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Methylhydroxycarben: Das Molekül, das Berge überwindet

Das Molekül dieser Woche heißt Methylhydroxycarben. Eine Elektronenmangelverbindung, wie Chemiker sagen. Sein zentrales Kohlenstoffatom hätte liebend gerne acht Elektronen um sich. Es sind aber nur sechs.

Von Volker Mrasek | 30.11.2011
    "Eigentlich ein unglückliches Molekül."

    Glücklich dagegen die Forscher, die das Carben jüngst zum ersten Mal nachweisen konnten. Und nicht nur das: Die Experimente mit dem kleinen Kohlenstoffmolekül zeigen uns, dass chemische Reaktionen auch auf ganz anderen Wegen ablaufen, als wir es uns bisher vorgestellt haben.

    "Dieser Zug fährt Richtung Zugspitze."

    Versetzen wir uns ins Gebirge, um zu verstehen, wie chemische Umsetzungen überhaupt zustande kommen.

    Will man Moleküle miteinander reagieren lassen, muss man sie durch Energiezufuhr aktivieren. Das kann man sich wie einen Berg vorstellen, über den man die Reaktionspartner dann hievt. Eigentlich haben sie gar keine Lust auf Kletterpartien. Durch den freundlichen Schubser rappeln sich die trägen Moleküle aber doch auf und überwinden den Gebirgskamm. Am Ziel bilden sie dann ein neues stabiles Reaktionsprodukt.

    Doch es geht auch anders:

    "Nämlich durch den Berg hindurch."

    Das hat die Arbeitsgruppe von Peter Schreiner an der Universität Gießen kürzlich im Labor zeigen können, und zwar an Methylhydroxycarben. Um das äußerst kurzlebige Molekül nachzuweisen, sperrten die Chemiker es in einen Käfig aus Edelgasen, bei Temperaturen um minus 260 Grad. Verblüfft stellte Doktorand Dennis Gerbig dann aber fest:

    "Dass statt dieses Moleküls nur noch eine sehr viel stabilere, ähnliche Verbindung vorlag."

    Ein Wasserstoffatom hatte sich umgelagert. Nur wie? So nah am absoluten Nullpunkt fehlt es eigentlich an der nötigen Energie.

    Die Lösung des Rätsels:

    "Dass quasi etwas abläuft, was man so nicht vermuten würde, kann man dem quantenmechanischen Tunneleffekt zuschreiben."

    Aus der Physik ist das Phänomen bekannt: Wenn Teilchen sehr leicht sind, Elektronen zum Beispiel, dann verhalten sie sich gleichzeitig wie Teilchen und Wellen. Atomen und anderen, viel schwereren Materiebausteinen schrieb man diese Doppelnatur bisher nicht zu. Doch nur so können die Gießener Chemiker die wundersame Reaktion von Methylhydroxycarben erklären:

    "Wir graben also keine Löcher durch den Berg, sondern wir nutzen die Quantenmechanik aus, die uns sagt, dass das Teilchen, was auch 'ne Welle ist, 'ne Aufenthaltswahrscheinlichkeit auf der einen und auf der anderen Seite des Berges hat." "Was bedeutet, dass man statt über einen Reaktionsberg hinweg auch durch den Berg selbst hindurchtunneln kann. Deshalb der Begriff 'tunneln'."

    Es laufen nur zwei Sorten chemischer Reaktionen ab. Die, die zum stabilsten Endprodukt führen. Oder die mit der niedrigsten Aktivierungsenergie. Dachte man bisher. Methylhydroxycarben zeigt jetzt einen dritten Weg auf - den durch die Wand!

    "Um ganz ehrlich zu sein, sind wir uns noch nicht sicher, warum es das tut."

    Tritt der Tunneleffekt auch bei höheren Temperaturen auf? Könnte man ihn gezielt einsetzen und so Stoffe ohne großen Energieaufwand umsetzen? Ohne über den anstrengenden Berg zu müssen?

    Durchaus, glaubt Chemieprofessor Schreiner:

    "Das wäre natürlich der goldene Weg sozusagen zu neuen Synthesen. Davon sind wir extrem weit weg. Aber wir machen kleine Schritte in diese Richtung und meinen auch, da vieles Neues zu lernen."

    "Feierabend?" - "Feierabend!" - "Müssen wir runter, nicht?" - "Ja! Schnell runter und zur Seilbahn!"