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Michael Ewert: Blinde Flecken. Auschwitz und die Verherrlichung des Mechanischen

Die sozialpsychologischen Voraussetzungen für den Massenmord an den Juden sind bis heute Gegenstand politischer Kontroversen. Je weiter die Zeit des Geschehens zurückliegt, desto leichter wird es, diese geschichtliche Epoche abzuspalten, die Taten einzelnen ins monströse überzeichneten Personen und Gruppen anzulasten. Schon die Sprache ist verräterisch: Da marschiert Hitler in der Sowjetunion ein, und die SS mordet in Auschwitz. Dass es 'so weiter' gehe, sei die Katastrophe, schrieb einst Walter Benjamin, die Katastrophe sei nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. Die Bedingungen von Aggressivität und Destruktivität, so schreibt Michael Ewert in seinem Buch 'Blinde Flecken', werden in Deutschland nach wie vor einfach verdrängt. Stattdessen Betroffenheitsrituale, wenn es um die Opfer des Nationalsozialismus geht. Man müsse die blinden Flecken ausfindig machen, die das Ausmaß der Verantwortung Einzelner verdecken. Ob Ewert das gelungen ist , weiß Lothar Baier, der sein Buch gelesen hat:

Lothar Baier | 24.09.2001
    Wer mit dem Lauf der Dinge nicht zufrieden ist, wird in Michael Ewerts Buch viel Stoff finden, der der Unzufriedenheit willkommenes Unterfutter verschafft. Das beginnt mit der Kritik der deutschen Verkehrspolitik, die für den Ausbau von Flughäfen und Hochgeschwindigkeitstrassen gewaltige Summen lockermacht, den öffentlichen Nahverkehr, neben der Binnenschifffahrt, dafür verkommen lässt und überall das ressourcenverschleudernde Auto favorisiert. Und das endet noch nicht mit dem Befremden über einen öffentlichen Sprachgebrauch, dessen Durchsetzung mit technizistischen Formeln für den Autor die Auslieferung der Menschen an die Übermacht des Ökonomischen spiegelt. Aus dem Bereich der Psychiatrie wie aus dem der Rüstungspolitik hat Ewert zahlreiche, oft in Fußnoten verpackte Nachrichten und Materialien zusammengetragen, die von einem Weltzustand berichten, der sich durch die weiterwachsende Vorherrschaft des Technisch-Ökonomischen vor den Interessen der Individuen und Gesellschaften auszeichnet. Einer der mit Vorliebe zitierten Gewährsleute des Autors ist Noam Chomsky, der anarchistische amerikanische Linguist, der unermüdlich in zahllosen Büchern Irreführungen der Weltöffentlichkeit durch von der US-amerikanischen Administration ins Werk gesetzte Manipulationen der Meinung nachzuweisen versucht. Was das alles mit Auschwitz zu tun hat, wie der Untertitel "Auschwitz und die Verherrlichung des Mechanischen" verheißt, vermag der Autor nicht immer schlüssig zu zeigen. Manchmal scheint er von der Fülle des zusammengetragenen Materials derart überwältigt zu sein, dass er darüber sein Vorhaben aus den Augen verliert, den mit dem Symbolnamen Auschwitz bezeichneten Prozess der Vernichtung interpretierend in einen Zusammenhang mit dem benannten universellen Prozess der technisch-ökonomischen Rationalisierung zu bringen. Oder der Zusammenhang wird lediglich rhetorisch erzwungen, etwa im Fall der Kritik an verfehlter Verkehrspolitik:

    Diese Entwicklung erfolgt wie die Judenverfolgung Schritt für Schritt entsprechend charakterlicher Dispositionen und selbst produzierter Sachzwänge.

    In dem für sich rätselhaften Satz verbirgt sich in äußerst verkürzter Form die Spannung zwischen zwei entgegengesetzten Polen der Auschwitz-Deutung, die Ewert miteinander vermitteln will. "Charakterliche Disposition", das bezieht sich auf historisierende Völkerpsychologie, die zuletzt Daniel Goldhagen in seinem Bestseller "Hitlers willige Vollstrecker" in der modern-zeitgenössischen Einkleidung durch die Terminologie der "cultural studies" erneut popularisierte. Auschwitz sei demnach als unverwechselbar deutsche Tat in dem Sinn zu betrachten, als eine seit der Renaissance vom europäischen Hauptweg abgewichene deutsche Entwicklung die christliche Judenfeindschaft bei den Deutschen kontinuierlich mit dem Gedanken der Vernichtung scharf gemacht hätte. Michael Ewert nimmt solche historisierende Völkerpsychologie zwar nicht ganz auf seine Kappe, kann sich aber auch nicht verkneifen, bis zum Mittelalter zurückzugehen, wenn er bei der deutschen Täternation die "charakterliche Disposition" zur Autoritätsfixierung historisch-genetisch erklären will. Auf der anderen Seite jedoch präsentiert sich Ewert unter Rückgriff auf Marx als historischer Materialist, der die Ausbildung bestimmter deutscher Charakterzüge nicht als Ursache, sondern als national eingefärbte Folgeerscheinung zivilisatorischer Prozesse begreift.

    Bis heute, schreibt er, ohne zu präzisieren, wo und vom wem, werden Opfer nur als Juden wahrgenommen und Juden als Opfer, denn alle Empfindung ist dem Fetisch von Leistung und Profit untergeordnet. Man kann mit Auschwitz nicht umgehen, nicht weil man gleichgültig gegenüber Juden wäre, sondern weil man überhaupt gleichgültig ist. Verantwortung und Mitgefühl zu empfinden gegenüber Menschen, die von einem Verbrechen, einem Unfall oder auch, allgemeiner, anonymen Zwängen gesellschaftlicher Mechanismen (wie Entlassung, Verarmung, Vereinsamung) getroffen wurden.

    Gleichgültigkeit, wer könnte dem Autor hier begründet widersprechen, bestimmt in unseren Gesellschaften mehr als alles andere die zwischenmenschlichen Verhältnisse: wird ihr ein Feiertagsaufzug angelegt, trägt sie sie gelegentlich auch die festliche Aufschrift "Toleranz". Selbst Veranstaltungen der Erinnerung an die Ermordung der Juden sind bei aller zur Schau getragenen Betroffenheit von Indifferenz geprägt, was das Gedenken ungewollt wiederum an die Tat zurückkoppelt. Denn Gleichgültigkeit, nicht pathologischer Fanatismus, stellen viele Untersuchungen im Kontrast zur gängigen Meinung fest, war die vorherrschende Disposition, die Nazitäter in die Lage versetzte, effektiv ihre Mordarbeit zu verrichten, die selbst den Anstrich einer Zwischenstufe in einem mechanischen, von niemandem persönlich zu steuernden und zu verantwortenden Ablauf erhalten hatte. Diesen, technisch bestimmten und bestimmenden Aspekt der, wie es beim Autor heißt, "Verherrlichung des Mechanischen", mit der Geschichte deutscher politischer Mentalitäten überzeugend zu vermitteln, gelingt Michael Ewert allerdings nicht. Statt in der Spur seiner Fragestellung zu bleiben, weicht der Autor in alle möglichen Richtungen aus, verzettelt sich in der Auseinandersetzung mit anderen Autoren, deren Dringlichkeit oft wenig einleuchtet. "Revisionisten" geistern häufig durch die Sätze, doch wer damit gemeint ist, eher Historiker vom rechten Rand wie Ernst Nolte oder psychoanalytische Einzelgänger wie Erich Fromm, weiß man nicht genau. Fromm hat es dem Autor besonders angetan, was völlig in Ordnung wäre, ginge der Ausdruck dieser Wertschätzung nicht mit wenig einleuchtenden und auch wenig qualifizierten Angriffen auf mit Fromm hadernde Denker der Kritischen Theorie, Adorno und Marcuse vor allem, einher. Das Buch "Blinde Flecken" hinterlässt somit den unbefriedigenden Eindruck einer Arbeit, deren Autor die Leser im Unklaren darüber lässt, worauf es ihm mehr ankommt: auf die Erhellung des gemeinhin verleugneten Zusammenhangs zwischen technischer Rationalität und dem Irrsinn des Verbrechens oder auf das Herrichten eines auffallenden Plätzchens in der gegenwärtigen Diskussionslandschaft.

    Lothar Baier besprach: Michael Ewert: Blinde Flecken; Auschwitz und die Verherrlichung des Mechanischen, erschienen in der Edition Nautilus. Das Buch hat 250 Seiten und kostet 38 Mark.