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Metamorphosen auf der Insel

Irland gilt als Vorzeige-Beispiel in der Europäischen Union. Kaum ein Land hat so von den Beihilfen aus Brüssel profitiert und sie so geschickt für den wirtschaftlichen Aufschwung genutzt. Dennoch haben die Iren lange gebraucht, bis sich der steigende Wohlstand auch in wachsendem Selbstbewusstsein niederschlug.

Von Martin Alioth |
    So lange stand Irland im Schatten der großen britischen Nachbarin, dass die formelle Unabhängigkeit im Jahre 1922 nur in einem beschränkten Sinne den erhofften Neubeginn brachte. Der irische Dichter Theo Dorgan steht an der neuen Uferpromenade des Flusses Liffey in Dublin und spricht von historischem Ballast:

    "Der junge irische Staat blieb im viktorianischen Denken verhaftet, auf England fixiert und verkrüppelt. Erst Europa sprengte diese Fesseln. Denn vorher hatte Irland letztlich fremde Stereotypen von sich selbst übernommen. Das alte Irland sah sich als zweitklassige englische Provinz oder als Verlierer der industriellen Revolution, als Volk entmündigter Bauern."

    Erst die Mitgliedschaft bei einem größeren Verbund und - in jüngster Zeit - der rasant steigende Wohlstand gestatteten die Emanzipation.
    "Europa erlaubte die Wiederentdeckung einer alten Zugehörigkeit, die Welt wurde größer, alte Bindungen neu belebt, England verstellte den Blick nicht mehr. Es wehte frische Luft zwischen irischen Ohren."
    Die Iren, meint Dorgan, merkten plötzlich, dass sie gleich viel wert waren wie alle anderen; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das sei ein enormer Sprung zur Überwindung der post-kolonialen Mentalität.

    Hier liegt der Kern der Verwandlung Irlands durch Europa: das neue Selbstbewusstsein. Dorgan kennt ein schlagendes Beispiel. Es geht um das Dubliner Schloss, den einstigen Sitz der britischen Kolonialverwaltung, wo seit 1922 auch der irische Staat seine Zeremonien abhält. Dorgan berichtet von einem neuen Architekten der staatlichen Denkmalverwaltung:
    "Der Haupteingang war nie mehr geöffnet worden; bis in die neunziger Jahre hinein benutzten die Iren einen Nebeneingang, vermutlich in gebückter Haltung. Die äußerlich sichtbaren Zeichen der Verwandlung erscheinen in diesem Licht plötzlich als bloße Symptome."

    Dorgan tritt ans Geländer am Liffey-Ufer und weist auf die neuen Glaspaläste gegenüber:
    "Früher hatte es gelegentlich ein Gebäude in den Lücken gegeben, dann hatte es Lücken zwischen Gebäuden gegeben und jetzt sind da einfach Gebäude; es ist das 21. Jahrhundert aus der Retorte. Die Gebäude passen sich nicht dem Fluss an, sondern der Fluss schlüpft in die Rolle, die ihm der Architekt zugeordnet hat."
    Dieses verwandelte Irland ist hektischer und anonymer geworden; die einst sprichwörtliche Muße des ländlichen Irland ist im Verkehrsstau der Pendler auf der Strecke geblieben. Aber Theo Dorgan meint, der Wettbewerb der Ideen sei noch nicht entschieden.
    Er entdeckt eine größere Nachdenklichkeit in dieser Gesellschaft, parallel zur wachsenden Gier. Er bleibt gespannt, wie sich dieser dialektische Prozess schließlich auflöst. Mit dem Finger zeigt der Dichter auf ein altes Segelschiff, das an der Flussmauer vertäut ist. Es handelt sich um eine Kopie der Jeanie Johnston, eines Menschentransporters aus der Zeit der großen irischen Hungersnot, als Hunderttausende über den Atlantik gekarrt wurden. Viele erreichten die neue Welt nie.
    Er spricht von einer pechschwarzen Ironie, dass dieses Schiff nun nicht etwa als Warnung vor vergangenem Elend hier liege, sondern als reiner Touristenmagnet. Mit diesem Ausmaß von Banalität könne er sich nur schwer abfinden.