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Michael Frayn: "Demokratie"

Die Briten haben eine Königin, William Shakespeare und das Mehrheitswahlrecht. Die Deutschen haben Johannes Rau, Friedrich Schiller und die Verhältniswahl. Königin sticht Rau, Shakespeare sticht Schiller und Mehrheitswahl sticht Proporzregelung. Alles in allem sieht es nicht so aus, als müssten die Briten den Deutschen etwas neiden. Denn ob auf der Bühne – Macbeth! – oder in der praktischen Politik – Thatcher, Blair! –, Machtwechsel verlaufen in Großbritannien stets klar und unzweideutig, während das verschwiemelte Koalitionssystem deutscher Prägung dem klassischen Ideendrama gleicht: viele Ränke, triefende Moral, ein entschiedenes Sowohl-als-auch, und Machtausübung findet nur hinter verlogener Phraseologie allgemeiner Wohltätigkeit statt. Die eine, altehrwürdige Demokratie ist auf Funktionalität ausgerichtet, die andere, blutjunge auf größtmögliche Partizipation; das macht sie so schwer steuerbar und verführt ihre Repräsentanten zu verlogener Doppelzüngigkeit.

Von Florian Felix Weyh |
    Warum also schreibt ausgerechnet ein Brite über Willy Brandt, nennt das Stück dann aber nicht etwa »Willy Willy!« oder »Kanzler und Spion«, sondern betitelt es hoch programmatisch und nicht weniger problematisch mit »Demokratie«? Aus britischer Sicht mag das, was sich zwischen 1969 und 73 auf deutschem Boden zutrug, ein Lehrstück der anderen, fremdartigen und komplizierten Demokratie gewesen sein, mit knappen Mehrheitsverhältnissen, schwieriger Koalition, Misstrauensvotum, bezahlten Überläufern, intriganter und zerstrittener Führungsspitze. Aus deutscher Sicht ist es nur ein sentimentaler Rückblick auf jene Zeit, da die SPD noch eine Identität besaß – und jemanden, der sie verkörperte. Dass die Heiligenbilder von Willy Brandt so ganz nicht stimmen, weiß man schon seit Jahren, aber Michael Frayn taucht den großen Alten bei aller Zerrissenheit zwischen Idealismus und Machtpolitik in ebenso mildes Licht, wie es schon der TV-Zweiteiler »Im Schatten der Macht« von Oliver Storz vergangenes Jahr tat. Der boulevardgeschulte britische Stückeschreiber versucht dabei allerdings etwas ziemlich Unmögliches, nämlich die staubtrockene Dokumentartheaterdramaturgie deutscher Provenienz mit britischem Witz anzufüttern. In der Praxis erzählt sich dann die Herrenrunde um den Kanzler Kommunistenwitze, und Herbert Wehner kann in historisch überlieferter Manier herumgranteln und Sarkasmen von sich geben.

    Ein Theaterstück, gar eine Komödie? Nein, eine dialogisch aufbereitete Geschichtslektion ohne jeden szenischen Einfall. Weil derartige Stoffe am Dilemma kranken, den historischen Kontext zum Bühnengeschehen mitliefern zu müssen, greift der Autor im Beiseitesprechen auf eine ausgestorbene Theaterkonvention zurück. Unentwegt steigen die Hauptfiguren aus ihren Rollen aus und kommentieren ihr nicht vorhandenes Handeln, ihr inexistentes Innenleben, besonders exzessiv der Bühnen-Guillaume und sein Agentenführer Arno Kretschmann, gespielt vom Berliner Tatort-Star Boris Aljinović. Insgesamt jedoch ein kärgliches Rollenfutter. Den zu Informationsautomaten degradierten Schauspielern verbleibt wenig Spielraum. Sie können immer nur so unterhaltsam sein, wie es ihre historischen Vorbilder waren, bei Helmut Schmidt ist da so wenig zu holen wie bei Hans Dietrich Genscher. Nur Michael Hanemann trifft mit der Rolle des Wehner ein halbwegs passables Schicksal, das ihm reichlich Möglichkeiten zum Chargieren bietet. Der Pfeife nuckelnde Menschenfeind ist die einzige bühnentaugliche Figur, während sich Peter Striebecks Brandt auf wortkarge, charismatische Präsenz beschränkt, und Tilo Nest die schizophrene Situation des Schattenmanns Guillaume nur in Ansätzen vermitteln kann, nämlich in seiner devoten Grundhaltung. Was in diesem Intimitätserschleicher und -verräter wirklich vor sich gegangen ist, weiß bis heute niemand. Dankenswerterweise verzichtet Regisseur Felix Prader darauf, seine Darsteller zu Stimmenimitatoren zu machen, nicht einmal Peter Striebeck ahmt den vertrauten Brandt-Sound nach. Aber das ist auch schon das Beste, was man über die Spielleitung sagen kann, die hier aus reiner Auf- und Abtrittsplanung besteht. Die wenigen Momente des intimen Zwiegesprächs zwischen Brandt und Guillaume verpuffen im lediglich bestuhlten, ansonsten leeren Bühnenraum. Zwischen Männern dieser Generation gibt es einfach nichts zu sagen, und Frauen sind nicht zugelassen. Aber so ist das ja in einer Demokratie. Oder etwa nicht?