Dienstag, 16. April 2024

Archiv

#MeToo in Frankreich
Ein Erdbeben im alten Kulturbetrieb

Die #MeToo-Debatte in Frankreich war lange Zeit nicht das große Thema in der Öffentlichkeit, der große #MeToo-Moment blieb aus. Doch seit Kurzem ist das anders - denn zwei Frauen aus der Film- und Literaturwelt brachen ihr Schweigen. Der Kulturbetrieb muss sich mit der eigenen Blindheit befassen.

Von Sabine Wachs | 17.01.2020
Eine Hand auf der "#MeToo" und "#Balancetonporc" ("Schwärz' dein Schwein an")
Die neue #MeToo-Debatte in Frankreich greift die alte Kulturelite an (AFP / Bertrand Guay)
Das Buch von Vanessa Springora ist seit dem 2. Januar auf dem Markt - und war direkt vergriffen. Ungewöhnlich für das Werk einer Autorin, deren Name vielen Französinnen und Franzosen bis dato nichts sagte. Springora, 47 Jahre alt, ist eigentlich Verlegerin in einem großen Verlagshaus. In "Le Consentement" - auf Deutsch: "Die Einwilligung" - beschreibt Springora, wie sie 1986 als junges Mädchen den gefeierten französischen Schriftsteller Gabriel Matzneff kennenlernte. Wie sich ein Verhältnis zwischen ihnen entwickelte, wie der 50-Jährige die 14-Jährige zu seiner Liebhaberin machte:
"Es fing mit Blicken an, intensive, fordernde Blicke, kein männliches Wesen hatte mich jemals zuvor so angesehen. Ich hatte so einen Blick noch nie auf mir gespürt. Das war sehr aufregend für mich, er gab mir das Gefühl, eine Frau zu sein."
Springoras Buch wird zum Bestseller
Springora schreibt, dass sie sich auserwählt fühlte, sich verliebte in diesen Mann, diesen Schriftsteller, den sie sehr bewunderte, und dass die Beziehung zwischen dem erwachsenen Mann und dem minderjährigen Mädchen von allen Seiten toleriert wurde:
"Er hat es als Liebesgeschichte ausgegeben. Meine Liebe war echt, seine Liebe aber hatte einen anderen Hintergrund. Das habe ich alles erst später verstanden, als ich seine Bücher gelesen habe. Da wurde mir klar, dass es ihm um etwas ganz anderes ging, als um Liebe."
Die pädophilen Neigungen des heute 83-Jährigen Schriftstellers waren Frankreichs Literaturszene lange schon bekannt. Matzneff hat nicht nur nie einen Hehl daraus gemacht, sie waren sein literarisches Kapital. Fast alle seine Bücher drehen sich um seine Beziehung zu Minderjährigen, darum, dass er glaubt, Jungen und Mädchen zu helfen, ihre Sexualität zu entdecken. In den 70ern und 80ern störte das niemanden. Matzneff war Gast in renommierten Literatur-Talkshows, erzählte dort offen von seinen pädophilen Neigungen. Nur ein einziges Mal, zu Beginn der 90er-Jahre, stellte sich die kanadische Schriftstellerin Denise Bombardier öffentlich gegen ihn:
"Herr Matzneff erzählt uns, dass er Analverkehr mit 14-, 15-jährigen Mädchen hat, dass sie verrückt nach ihm sind. Sie locken die jungen Mädchen mit ihrer Aura, sowie alte Männer Kinder mit Bonbons anlocken."
Öffentliche Meinung hat sich gewandelt
20 Jahre nach dieser Auseinandersetzung in einer Talkshow hat sich die öffentliche Meinung gewandelt. Und auch das Vorgehen der Justiz. Einen Tag nach Erscheinen von Springoras Buch hat die Staatsanwaltschaft Vorermittlungen gegen Matzneff eingeleitet – wegen sexuellem Missbrauch von Minderjährigen. Verlage haben angekündigt, einige Werke des Autors zurückzuziehen.
Das Buch hat ein Erdbeben in der französischen Literaturszene ausgelöst. Denn Springora beschreibt mehr als einen Pädophilie-Skandal. Sie hat die Mitwisserschaft und stillschweigende Billigung einer ganzen Szene, eines ganzen Milieus enthüllt. Der Hashtag #Metoo ist wieder in aller Munde. Dank Vanessa Springora und dank einer anderen Frau.
Die Schauspielerin Adèle Haenel, zweifach ausgezeichnet mit Frankreichs wichtigstem Filmpreis, dem César, erzählte schon im November 2019 ihre Geschichte. Auch hier geht es um ein minderjähriges Mädchen und einen erwachsenen Mann. Regisseur Christoph Ruggia soll Haenel über Jahre sexuell genötigt habe. Vor 20 Jahren, als Haenel zwischen 12 und 15 Jahre alt war:
"Er war ein erwachsener Mann fast 40 Jahre alt, er war jeden Samstag alleine in einem Raum, mit einem jungen Mädchen, das zwischen 12 und 15 Jahre alt war und hat versucht, mich zu begrapschen - und er hat es auch geschafft. Darüber reden wir hier. Das waren keine zufälligen Berührungen, und es war nicht nur ein einziges Mal."
Zum ersten Mal seit Beginn der #MeToo-Debatte 2017 äußerte sich eine anerkannte, französische Schauspielerin öffentlich und bezichtigte einen Regisseur der sexuellen Nötigung. Mit Unterstützung einer Journalistin des Online-Magazins Mediapart veröffentlicht Haenel ihren Fall. Der Artikel stützte sich auf zahlreiche Zeugenaussagen aus dem Umfeld von Opfer und Täter. Alle stimmen in dem Punkt überein, dass das Verhältnis zwischen dem erwachsenen Mann und jungen Schauspielerin übergriffig gewesen sei. Der Regisseur bestreitet die Vorwürfe, trotzdem hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eröffnet, Ruggia ist mittlerweile in Polizeigewahrsam und die französische Filmbranche sieht erstmals auch, dass sie lange Zeit, viel zu viel toleriert hat:
"Früher hätten wir darüber gelacht"
"So etwas darf nicht mehr passieren", sagt Regisseur Costa Gavras. "Adèle ist eine großartige Schauspielerin, sie hat Gewicht in der französischen Filmlandschaft und sie hatte den Mut, darüber zu sprechen. Sie schlägt damit eine Bresche, und wir alle müssen auf die kleinsten Anzeichen von Nötigung achten und sie unterbinden. Zum Beispiel, wenn ein Schauspieler die Hand auf den Hintern einer Frau legt; früher hätten wir darüber gelacht. Wir haben nicht verstanden, welch' Demütigung das ist."
Die #Metoo-Debatte - durch Adèle Haenels und Vanessa Springoras Veröffentlichungen bekommt sie nun auch in Frankreich Gewicht. Beide Frauen haben Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass das, was ihnen widerfahren ist, nicht ihr Fehler war. Sowohl die Film- als auch die Literaturszene wollten nicht sehen, dass es in dem Machtverhältnis zwischen anerkanntem, angesehenen Mann und minderjährigem Mädchen ein Opfer gibt. Nun muss sich der französische Kulturbetrieb mit der eigenen Blindheit auseinandersetzen.