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Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten

Lange, lange ist es her, dass Auseinandersetzungen um soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit die Gemüter erhitzten. In Zeiten globalisierter Weltmärkte zählen allein die Eliten und deren Förderung. Dass es mit diesen sogenannten Eliten nicht zum Besten bestellt ist, wird durchaus eingeräumt, aber dass dies auch mit der Rekrutierung dieser Eliten zu tun haben könnte, kommt nur wenigen in den Sinn. Davon handelt der Band, den Ihnen nun Frank J. Heinemann vorstellt.

Frank J. Heinemann | 21.10.2002
    Sind Schlagertexter klüger als Soziologen? Ja, könnte man sagen beim Blick zurück auf die fünfziger Jahre. Der Soziologe Helmut Schelsky sah in der jungen Bundesrepublik eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft". Peter Alexander aber trällerte realitätssicher im Duett mit einer Kinderstimme: "Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere, doch weil wir beide klein sind, erreichen wir sie nie." Es waren jene Jahre, die die Jugend von zwei "großen Tieren" der Politik prägten, die vor vier Wochen die Stimmen der vielen Kleinen haben wollten: Gerhard Schröder und Edmund Stoiber stellen ihre Herkunft von "unten" gern aus. Zwei studierte Herren, die einen kollektiven Wunschtraum zu verkörpern scheinen: "Kannste was, wirste was". Ihn versucht das Buch eines in Darmstadt lehrenden fünfzigjährigen Soziologen, ausgewiesen als Experte in Sachen Berufssoziologie, zu demontieren.

    Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft.

    Eliteforschung gehört zu einer funktionierenden Demokratie, jedenfalls wenn sie über sich selbst Bescheid wissen will. Komplexe moderne Gesellschaften brauchen Eliten, doch unter der Vorraussetzung, dass Spitzenfunktionen prinzipiell für jeden Begabten zugänglich sind. Michael Hartmann zitiert Ralf Dahrendorf, der schon vor 40 Jahren zur Erforschung der "Führungsgruppen" aufrief. Doch bis heute, das macht Hartmann klar, blieb die Herkunft der deutschen Eliten ein vernachlässigtes Forschungsobjekt.

    Nach 1945 war schon der Begriff "Elite" tabu, war er doch mit der Erinnerung an die Herrenmenschen in den schwarzen Uniformen verbunden. Später kamen die 68er, die aus anderen Gründen nichts von Elite wissen wollten. Vereinzelt begannen einige Soziologen immerhin über die Funktion von Eliten nachzudenken. Der Begriff "Funktionselite" wurde kreiert. Die Begriffsbildung ging einher mit der emsigen Erforschung von Bildungsbarrieren für die unteren sozialen Schichten. Hartmann arbeitet präzise die Beschränktheit dieser Forschung heraus. Nahm sie doch an, je mehr es gelänge, Bildungsbarrieren abzubauen, desto stärker würde auch die Ungleichheit sozialer Aufstiegschancen korrigiert. Angesichts einer unzweifelhaft stattfindenden Bildungsexpansion werde es mit der Chancengerechtigkeit sozusagen von Studentenjahrgang zu Studentenjahrgang immer besser und besser. Hartmann hält das für soziologische Gesundbeterei. Sein Forschungsprojekt beruht auf einer sehr einfachen Überlegung:

    Ein Arbeitersohn, der voller Fleiß und unter großen Anstrengungen den Doktortitel erworben hat, sollte, wenn die Leistung tatsächlich ausschlaggebend ist, die gleichen Karriereaussichten haben wie sein Kommilitone, der aus einer bürgerlichen Familie kommt.

    Hartmann ist kein Soziologe, der vor lauter Details das Forschungsobjekt Gesellschaft vergisst, andererseits inszeniert er sich nicht als über den Einzelheiten schwebender Sozialphilosoph. Das macht Reiz und Nutzen des Buches aus. Die kritische Einstellung des Autors zur funktionalistischen Elitetheorie, deren Vertreter auf nur erhoffte, aber nicht erforschte Effekte der Bildungsexpansion vertrauen, führte zu einem bisher nur von ihm praktizierten Forschungsansatz: Aus den rund 50.000 zwischen 1950 und 1985 promovierten Studenten der Rechts-, Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaften wurden vier Promotions-Jahrgänge herausgegriffen: 1955, 65, 75 und 85. Vier so genannte Kohorten mit insgesamt 6.500 Promovierten. Die ihren Dissertationen beigefügten Lebensläufe lieferten persönliche Daten, vor allem zur sozialen Herkunft. Welche Karriere die Doktoren gemacht haben, wurde in einschlägigen Handbüchern überprüft. Die Kohorten von 75 und 85 waren im Gegensatz zu 55 und 65 von der Bildungsexpansion erfasst. Träfe also die These zu, dass der Abbau von Bildungsbarrieren die Elitebildung günstig beeinflusst, so müssten aus den letzten beiden Jahrgängen mehr Kinder aus den Unter- und Mittelschichten in Spitzenpositionen gelangt sein. Das ist aber ausgerechnet beim Jahrgang 65 der Fall, also bei von der Bildungsexpansion nicht Betroffenen. Ursache dafür, so Hartmann, war die Hochkonjunktur Ende der sechziger Jahre. Sie brachte mehr Promovierte aus unteren Schichten in höhere Positionen. Jahrgang 75 aber - von der Bildungsexpansion betroffen - traf auf eine schlechte Konjunktur, und prompt drängten die Sprösslinge aus dem Bürgertum die Kinder der unteren Schichten beiseite. Auch beim Jahrgang 85 kann Hartmann keine signifikante Öffnung von Elitepositionen feststellen. Im Mittelpunkt der Studie steht die Wirtschaft, denn sie bestimmt, meint Hartmann, über die Gesellschaft und propagiert unablässig den Leistungsmythos:

    Diese Ideologie wird vor allem in den Top-Etagen der Wirtschaft gepflegt. Im Unterschied zur Politik, wo überall gekungelt, geschoben und protegiert werde, Leistung nicht wirklich ausschlaggebend sei, könne man in den Unternehmen nur mit Leistung an die Spitze kommen, so lautet das Credo der meisten Top-Manager.

    Hartmanns Zahlen sprechen freilich eine andere Sprache:

    Von den Promovierten aus der Arbeiterklasse und den Mittelschichten hat es nur ungefähr jeder Elfte bis in die Chefetagen geschafft. Bei einer sozialen Herkunft aus dem gehobenen Bürgertum jeder Achte Und wer aus dem Großbürgertum stammt, hat bereits eine Chance von eins zu vier.

    Untersucht werden übrigens nur Karrieren von Männern. Quantité négligable: Ganze 182 Doktorinnen in den vier Jahrgängen, nur drei erreichten eine Spitzenposition in der Wirtschaft. Hartmanns Fußnote:

    Sie haben es allerdings nur geschafft, indem sie den väterlichen Betrieb übernommen haben.

    In den Führungsetagen der Wirtschaft ist man gern unter seinesgleichen. Habitus geht laut Hartmann oft vor Leistung. Bewerber aus der Oberschicht werden bevorzugt, weil sie, geprägt von den Codes ihrer Schicht, die quasi natürliche Selbstsicherheit haben, die sich Sprösslinge der unteren Schichten nur schwer zulegen können. Erheblich bessere Chancen haben die Kinder "kleiner Leute" nur bei den Unternehmen der öffentlichen Hand. Hier macht sich der Einfluss der Politik bemerkbar. Der Auswahl-Mechanismus sei dem der Privatwirtschaft geradezu entgegengesetzt, meint Hartmann. Ähnliches gilt für den Bereich Politik selbst. Die sozialen Aufsteiger Schröder und Stoiber sind hier also keine Ausnahmeerscheinung. Bei SPD und CDU begünstigen mehrere Faktoren eine sozial ausgewogenere Auswahl: die so genannte Ochsentour, die im Ortsverein beginnt, der sich von oben nicht reinreden lässt; schließlich die Skepsis der Mitglieder gegen Oberschichtkandidaten. Geringere Exklusivität stellt Hartmann auch in den Bereichen Wissenschaft und Justiz fest, an den Hochschulen sogar eine Tendenz zur "Verkleinbürgerlichung". Auf jeden Fall seien die Berufungsverfahren relativ demokratisch, Leistung gehe hier am ehesten vor Herkunft. Was allerdings Leistung bei Hochschullehrern ist oder sein sollte, diskutiert Professor Hartmann nicht, ebenso wenig wie Proporz und Klüngelei bei öffentlichen Unternehmen. Bei der Justiz, traditionell von Beamtenmentalität geprägt, hatten lange Zeit gerade Kinder mittlerer Beamter gute Chancen, zumal Juristen aus den Oberschichten in die Wirtschaft gingen. Doch bei schlechterer Konjunktur streben auch sie in die Justiz, wie sich beim Jahrgang 75 zeigte. Hartmann sieht hier – und neuerdings auch in den Hochschulen – einen Trend zur "Verdrängung von oben nach unten".

    Den Drang der Oberschicht zu Wirtschaftsexamen im Ausland, beispielsweise an der Harvard Business School, konnte Hartmann noch nicht berücksichtigen. Aus einem internationalen Vergleich, den er zieht, wird immerhin klar, wonach die Oberschicht neuerdings im Ausland sucht: nach einer Exklusivität wie sie die "Grandes Ecoles" in Frankreich und teilweise auch noch Oxford und Cambridge bieten. Gesucht werden Zertifikate, die Karriere garantieren, auch wenn es viel kostet. Das Ideal einer offenen Gesellschaft mit Eliten, die sich ständig erneuern und vitalisieren, weil sie jedem Begabten zugänglich sind, ist in Gefahr, endgültig zum schönen Schein zu verkommen. Hartmanns Buch ist ein deutliches Warnzeichen.