Hans Ulrich Gumbrecht verschärft in seinem Aufsatz "Die Gegenwart wird immer breiter" zunächst die Diagnose der Ermattung, wenn er behauptet, dass sich die Gegenwart darin erschöpfe, vergangene Formen bloß noch zu zitieren, statt neue Formen und Stile zu erfinden. Seit der Kulturrevolution der 68er habe sich die Gesellschaft im wesentlichen nicht mehr verändert. Auf die Punktualität einer Gegenwart zurückverwiesen, die sich nicht mehr objektiv in die Zukunft verlängern kann, wertet Karl Heinz Bohrer in seinem Merkur-Beitrag die "subjektive Zukunft" auf und beruft sich auf die "Intensität von Jetzt-Erfahrung" als Gegengift gegen Resignation und Melancholie. Vor diesem skeptisch kulturpessimistischen Hintergrund fragen dann verschiedene andere Autoren des Sonderbandes konkreter nach der Zukunft der Demokratie, der Technik, des Körpers und der Kunst.
Bittere Ironie der Geschichte, dass kurz nach dem Erscheinen des Merkur-Sonderbandes die terroristischen Anschläge auf das World Trade Center die intellektuellen Selbstverständlichkeiten des Westens erschüttert haben. Man begriff die Ereignisse als tiefen Einschnitt im geschichtlichen Kontinuum, nicht wenige Kommentatoren sprachen in einem emphatischen Sinn vom Beginn des 21. Jahrhunderts. Hollywood, so konnte man lesen, müsse seine Drehbücher umschreiben und mit lustig sei es erst einmal vorbei. Wie weit ist es also um die Dekadenz des Westens wirklich bestellt? Ist die Diagnose der Utopie-Unfähigkeit nicht plötzlich unzeitgemäß geworden? Muss man nicht vielmehr von einem neuen Pathos der Freiheit, einer utopischen Aufladung des Liberalismus sprechen und eine Revitalisierung des Westens vor der fundamentalistischen Herausforderung für möglich halten?
Ich glaube, man muss da etwas absehen und skeptischer sein, ob tatsächlich der Westen im Ganzen, ich möchte das bei unserer pluralistischen und sehr differenzierten Gesellschaft, in der ja selbst ganz unendlich hohe Anteile heute in allen in westeuropäischen und amerikanischen Metropolen anwesend sind, möchte ich das etwas bezweifeln. Vor allen Dingen mit Rücksicht auf den Tatbestand, dass wir in unseren politischen Parteien doch soviele Zweifler am Westen haben, dass mir zunächst nur eine Einsicht erscheint, dass die offizielle Rhetorik der Politik auf diese Tradition in einem fundamentalistischen Sinne zurückgreift, bis zu der Pointe, dass der amerikanische Präsident vom Gegenspiel von Gut und Böse spricht, in der totalen Umkehrung der Sprache der Muslime. Aber ich glaube nicht, dass das die Sprache der westamerikanischen Intelligenz ist. Nur eines glaube ich nicht, dass es sich um einen Kampf der Kulturen handelt, und zwar deshalb nicht, weil eine strukturelle Voraussetzung nicht gegeben ist: es müsste dann handeln, und zwar objektiv, eine Symmetrie der Kräfte vorhanden sein. Und es tut mir nun wirklich leid - von einem Gleichgewicht der Kräfte kann gar keine Rede sein. Der Westen, der seit 300 Jahren, seit der Renaissance zu einem Prozess der Ausdifferzierung intellektueller Kapazitäten geführt hat, ist darin den muslimischen Zivilisationen unendlich überlegen.
Man muss wirklich sagen, wenn man diese Differenz sieht, dass man auf das Bild verfällt, das politische und kulturelle Arabertum ist so befangen, wie die Christen befangen gewesen wären, wenn die katholische Kirche im 16. Jahrhundert das letzte Wort gesagt hätte und die bedeutendsten Naturwissenschaftler verbrannt hätte. Mit anderen Worten, wir haben es letztlich in den triumphierenden Formen des politischen Moslemtums mit Phasen zu tun, die wir zur Zeit der katholischen Kirche hatten zur Zeit der spanischen Inquisition, und was das für Spanien bedeutete, das wissen wir: 400 Jahre intellektuelle und gesellschaftliche Stagnation. Und selbst das Franco-System war letzten Endes eine Folge dieses orthodoxen Herrschens des Glaubens über die Gesellschaft. Diese Unio von Gesellschaft und Glauben ist bis heute im Islam nicht gelöst worden, und vielleicht liegen hier auch Gründe für die technologisch und wissenschaftliche Abhängigkeit des Islam vom Westen. Aber sie weisen zumindest auf die theoretische Notwendigkeit hin, dass man diese Herausforderung wahrscheinlich in der Tat - und das wird im nächsten Merkur auch formuliert werden - dass man ihr nur Herr wird, wenn man diese scheinbare ad acta gelegte, spezifische aufklärerische Subjekttradition – das heißt, die Reflexionskultur des Westens, der eben nicht fundamentalistisch ist, seit der Renaissance nie mehr fundamentalistisch war, wenn man den wieder stark macht und sich in der Tat auf die westliche Tradition konzentriert. Aber ich würde nicht sagen, dass das im Widerspruch steht zu Gegenwarts- und Zeitbegriff, den wir in unserem Merkur-Heft "Zukunft denken". Dass wir nun dieses Ereignis des plötzlichen Einbruchs in einer Art von lässiger, leicht dekadenter, hedonistischer Gegenwart nicht antizipiert haben, das ist richtig.
Fundamentalismus oder Säkularisierung? Vielleicht wäre das die aktuellere Frage auf das Problem der Gegenwart als die Frage nach der Utopie. Karl Heinz Bohrer scheint sich auf sie zuzubewegen, und Jürgen Habermas hat sie in seiner Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels zumindest angedeutet. In einem Jahr werden wir wissen, ob die Herausgeber des Merkur sie für würdig genug halten, zum Thema des nächsten Sonderbandes zu werden.