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Michael Schröter (hrsg.): Briefwechsel 1906-1939. Sigmund Freud und Max Eitingon

Max Eitingon ist heute nur noch denen ein Begriff, die sich mit der Geschichte der Psychoanalyse befasst haben. Dabei gehörte er zu den wichtigen Begründern psychoanalytischer Institutionen. 1881 wurde Max Eitingon als Sohn eines österreichisch-polnischen Pelzhändlers in Galizien geboren und wuchs in Leipzig, dem Zentrum des damaligen Pelzhandels, auf. Die zu dieser Zeit heftig angefeindete Psychoanalyse lernte er durch C.G. Jung im Züricher Hospital Burghölzli kennen. Zu Sigmund Freud nahm er zunächst per Brief Kontakt auf, Ende Januar 1907 traf er den Wiener Begründer der Psychoanalyse dann zum ersten Mal persönlich. Seine Lehranalyse bekam Eitingon auf abendlichen Spaziergängen. Gemeinsam mit Karl Abraham gründete Eitingon die Berliner Psychoanalytische Vereinigung und finanzierte das Psychoanalytische Institut. Er beschäftigte sich intensiv mit der analytischen Ausbildung, leitete die Internationale Unterrichtskommission. Doch alle Verdienste um die Durchsetzung der Psychoanalyse als klinisch anerkannte Therapie halfen dem Juden Eitingon nichts: seinen Vorstandsposten bei der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung nahmen nach 1933 zwei so genannte 'arische’ Kollegen ein. Max Eitingon emigrierte schweren Herzens nach Jerusalem, wo er im Juli 1943 starb. Nun wird erstmals der Briefwechsel zwischen Freud und Eitingon veröffentlicht, der von 1906 bis zum Tode Freuds 1939 dauerte. Und damit wird ein weiterer Einblick in die Frühzeit der psychoanalytischen Bewegung eröffnet.

Von Hans Martin Lohmann |
    Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat nicht nur ein imponierendes wissenschaftliches Werk hinterlassen, sondern auch eine Korrespondenz, die hinsichtlich Umfang und Qualität ihresgleichen suchen dürfte. Wer sich mit Freud und seinem Werk einlässlich befasst, ist gut beraten, seine Briefe als zusätzliche Quelle der Erkenntnis hinzuzuziehen. Nicht, dass Freud als Briefschreiber indiskret gewesen wäre und auf brieflichem Wege "Geheimnisse" enthüllt hätte, die in seinem Werk bloß angedeutet oder ganz verborgen bleiben – das war schon immer der eitle Traum so manchen Freud-Forschers. Vielmehr ist von Belang, dass Freuds zahlreiche Korrespondenzen mit Freunden, Schülern und Familienangehörigen einen Kosmos an sozialem Reichtum offenbaren, welcher dem veröffentlichten wissenschaftlichen Werk notgedrungen abgeht. Denn erst in seinen Briefen zeigt sich der Begründer der Psychoanalyse in den vielfältigsten und buntesten Facetten: als Ehemann und Familienvater, als Schulgründer und -oberhaupt, als Organisator und Finanzfachmann der von ihm gesteuerten psychoanalytischen Bewegung, als Autor und Verleger seines eigenen Werkes, als zuverlässiger Freund und, wenn es sein musste, als unerbittlicher Hasser. Die florierende Freud-Biographik profitiert denn auch ganz erheblich von jeder neu veröffentlichten Korrespondenz.

    Der soeben publizierte Briefwechsel Freuds mit einem seiner ersten Schüler und
    treuesten Wegbegleiter, mit dem Arzt Max Eitingon, erfüllt alle Erwartungen, die man
    gegenüber einer Freud-Korrespondenz hegen mag. Zwar fehlt diesem Briefaustausch das Merkmal anderer Schüler-Korrespondenzen, d.h. die inhaltlich geführte Auseinandersetzung über die von Freud vertretene Sache, die Psychoanalyse. Früh erkannte Freud, dass Eitingon "bloß rezeptiv" und "leider zu unproduktiv" sei, um einen eigenen und originellen Beitrag zur entstehenden Wissenschaft vom Unbewussten zu leisten. Anders als etwa Karl Abraham, Sandor Ferenczi, Ernest Jones und Carl Gustav Jung, allesamt begabte und eigenwillige Freud-Schüler, die zumindest zeitweise mit Freuds theoretischem Genie konkurrierten, begnügte sich Eitingon mit der Rolle des uneigennützigen Helfers im Hintergrund – eine Rolle, die ihm umso mehr auf den Leib geschrieben zu sein schien, als seine glänzenden privaten Vermögensverhältnisse es ihm gestatteten, das Freudsche Unternehmen finanziell großzügig zu fördern. Eitingon war also gleichsam der erste "Sponsor" der Psychoanalyse bei gleichzeitigem Verzicht auf jedwede intellektuelle Ambition in der Sache selbst.

    Aber dieses Manko macht die Lektüre des Briefwechsels zugleich auch interessant.
    Mehr als aus anderen Freud-Korrespondenzen erfährt man hier nämlich, wie Freud im Verein mit Eitingon die von ihm initiierte Bewegung materiell und ideell steuerte, wie er Konflikte moderierte und entschied, wie er personal- und organisationspolitische Fragen regelte, und nicht zuletzt, wie er das stets prekäre finanzielle Überleben des Internationalen Psychoanalytischen Verlags sicherte. Wenn man so will, kann man die Korrespondenz zwischen Freud und Eitingon auch als bedeutendes organisationssoziologisches und -psychologisches Dokument lesen, das aufschlussreiche Einblicke in die politische Frühgeschichte der Psychoanalyse gewährt.

    Nachdem Freud im Jahre 1906 den 25 Jahre jüngeren Eitingon kennen gelernt hatte, entwickelte sich aus dem anfänglichen Schüler-Lehrer-Verhältnis im Laufe der Zeit eine Freundschaft, die äußerst belastbar war und bis zu Freuds Tod in der Londoner Emigration halten sollte. Indem sich der Jüngere dem Älteren bedingungslos unterordnete und dessen überlegenen Geist anerkannte, bereitete er den Weg dafür, dass Freud ihn mehr und mehr zu einem seiner engsten Vertrauten und Mitarbeiter machte – Eitingon wurde, wie der Herausgeber Michael Schröter schreibt, zum "Mann des Apparats" schlechthin, der als Sprachrohr Freuds dessen Direktiven ohne Wenn und Aber in die Tat umsetzte. Wie weit die Intimität zwischen den beiden Männern gedieh, dokumentiert der Briefwechsel. Am 21. Januar 1922 schreibt Eitingon:

    Ihnen so nahe zu bleiben, wie mir in den letzten Jahren in wachsendem Maße vergönnt war, so nahe bleiben zu dürfen, war einer der wenigen Wünsche für mich selbst, mit denen ich in das neue Jahr eintrat, wenn man als Wunsch noch bezeichnen kann, was einfach Lebensnotwendigkeit ist und bei mir nicht anders denkbar.

    Auf diese rückhaltlose Eröffnung antwortet der Umworbene drei Tage später:

    Durch viele Jahre merkte ich Ihr Bestreben, mir näher zu kommen, und hielt Sie ferne. Erst als Sie das herzliche Wort gefunden hatten, Sie wollten zu meiner Familie – im engeren Sinn – gehören, überließ ich mich dem leichten Vertrauen früherer Lebensjahre, nahm Sie an und habe mir seither von Ihnen jede Art von Hilfe erweisen lassen, Ihnen jede Art von Leistung auferlegt...Demnach schlage ich Ihnen vor, unser bisheriges von der Freundschaft zur Sohnschaft gestrecktes Verhältnis noch über jenen Zeitraum, der bis zu meinem Lebensende verlaufen mag, aufrecht zu erhalten.

    Zu der von Freud erwähnten Hilfe, die ihm der Jüngere angedeihen ließ, zählten notabene auch sehr profane Dinge. In der schlimmsten Wiener Nachkriegsnot versorgte der vermögende Eitingon die Familie Freud nicht nur mit Geld und Lebensmitteln, sondern auch Freud selbst mit Zigarren, auf welche dieser nie verzichten mochte. Eitingons vorbehaltlose Sorge und Loyalität vergalt Freud wiederum mit einem Vertrauen, das sich in keiner anderen Korrespondenz findet: Sein Leiden an den Folgen der Krebsoperation im Jahre 1923 wird in Freuds Briefen an Eitingon ausführlicher als anderswo thematisiert.

    Eitingon stand immer bereit, wenn es galt, die übergeordneten Interessen Freuds an der Erhaltung und Durchsetzung der Psychoanalyse mit der gebotenen Eindeutigkeit zu vertreten. Im Konflikt mit dem abtrünnigen Schüler Otto Rank trat er ebenso entschieden auf die Seite Freuds wie im Streit um die so genannte "Laienanalyse", in dem die US-Amerikaner versuchten, Nicht-Ärzte von der psychoanalytischen Ausbildung fernzuhalten, während Freud gerade daran gelegen war, "Laien" im Sinne von Nicht-Ärzten ins psychoanalytische Boot zu holen. Während aber Freud in diesem Konflikt eine Spaltung der psychoanalytischen Bewegung durchaus in Betracht zog, sorgte Eitingon mit seinen diplomatischen Fähigkeiten dafür, dass eine Spaltung vermieden und eine wenigstens vorläufige Einigung erzielt werden konnte. Der Herausgeber weist zurecht darauf hin, dass es letztlich die deutsche Katastrophe von 1933, der Aufstieg Hitlers zur Macht, war, der eine endgültige Spaltung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung verhinderte.

    Ein spezielles Augenmerk Freuds, und damit Eitingons, galt dem Schicksal seiner Bücher und Zeitschriften und dem Anfang 1919 gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Verlag, einem chronisch defizitären Unternehmen, das nicht zuletzt dank diverser Geldspritzen Eitingons und seines kaufmännischen Geschicks recht und schlecht über die Runden kam. Schon die Psychoanalyse-Historikerin Ilse Grubrich-Simitis hat vor Jahren darauf hingewiesen, mit welcher Leidenschaft und mit welch beträchtlichem verlegerischem Sachverstand Freud die publizistische Verbreitung seines Werkes betrieb – Freud schrieb nicht für die Schublade und die Nachwelt, vielmehr mit der Absicht, geradenwegs und unverzüglich zu veröffentlichen. Aus dem Briefwechsel mit Eitingon wird gut ersichtlich, dass Freud seine strategischen Interessen – Durchsetzung und Erhaltung der "reinen Lehre" der Psychoanalyse – am ehesten mit seinem wissenschaftlichen Werk verband. So heißt es in einem Brief vom 3. Dezember 1922:

    ...der Verlag scheint mir das wichtigste Organ unserer Bewegung, lebenswichtiger sogar als die Polikliniken,

    deren bedeutendste Eitingon nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin gegründet hatte.
    Und drei Jahre später schreibt Freud im Hinblick auf den Verlag an Eitingon:

    Es ist mir eine große Beruhigung zu wissen, dass Sie über diese wichtige Institution unserer Sache sorgsam wachen werden...

    Kurzum, Eitingon war der Mann, auf den Freud sich in allen Fällen hundertprozentig verlassen konnte – gerade deshalb, weil Eitingon keinen eigenen Ambitionen nachjagte und sich Freuds Willen ohne Vorbehalt zum Befehl machte.

    Wie so viele Juden und Psychoanalytiker ging auch Eitingon 1933 in die Emigration. Aus der Ferne musste er noch erleben, wie die von seinem Vater gestiftete Synagoge in Leipzig zerstört wurde. Knapp vier Jahre nach Freud starb Eitingon in Jerusalem. Er liegt auf dem Ölberg begraben.
    Ein gewaltiges Werk wie den über 800 Korrespondenzstücke umfassenden Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Max Eitingon kann man nur angemessen würdigen, wenn man wenigstens mit einem Satz die enorme Leistung des Herausgebers erwähnt. Michael Schröter, einer der hervorragendsten Freud- und Psychoanalyse-Historiker der Gegenwart, hat die Herkulesarbeit in jahrelanger Klein- und Fleißarbeit geschultert und am Ende ein Resultat vorgelegt, das gewiss zu den Glanzstücken der Freud-Editionen gehört. Akribisch und sparsam in seinen Annotationen, ohne Schnickschnack und Ballast, mit einer informativen Einleitung, die die Brennpunkte der Korrespondenz scharf konturiert, liefert Schröter genau das, was der Leser erwartet – einen kritischen und doch leserfreundlichen Text. Zu den Geheimnissen gelungener editorischer Arbeit zählt, dass man dem vollendeten Werk die darin investierten Mühen nicht mehr ansieht. Dieses Kunststück ist Schröter gelungen.

    Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Max Eitingon, 1906 - 1939, herausgegeben von Michael Schröter, erschienen in 2 Bänden in der edition diskord. Die Bücher haben zusammen 1060 Seiten und kosten 77 Euro.