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Metropolen jenseits der Megacities

In den Großstädten der Welt konzentrieren sich die wesentlichen Probleme des 21. Jahrhunderts - und hier werden sie auch gelöst werden müssen. Diese Überzeugung leitete die Veranstalter einer Vortragsreihe über Metropolen und Megacities. Sie haben untersucht, welche Funktionen Städte heute haben. Warum immer mehr Menschen in Städten wohnen wollen, und welche Stadtkonzepte es eigentlich gibt.

Von Ursula Storost | 15.05.2008
    Die Göttin der Großstadt hat uns ausgespuckt
    in dieses wüste Meer von Stein.
    Wir haben ihren Atem eingeschluckt,
    dann ließ sie uns allein.


    So beschrieb der Schriftsteller Wolfgang Borchert Anfang der 1940er-Jahre das Lebensgefühl in der Großstadt. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich bezeichnete es gut 20 Jahre später als Unwirtlichkeit unserer Städte: Entfremdung, Vereinsamung, Destruktivität. Und doch zieht es immer mehr Menschenmassen in die großen Metropolen, weiß der Kulturwissenschaftler Markus Meßling. Er ist Projektleiter bei der Hamburger Zeit-Stiftung und hat die Vortragsreihe über Metropolen und Megacities mitkonzipiert.

    Meßling: "Es gibt ja die großen UNO-Berichte, die sagen, dass mehr als die Hälfte der Menschheit mittlerweile in Städten lebt. Die Städte wachsen sehr, sehr schnell. Das sind allerdings meistens Städte der Dritten Welt, und die Frage ist, was für Probleme entstehen durch diese Verstädterung. Das sind Probleme, die wir sehen in den Metropolen der Entwicklungsländer, also Verslumung, Umweltschutzprobleme, Verdichtungen, auch Entzerrrungen, also Zersiedlungen ganzer Landschaftsbereiche und so weiter. Und insofern ist die Stadt insgesamt und vor allem die großen Metropolen eines der ganz großen Menschheitsthemen im Moment. Also ähnlich bedeutend wie die Frage der Rohstoffverteilung, wie die Klimafrage, wie die Frage der Überbevölkerung und so weiter."

    Städte sind kulturelle Zentren. Brenngläser der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen, sagt Markus Meßling. Hier entscheidet sich, wie wir in Zukunft miteinander leben, wie wir unsere Räume gestalten wollen. Sowohl bautechnisch als auch sozial.

    Meßling: "Dahinter steckt immer eigentlich auch immer so etwas wie ne utopische Frage, wie die Frage nach der gesellschaftlichen Vision. Also was bedeutet für uns Urbanität zum Beispiel? Was heißt städtisches Lebensgefühl? Heißt das ein kosmopolitanes Leben, ein Leben nur für reiche oder wohlhabende Leute, die sich das leisten können, in Städten zu wohnen? Natürlich nicht. Also ist die nächste Frage: Wie kann man Stadtplanung machen, dass Bevölkerungsgruppen wieder einbezogen werden, die stark marginalisiert werden? Wie kann man Bevölkerungsmischungen produzieren? Wie kann man auf das kulturelle Kapital zurückgreifen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen?"

    Fragen, die bislang völlig ungelöst sind. Beispiel: die Megacity Paris: ehemals Hauptstadt eines Kolonialreiches, heute Zentrum für Wissenschaft und Kultur mit Migrantenströmen aus allen Kontinenten, knapp 14 Millionen Einwohnern und massiven sozialen Problemen. Probleme, die auch durch verfehlte Stadtbaukonzepte produziert wurden.

    Meßling: "Es stimmt natürlich, dass vor allen Dingen die Banlieues, also die Vororte von Paris, soziale Brennpunkte sind, die große Probleme mit sich bringen und wo auch ne große Ratlosigkeit herrscht. Also es gab Rezepte: Abriss, Neubauten, Umstrukturierung und so weiter. Das hat alles nicht funktioniert. Manchmal fehlt auch der politische Wille. Aber ich glaube, es gibt auch so ne Art der Ratlosigkeit, auf diese sozialen Probleme städtebaulich zu reagieren."

    Metropolen sind historisch gewachsene Gebilde: New York, entstanden auf teurem Boden aufgrund industrieller Verdichtung, Los Angeles, die postmoderne Stadt, zersiedelt, weil die Menschen außerhalb wohnen, Tokio, ein Stadtverbund aus drei Großstädten, und die aktuellen Megacities mit mehr als 20 Millionen Menschen in der Dritten Welt. Riesige Slums als Sinnbild für die verheerende Entwicklung der Menschheit, die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich im 21. Jahrhundert.

    Meßling: "Wir reden eigentlich immer über diese Global Cities oder über diese Welt-Megacities, die über 20 Millionen Einwohner haben, Mexico City und Kairo und so weiter, und vergessen dabei oft, dass das Interessante dabei ist, dass Städte gestaltbare Räume sind mit ner eigenen Geschichte, ner eigenen Kultur, die aber auch ihre eigene Zukunft in der Hand haben. Und dass darum für jede Metropole sich immer wieder neu die Frage stellt: Was ist unsere Identität, wohin möchten wir eigentlich, und wie wollen wir diesen Raum eigentlich gestalten?"

    Laut einem UN-Bericht leben heutzutage in städtischen Gebieten eine Milliarde Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Ein Drittel der urbanen Weltbevölkerung vegetiert ohne Sanitäranlagen, ohne Strom, ohne Schulsystem. Eine Verbesserung könne nur durch die Transformation bestehender Städte erreicht werden, sagt Marc Angélil, Professor für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich. Anstatt über Abriss und Neubau nachzudenken, müsse man zusammen mit der Bevölkerung an der Bausubstanz und der Infrastruktur ihrer Stadt arbeiten.

    Angélil: "Wenn wir zum Beispiel von Slum-Upgrading-Programmen sprechen, heißt das für mich nicht, dass man die Slums einfach wegradieren soll, sondern dass man mit der lokalen Bevölkerung, mit den lokalen Behörden Strategien entwickelt, wie man diese Slums schrittweise weiterentwickeln kann, ohne die Menschen in die Vorstädte zu schicken, in Betonbauten, die ab der Maschine angefertigt worden sind und die weltweit gleich aussehen."

    Während eines Forschungsprojekts auf dem afrikanischen Kontinent hat Marc Angélil festgestellt, dass für viele Regierungen Städte wie Dubai Modellcharakter für die Zukunft besitzen. Für ihn eine erschreckende Zukunftsvision. Denn wirklich leben können in Dubai nur 20 Prozent der Bevölkerung, nämlich die reichen Emiratis selber. Die restlichen 80 Prozent der Menschen leben als Sklaven dieser Herren in unvorstellbar primitiven Unterkünften ein Schattendasein.

    Angélil: "Die Arbeiter kommen aus Indien, aus den Philippinen, aus gewissen afrikanischen Ländern und sind zunehmend auch aus arabischen Ländern, um dort Arbeit zu finden. Das heißt, damit fanden wir die Brücke zu unserer Slumforschung in Afrika. Die Menschen, die in den Slums leben, haben keine Arbeit, gehen dann nach Dubai, um dort für einige Jahre zu einem miserablen Gehalt ihren Lebensunterhalt zu verdienen."

    Dementsprechend gibt es in der Metropole Dubai keine Urbanität und keinerlei kulturelle Vielfalt.

    Angélil: "Das ist der American way of live, der von den arabischen Emiraten aufgenommen wurde als Maßstab, wie man dieses neue städtische Leben zu gestalten hat. Das heißt, wir treffen auf McDonald’s, wir treffen auf Gated Communities, suburbane Siedlungen, die abgeschottet sind, auf Shopping-Malls, endlos, endlos viele Shopping-Malls in der Dubai-Region. Aber nicht für die Mittelschicht, sondern für die monetäre Elite, die sich diesen Luxus leisten kann."

    Urbanisierung wird eines der großen Themen der Zukunft sein, hier werden Lösungen gefunden werden müssen für entscheidende Probleme wie Nachhaltigkeit, Energie-, Wasserversorgung, Bildung. Große Städte waren schon immer Labore der Zukunft, sagt der Stadtforscher Joachim Thiel von der HafenCity Universität Hamburg, der die Reihe mitkonzipiert hat.

    Thiel: "Nehmen wir das Thema Klimawandel. Die Tatsache, dass man mit metropolitanen Siedlungsstrukturen Energie und Verkehr und so weiter sparen kann, wenn man sie richtig organisiert, das spricht dafür, dass der Schlüssel zur Lösung des Klimaproblems in den Metropolen liegt."

    Auch wenn Deutschland keine wirklichen Global oder Megacities besitzt - auch hier werden manche Probleme nur in Berlin, München, Hamburg oder im Ruhrgebiet gelöst werden können, prophezeit Joachim Thiel. Beispiel: Die zurückgehende Bevölkerung wird nur durch Migration aufzufangen sein.

    Thiel: "Die einzigen Räume, in denen des Thema Zuwanderung und Integration gelöst werden kann, werden Metropolen sein. Es waren auch immer Metropolen. Metropolen waren immer die Räume, die für die Zuwanderung konstitutiv waren, die von Zuwanderung gelebt haben - und die deswegen auch mit Zuwanderung umgehen können."

    Bislang wird allerdings in unseren Metropolen seit Jahrzehnten negiert, dass wir ein Einwanderungsland sind, moniert Dieter Läpple. Der Stadtökonom an der HafenCity Universität betreut derzeit ein Projekt in Hamburg-Wilhelmsburg. Zwischen 20-stöckigen grauen Betonbauten und unbegrünten Plätzen will er zusammen mit der Bevölkerung an der zukünftigen Entwicklung ihres Stadtteils arbeiten. Hier leben über 40 Nationen auf 28 Quadratkilometern zusammen.

    Läpple: "Dass wir in diesem Stadtquartier, was die jüngste Bevölkerung von Hamburg hat, eine wachsende Bevölkerung hat, gleichzeitig die Situation haben, dass wir die meisten Schulabbrecher haben, dass 30 Prozent der Jugendlichen keinen Hauptschulabschluss haben und damit nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden kann. Und wir ständig eine verlorene Generation immer wieder produzieren."

    Zwar ist das Hamburger Quartier nicht mit den Slums der Megacities vergleichbar, dennoch gibt es auch hier genug Probleme, die stellvertretend für die Metropolen der Welt betrachtet werden können.

    Läpple: "Wir sehen auch, dass gerade die Arbeitsmärkte für hochwertige wissens- und kulturbasierte Dienstleistungen die Hauptmagnete sind für neue städtische Dynamik. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass in diesem Bereich eben nur ein Teil der städtischen Bevölkerung ihre Arbeit findet. Und wir dürfen uns nicht blenden lassen durch diesen Bereich der Kreativökonomie oder der Wissensökonomie, sondern müssen auch klar im Auge haben, dass wahrscheinlich noch die Mehrheit der Bevölkerung noch außerhalb dieser Dienstleistungsökonomie lebt. Insofern müssen unsere städtischen Strategien auch ausgerichtet sein, dass wir ausreichende niedrigschwellige Arbeitsangebote haben, wo Leute integriert werden können, die eben kein Abitur, keine Hochschulbildung haben, in diese neue Form der Ökonomie."

    Eine Metropole, fügt Dieter Läpple hinzu, ist heute eben nicht mehr der Mittelpunkt eines Weltreichs oder eines Wirtschaftsblocks, sondern der Ort, an dem sich die vielfältigen Beziehungen der Welt widerspiegeln.

    Läpple: "Das Entscheidende wäre für mich, die Metropole wäre der Ort, wo wir Zugang finden zu den vielfältigen Kulturen der Welt. Und ein Ort, in dem man Zugang findet zu dem Weltwissen, zu den vielfältigen Weltkulturen und den vielfältigen Institutionen der Welt. Und das wär auch ne Voraussetzung, die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit als Chance und Ressource nutzt, um sich damit auch als Ort des Weltwissens profilieren zu können."