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Merkel in Moskau

Bundeskanzlerin Merkel reist heute zu ihrem Antrittsbesuch nach Moskau. Die an den Besuch geknüpften Erwartungen sind hoch. Merkel müsse auch kritische Töne finden und etwa humanitäre Probleme mutig ansprechen, finden Opposition und Menschenrechtsorganisationen in Russland. Isabella Kolar berichtet.

    Die 56-jährige Tschetschenin Kulsum Schawchalowa sitzt in dem engen Raum des Moskauer Bürgerkomitees zusammengesunken auf einem Holzstuhl. Seit fünf Jahren lebt sie mit ihren vier Kindern in einem Übergangswohnheim 400 Kilometer östlich der Stadt. Ein Leben auf Abruf, denn vor zwei Monaten urteilte ein Gericht, dass sie nach Tschetschenien zurück muss und kein Geld mehr bekommt. Doch Kulsum will nicht zurück, zu Schreckliches hat sie in Tschetschenien erlebt. Tränen rinnen über ihr Gesicht:

    "Eines weiß ich genau: man hat uns ohne alles gelassen. Wir sind unschuldig und haben nichts mehr: keine Wohnung, kein Haus, keine Arbeit, gar nichts. Sogar das, was ich auf dem Leib trage, ist humanitäre Hilfe. Uns braucht niemand, was sollen wir tun?"

    Kulsum gegenüber sitzt Svetlana Ganuschkina, Vorsitzende des Bürgerkomitees und gleichzeitig Mitglied im Rat des russischen Präsidenten für Menschenrechte. Sie hört solche Geschichten im Jahr hundert bis tausendfach. Bei ihren letzten Treffen sei Präsident Putin immer unzugänglicher geworden für Menschenrechtsprobleme. Was erwartet Svetlana Ganuschkina von Angela Merkel, wenn sie heute erstmals als deutsche Bundeskanzlerin im Moskauer Kreml auf Vladimir Putin trifft?

    "Ich will eine deutliche klare Position der deutschen Bundeskanzlerin zu dem, was in Russland passiert. Wenn die Präsidenten anfangen sich abzuknutschen wie verliebte Mädchen, wenn der eine Präsident den anderen zum Schlittenfahren einlädt, wenn Schröder Putin einen lupenreinen Demokraten nennt - es ist doch sichtbar, dass das unproduktiv ist. Es ist doch klar, dass Russland sich gerade nicht demokratisch entwickelt."

    Zeit also nicht nur in Washington sondern auch in Moskau ein "neues Kapitel" aufzuschlagen - finden Opposition und Menschenrechtsorganisationen in Russland. Wer die Situation in Guantanamo in den USA kritisiere, der könne auch die Situation in Tschetschenien in Russland kritisieren. Es hängt viel ab von Merkels Antrittsbesuch im Kreml sagt die Politologin Lilia Schewzowa vom
    Moskauer Carnegie-Zentrum:

    "Es wird für Frau Merkel sehr nützlich sein, schon ganz am Anfang, bei ihrem ersten Treffen mit Putin, die Logik ihrer zukünftigen Beziehungen zu formulieren. Wenn sie es vermeidet über solche unangenehmen Probleme wie den Gaskonflikt mit der Ukraine und über die Einschränkungen der Demokratie in Russland zu sprechen, wird sie auch in den zukünftigen Beziehungen mit Putin keine Möglichkeit haben, hier Akzente zu setzen."

    Erste Signale auch gen Osten setzte Angela Merkel schon in einem Interview vor einer Woche: "Freundschaft" mit den USA, aber "strategische Partnerschaft" mit Russland. Entwicklungen dort, die ihr "Sorgen machen", wie das neue Gesetz "gegen Nichtregierungsorganisationen" und keine einseitige Abhängigkeit von Russland in Energiefragen. Ob der schröderverwöhnte Wladimir Putin schon Angst hat vor Angela Merkel? Vjatscheslaw Below, Direktor der Deutschlandabteilung des Moskauer Europa-Instituts glaubt das nicht:

    "Frau Merkel wird zwar eine kritischere Position einnehmen und Putin die Kritik des Westens vortragen. Doch sie wird Putin damit nicht überraschen. Russland erwartet solche kritischen Äußerungen. Es sind hier bereits ihre Aussagen über die Nichtregierungsorganisationen bekannt und darüber, dass Russland sich in eine demokratische Richtung entwickeln muss. Ich glaube, dass ist konstruktiv."

    Konstruktiv findet man neuerdings also die ungewohnte Kritik aus Deutschland und gespannt ist man darauf, ob sie den Flug Berlin-Moskau überlebt und im Kreml tatsächlich landet. Übereinstimmung wird in der Iran-Frage erwartet: Angela Merkel hat bereits Russlands Vorschläge als positiv bewertet, den Iran wegen seines Atomprogramms in die Schanken zu weisen. Schwieriger dürfte die Diskussion über den russisch-ukrainischen Gaskonflikt und seine Folgen verlaufen, meint Lilia Schewzowa:

    "Frau Merkel wird den gesamten Kontext der Energiebeziehungen zu Russland neu bewerten. Wir glauben, dass sie in gewissem Sinne vielleicht sogar versucht, die Widersprüche zwischen der russischen, deutschen und polnischen Position bezüglich der Ostseegaspipeline zu lösen. Und sie wird auch ihre Meinung zum kürzlichen russisch-ukrainischen Gaskrieg äußern. Denn ich denke nicht, dass Deutschland eine neue Situation zulässt, bei der der Kreml so viel Verantwortungslosigkeit beim Lösen der Fragen der Energiesicherheit Europas an den Tag legt."

    Genug Stoff für die erste Begegnung zwischen Merkel und Putin als Staatsoberhäupter also. Und zu wenig Schnee für eine gemeinsame Schlittenfahrt der beiden derzeit in Moskau. Sehr beruhigend findet das wahrscheinlich die russische Opposition.