"Der Einsatz der Bundeswehr im Kosovo, die Berufung auf "Auschwitz" zu seiner Rechtfertigung und das insgesamt positive Echo der internationalen Gemeinschaft auf das deutsche Engagement im Verbund mit der Nato deuten an, wie sehr die "Lehre aus der Geschichte" für die Deutschen sich gewandelt hat. Der "deutsche Sonderweg", der in der Bundesrepublik eine so zentrale und normative Rolle im politischen und historischen Selbstverständnis spielte, löste sich plötzlich in nichts auf. Und das ist nur eines von vielen Anzeichen dafür, dass die Zeit der "alten" Bundesrepublik abgelaufen ist."
In dieser "alten" Bundesrepublik sei es stets der Nationalsozialismus gewesen, der politische Orientierung möglich gemacht habe: Als es etwa um den Gesellschaftsvertrag der Achtundsechziger gegangen sei, oder um die Fragen nach Patriotismus, Verfassung und Nation, nach Gewalt oder Fremdenfeindlichkeit. An dieser Vergangenheit sei stets bemessen worden, was als Bedrohung oder Verführung empfunden wurde. Dabei erstarrten nach Jeismanns Beobachtung Überzeugungen und Anschauungen allzu gerne zu Dogmen, etwa im Gefolge des Historikerstreits von 1986. Das Argument von der "Unvergleichbarkeit" des Holocaust ist für Jeismann ein drastisches Beispiel für solche sinnentleerte Formeln:
"Indem man versicherte, die deutschen Verbrechen seien einzigartig, bestätigte man sich selbst: Man stand auf der richtigen Seite, hatte aus der deutschen Geschichte gelernt. Diese Wendung des Arguments ist nur noch aus der damaligen Streitsituation zu verstehen. Denn selbstverständlich ist es möglich, Formen des Genozids zu vergleichen, ohne dadurch den einzelnen Fall herunterzuspielen. Heute ist eine Genozid-Forschung ohne Vergleich gar nicht denkbar."
Es habe sich eben vieles verändert. Auch hinsichtlich der Indienstnahme des Holocaust für die politische Bildung. Zunehmend schlügen dem Staat heute schrille Töne des Überdrusses an einer solchen politischer Pädagogik entgegen, glaubt Michael Jeisman - Martin Walser sei dafür nur ein prominentes Beispiel. Anders als noch in den neuziger Jahren werde die persönliche Betroffenheit vielfach abgelehnt. Doch während der gesellschaftliche Umgang mit der NS-Zeit nach Ansicht der Autors von einer gewissenen Sättigung geprägt ist, hat die staatliche Beschäftigung mit dem Thema Konjunktur wie nie zuvor. Der Staat habe - was in der Frühgeschichte der Bundesrepublik noch völlig undenkbar gewesen wäre - den Holocaust längst in seine politische Symbolik integriert:
"Die Vergangenheit ist nicht "entsorgt" worden, wie mancher in den Jahren 1986/87, zu Zeiten des Historikerstreits, argwöhnte. Sie wird versorgt. Die Versorgung stellt die Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in den Mittelpunkt der Staatssymbolik und nutzt diese für die praktische Politik."
Hier knüpft Jeismann an die Thesen Peter Novicks an, der ebenso wie der indes intellektuell anspruchslose Norman Finkelstein zu Beginn des vergangenen Jahres auf die Indienstnahme der Holocaust-Erinnerung durch die Politik hingewiesen hat. Jeismann setzt diese Argumentation fort: Die Ermordung der europäischen Juden sei zu einem historischen Exemplum für eine neuartige, auf Genozid und Rassismus fokussierte internationale Politik geworden. Wenn man so will, bedeutet diese Entwicklung für die deutsche Politik der Gegenwart: Die öffentliche Erinnerung an die NS-Verbrechen gehört zum guten Ton, sie ist im besten Sinne vorzeigbar geworden:
"Das Berliner Holocaust-Denkmal, das Jüdische Museum und die "Topographie des Terrors" sind untergründig auch ein Ensemble hauptstädtischen Stolzes. Deshalb sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder unwillkürlich, das Holocaust-Denkmal müsse ein Denkmal werden, zu dem man "gerne" gehe. Man hat das Grauen in diesen Orten eingefangen. Es hat seinen Platz zugewiesen bekommen und ist damit visuell in die Ordnung der Dinge eingerückt. Die Bundesrepublik in Berlin lässt sich durch die Vergangenheit nicht erdrücken: Sie macht Geschichte daraus."
Das ist Jeismanns Botschaft: Aus der Vergangenheit ist längst Geschichte geworden; das gilt auch für die uns so vertraute Bundesrepublik. Und diese neue Geschichte eröffnet zugleich eine neue Zukunft - das ist der geschichtstheoretische Angelpunkt seiner Überlegung und sicherlich eine kluge Einladung zur Diskussion. So spricht der Autor viel von Abschied und gar von "Normalisierung" - vor allem aber vom Empfinden, heute in einer sogenannten "neuen Zeit" zu leben. Was diese ausmacht, kann er allerdings nicht recht deutlich machen; die "Politik von morgen", die der Untertitel des Buches verspricht, bleibt ausgeblendet. Das ist sicher die zentrale Schwäche des Buches. Hinzu kommt, dass allzu häufig die Beschreibungen im Ungefähren verbleiben, dass die Argumentation zuweilen einfach zu unruhig ist, dass einzelne Aspekte sich wiederholen. Ohne Frage wären viele Passagen dieser Darstellung für sich genommen reizvolle und kluge Feuilleton-Beiträge - ein gelungenes Buch ist daraus indes nicht geworden.
Michael Jeismann: "Auf Wiedersehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen", erschienen in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart, 214 Seiten, 18 Euro 90.