber, wie ein junger Mensch, Sohn eines Leibeigenen, seinerzeit Ladenschwengel, Kirchensänger, Gymnasiast und Student, erzogen zur Ehrfurcht vor Ranghöheren, zum Küssen von Popenhänden, zur Verbeugung vor fremden Gedanken, zur Dankbarkeit für jedes Stückchen Brot, oft verprügelt, ohne Galoschen zum Unterricht gegangen, der sich geprügelt hat, Tiere gequält hat, gern bei reichen Verwandten gegessen hat, ohne Notwendigkeit geheuchelt hat vor Gott und den Menschen, nur aus dem Bewußtsein seiner Minderwertigkeit - schreiben Sie, wie dieser junge Mensch tropfenweise den Sklaven aus sich herauspreßt und wie er eines schönen Morgens aufwacht und spürt, in seinen Adern fließt kein Sklavenblut mehr, sondern echtes, menschliches ...

    So hat Tschechow selbst in einem berühmten Brief an den Freund Suworin seine Biographie als literarisches Sujet zusammengefasst. Sein Lebensweg zeigt die Entwicklung eines Nachkommen von Leibeigenen aus bedrückenden Verhältnissen zu einem unabhängigen Geist. Mit seiner absoluten inneren Freiheit, seiner melancholischen Skepsis und seinem von persönlicher Verantwortung getragenen Individualismus war er seiner Zeit weit voraus.

    Tschechow ist ein Mensch der Moderne, der, obwohl streng orthodox-religiös erzogen, nicht mehr glauben kann, der als agnostischer Naturwissenschaftler und Arzt allen geschlossenen ideologischen Gedankengebäuden mißtraut, der - im Gegensatz zu seinen zeitgenössischen Schriftstellerkollegen - nicht den Anspruch erhebt, die ewigen Fragen nach dem Sinn des Lebens beantworten zu können und sich von allen politischen Richtungskämpfen fern hält.

    Angst habe ich vor denen, die zwischen den Zeilen eine Tendenz suchen und die mich unbedingt als einen Liberalen oder Konservativen sehen wollen. Ich bin kein Liberaler, kein Konservativer, kein Reformanhänger, kein Mönch, kein Indifferenter. Ich möchte ein freier Künstler sein und nichts weiter (...) Ich hasse Lüge und Gewalt in all ihren Erscheinungsformen... Firma und Etikett halte ich für ein Vorurteil. Mein Allerheiligstes sind - der menschliche Körper, Gesundheit, Geist, Talent, Begeisterung, Liebe und absolute Freiheit, Freiheit von Lüge und Gewalt, worin sich die beiden letzteren auch äußern mögen.

    Tschechow ist uns nah in seiner illusionslosen Einsicht in die Unverständlichkeit und Bruchstückhaftigkeit der Welt, in seinem schmerzlich erlebten, aber offensiv verteidigten Verzicht auf eine feste "Weltanschauung". Vor allem aber ist er uns nah in seinem - trotz dieser nüchternen Erkenntnis - nie aufgegebenen Streben nach Transzendenz.

    Die Erfahrung des fehlenden Sinnzusammenhangs der Weltordnung hat ihn nicht in Resignation oder Wehleidigkeit getrieben und erst recht nicht zum kaltschneuzigen Zyniker gemacht. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit war er sein Leben lang an konkreten Hilfsprojekten für andere tätig. Und er tat das in aller Bescheidenheit, ohne Aufheben davon zu machen. Er reist auf die Gefangeneninsel Sachalin, sammelt Geld für die Hungerhilfe, organisiert als Arzt in Melichowo den Kampf gegen die Choleraepidemie, läßt drei Schulen bauen, ist Sprecher der Semstwo-Verwaltung, sammelt Bücher für die Bibliothek seiner Heimatstadt Taganrog, und noch als selbst schon Todkranker kümmert er sich in Jalta um mittellose Tuberkulosepatienten.

    Wenn ich wählen sollte zwischen einem von beiden: den "Idealen" der vielgerühmten Sechziger Jahre und dem schlechtesten Semstwokrankenhaus von heute, ich würde mich ohne zu überlegen für das Zweite entscheiden.

    Eine kenntnisreiche Einführung in Leben und Werk bietet das Buch von Frank Rainer Scheck aus der reihe dtv-portrait. Der übersichtlich gestaltete Band mit seinen zahlreichen Abbildungen bietet auf engem Raum eine Menge Material: Neben der Darstellung von Tschechows Biographie und Werk in farblich abgesetzten Textblöcken Informationen zur russischen Geschichte, literatur- und kulturgeschichtliche Erklärungen und viele Zitate aus Quellen zu den behandelten Themen. Allerdings ist ein Teil der Urteile und Wertungen des Autors höchst angreifbar, etwa die These von Tschechows "sozialdarwinistischen Überzeugungen" oder seine Kritik an der politischen Abstinenz Tschechows, mit der er die Vorwürfe der Zeitgenossen gegen den Schriftsteller wieder aufnimmt.

    Den immer noch verlässlichsten Zugang zu Tschechows Lebensweg eröffnet Peter Urbans Čechov Chronik von 1981, die - leider nicht wie angekündigt in einer revidierten und stark erweiterten Neuausgabe - gerade wiederaufgelegt wurde. Es ist dies eine akribische chronologische Dokumentation von Leben und Werk des Schriftstellers, ein genaues biographisch-literarisches Datengerüst, das keinen Platz läßt für Legenden, und Wertungen und Kommentare bewußt ausspart. Dabei liest sich diese Chronik - Hauptbestandteil des Textes sind die originalen Zitate aus Tschechows immenser Korrespondenz, ergänzt durch Aufzeichnungen und Briefe von Zeitgenossen - spannend wie ein Roman.

    Ein wichtiges Dokument zum Leben Tschechows sind die Memoiren seiner Schwester Maria Pawlowna Tschechowa, das 1960 in Moskau unter dem Titel "Aus ferner Vergangenheit" erschien, und nun vom Kindler Verlag unter dem Titel Mein Bruder Anton Tschechow in deutscher Übersetzung vorgelegt wird.

    Tschechow blieb - auch nach seiner späten Heirat mit der Schauspielerin Olga Knipper - sein ganzes Leben lang mit seiner Familie, für die er schon als Student das von allen geachtete Familienoberhaupt war, aufs engste verbunden, und seine drei Jahre jüngere Schwester Mascha, die selbst nie heiratete, war die ihm wohl nächste Vertraute. Sie hat nicht nur in der gemeinsamen Kindheit, sondern auch später - obwohl als Lehrerin berufstätig - Tschechows Leben in Moskau, Melichowo und Jalta ständig begleitet. Sie war seine Sekretärin, kümmerte sich um die Wirtschaft in Melichowo, assistierte in seiner Arztpraxis und unterstützte ihn bei seinen sozialen Aufgaben. In einem der 434 an sie gerichteten Briefe formuliert er nach dem Tode des Vaters sein von der Lehre der Stoa beeinflußtes Lebensprogramm:

    ... immer folgt auf den Sommer der Winter, auf die Jugend das Alter, auf das Glück das Unglück und umgekehrt. Der Mensch kann nicht das ganze Leben lang gesund und fröhlich sein, immer erwarten ihn Verluste; er kann sich nicht vor dem Tode bewahren, auch wenn er Alexander der Große wäre - und man muss zu allem bereit sein und es als etwas Unausweichliches und Unumgängliches annehmen, wie traurig das auch ist. Man muss nur nach Kräften seine Pflicht erfüllen - das ist alles.

    Nach Tschechows frühem Tod widmete Maria - als Direktorin des Tschechow-Museums in Jalta - ihr weiteres Leben der Sammlung und Bewahrung seines Werks. Hier hat sie auch gegen Ende ihres langen Lebens - also etwa 50 Jahre nach dem Tod ihres Bruders - als über Neunzigjährige an diesem Erinnerungsbuch gearbeitet. Es ist ärgerlich und unverständlich, dass der Verlag verschweigt, dass diese Erinnerungen von einem Mitarbeiter des Museums aufgezeichnet worden sind. Gerade weil Maria Pawlownas Memoiren - abgesehen von der subjektiven Perspektive der liebenden Schwester - sehr zuverlässig sind. Jedes erzählte Ereignis wird durch authentische Dokumente - Briefe von Tschechow, seinen Brüdern, Freunden, den Melichower Tagebuchaufzeichnungen des Vaters und vieler anderer beglaubigt. Maria Tschechowa erzählt einfach, uneitel und ohne falsche Ambitionen: von der Kindheit in dieser Taganroger Aufsteigerfamilie mit sechs Geschwistern, vom ehrgeizigen und überforderten Vater, der allen Kindern eine gute Ausbildung geben wollte, von den talentierten und schwierigen Brüdern, vom Alltag in den schweren Moskauer Jahren und der glücklichen Zeit auf dem Gut Melichowo.

    Maria war voll integriert in den Moskauer Freundeskreis der begabten Tschechow- Brüder. Sie hat die später so berühmten Jugendfreunde aus dieser Studentenclique, den Landschaftsmaler Lewitan, den Architekten Schechtel, aber auch die bedeutenden Schriftsteller, mit denen Tschechow befreundet war, Gor´kij, Bunin u.a. gut gekannt.

    Man gewinnt einen faszinierenden Eindruck von der fröhlich kreativen Atmosphäre im Hause Tschechow, wo sich seit der Kindheit - trotz des jähzornigen und ungerechten Vaters und der ständigen Geldsorgen - eine eigene komische Familiensprache herausbildete, wo ständig herumgealbert, Theater gespielt und parodiert wurde, wo im stets von Gästen überfüllten Gutshaus von Melichowo mit den befreundeten Schauspielern und Künstlern witzige Spiele und Foppereien an der Tagesordnung waren, alle Spitznamen trugen, und die Hunde mit Vor- und Vatersnamen angeredet wurden.

    Die Frauen, die Tschechow umschwärmten, waren häufig Marias Freundinnen, die sie in die herzliche Atmosphäre der Familie einführte. Lika Misinowa etwa, die in Tschechow verliebt war, ohne dass dieser sich zu einer festen Bindung entschließen konnte, und deren tragisches Schicksal als verlassene Geliebte eines verheirateten Schriftstellerkollegen Tschechow in der "Möwe" verarbeitete.

    Das Buch mit den Erinnerungen der Lydia Awilowa, das unter dem Titel Tschechow, meine Liebe in der edition ebersbach erschienen ist, leistet dagegen eher einer falschen Legendenbildung Vorschub.

    Lydia Awilowa war eine Schriftstellerin und Freundin Tschechows, mit der er viele Briefe wechselte, der er wichtige Ratschläge für ihr Schreiben gab, und mit der er auch ein paar Mal in seinem Leben zusammentraf. Lydia Awilowa - sie war in Petersburg verheiratet und hatte drei Kinder - hat den Schriftsteller offensichtlich ihr Leben lang geliebt. Aber während sie gleich nach seinem Tode in einem Brief an Tschechows Schwester, der in deren Memoiren abgedruckt ist, noch traurig bekennt, dass sie auf keinen Fall behaupten wolle, dass sie ihn "gut kannte" und ihm "etwas bedeutet habe", phantasiert sie sich in ihren späteren Erinnerungen einen tragischen Liebesroman zusammen, in dem sie sich als Tschechows einzige, große unerfüllte Liebe darstellt, mit der er zwischen den Zeilen seiner Werke - in der "Möwe" und der Erzählung "Über die Liebe" - geheimnisvolle Liebesbotschaften austauschte.

    Nun ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, dass auch die Memoiren dieser Frau, die Tschechow tatsächlich nahe stand, als interessante Quelle ins Deutsche übersetzt wird. Aber schon der Titel "Tschechow, meine Liebe" lässt erkennen, dass man hier – auch wenn im Nachwort vorsichtig das Problem der Glaubwürdigkeit angesprochen wird – mit dem Kitschbedprfnis der Leser rechnet. Im russischen Original heißen diese Memoiren "Tschechow in meinem Leben" und sind mit warnenden Vorbemerkungen des Herausgebers versehen. Zu dem zurückhaltenden, unpathetischen immer auf Diskretion bedachten Tschechow paßt nichts weniger als eine rührselig-sentimentale Liebesgeschichte. In seiner Erzählung "Über die Liebe heißt es:

    Bis heute ist über die Liebe nur ein einziger wahrer Satz gesprochen worden, nämlich: Dies Geheimnis ist groß.

    Frank Rainer Scheck
    Anton Čechov
    dtv-portrait, 192 S., EUR 10,-

    Čechov Chronik. Daten zu Leben und Werk
    Zusammengestellt von Peter Urban.
    diogenes 1981/2004

    Maria Tschechowa
    Mein Bruder Anton Tschechow
    Kindler, 287 S., EUR 22,90

    Lydia Awilowa
    Tschechow, meine Liebe. Erinnerungen
    edition ebersbach, 157 S., EUR 16,-