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Michael Schwelien: Helmut Schmidt. Ein Leben für den Frieden

Am 23. Dezember feierte Helmut Schmidt seinen 85. Geburtstag. Seine acht Kanzlerjahre haben die Bundesrepublik nachhaltig verändert. In Schmidts Amtszeit fiel die Hochzeit des RAF-Terrorismus, die erbitterte Diskussion um den NATO-Doppelbeschluss und das erste Zusammentreffen zwischen einem Bundeskanzler und einem DDR-Staatschef. 1983, im Jahr nach dem Ende seiner Kanzlerschaft, wurde Schmidt zum Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit". Und ein Zeit-Redakteur, Michael Schwelien, ist es nun auch, der zum 85. Geburtstag mit einer neuen Schmidt-Biographie an die Öffentlichkeit tritt.

Von Brigitte Baetz |
    Helmut Schmidt: Wir sagen dem deutschen Volke in voller, ernster Überzeugung, dass der Entschluss, die beiden Teile unseres Vaterlandes mit atomaren Bomben gegeneinander zu bewaffnen, später in der Geschichte einmal als genauso schwerwiegend und verhängnisvoll angesehen werden kann, wie es damals das Ermächtigungsgesetz für Hitler war. (Beifall/Empörung)

    Bonn im Jahre 1958. Der Abgeordnete Helmut Schmidt aus Hamburg setzt sich für die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa ein. "Schmidt-Schnauze" wird der umtriebige Hanseat bald wegen seiner rhetorischen Schärfe im Bundestag genannt. Derselbe Helmut Schmidt wird zwei Jahrzehnte später als Bundeskanzler die SPD durch seinen Entschluss zur Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in eine Zerreißprobe führen. Während sein Vorgänger Willy Brandt durch Ostpolitik und Nobelpreis als Mann des Friedens gilt, ist Helmut Schmidt den meisten Deutschen eher als Wirtschaftsfachmann und Verteidiger des Rechtsstaates gegen den Terrorismus im Gedächtnis geblieben. Trotzdem gab der Autor Michael Schwelien seiner Biographie den Untertitel "Ein Leben für den Frieden". Seine These: die wirkliche Lebensleistung Helmut Schmidts habe in der Durchsetzung des so genannten NATO-Doppelbeschlusses bestanden– dies sowohl gegen die eigene Partei als auch gegen die sich anfangs sträubenden Amerikaner. Ein strategisches Meisterwerk, das er gewagt habe sogar um den Preis, darüber die Kanzlerschaft zu verlieren. Aufgeschreckt durch die Stationierung sowjetischer SS-20-Raketen, warnte Helmut Schmidt in einer Rede im Londoner "International Institute for Strategic Studies" als erster westlicher Staatsmann vor der Bedrohung - mit der Angst im Hinterkopf, dass die USA sich aus der Verteidigung Europas abkoppeln könnten.
    Am Tag seiner Rede, dem 28. Oktober 1977, wurde ein Abendessen gegeben. Die Mitarbeiter des Instituts nahmen teil, britische und amerikanische Diplomaten sowie einige US-Offiziere. Bei dieser Gelegenheit ließ Schmidt seiner Wut über die Nichtreaktion der Amerikaner freien Lauf. Er sagt heute, er habe "mit voller Absicht" seinen "Zorn" zum Ausdruck gebracht. In anderen Worten: Er spielte einen Wutanfall, den er sich vorher zurechtgelegt hatte. Er wollte die Wirkung seiner Rede verstärken. Der Theaterdonner fiel ihm leicht. Denn er war wirklich empört darüber, dass die US-Regierung seiner Logik nicht sofort gefolgt war. Seine Geringschätzung Carters war sattsam bekannt. So musste Schmidt nicht allzu viel von seinen – durchaus vorhandenen – schauspielerischen Fähigkeiten einsetzen. Im Grunde bündelte er nur seine emotionale Energie auf den Ausbruch beim Abendessen. Und wenn man bedenkt, dass die Anspannung der Schleyer-Entführung und von Mogadischu gerade eine Woche zurücklag, dann ist es nicht der gespielte Wutausbruch, der einen beeindruckt, sondern die ungeheure Selbstbeherrschung Schmidts, die ihn erst ermöglichte.

    Dass die Nachrüstung mit zum Fall des Eisernen Vorhanges beigetragen hat, hat Michail Gorbatschow bestätigt. Auch die Einführung des Europäischen Währungssystems und das damit verbundene weitere Zusammenwachsen Europas geht auf Helmut Schmidts Initiative zurück - ebenso ein Beitrag zum Frieden. Da hat Michael Schwelien durchaus recht. Schade allerdings, dass der Autor nicht stärker auf die innerparteilichen Auseinandersetzungen eingeht, nicht nur, was die Nachrüstung angeht. Zwar erwähnt er, wie sich Willy Brandt auf die Seite der Friedensdemonstranten stellte, aber wirklich Tiefergehendes, vielleicht sogar Kritisches erfährt der Leser nicht. Denn nicht zuletzt hat Schmidts Unverständnis gegenüber der Friedensbewegung das Entstehen der Partei der Grünen möglich gemacht. Schwelien, der als langjähriger Redakteur der "Zeit" Helmut Schmidt, der dort Herausgeber ist, aus nächster Nähe kennt, reflektiert vor allem die Ansichten des Altkanzlers und lässt kaum andere Zeitzeugen zu Wort kommen. Das ist vor allem deswegen schade, weil Schmidt kein Mensch ist, der über seine eigenen Befindlichkeiten spricht – zudem er schon ein Medienprofi war, bevor dieses Wort für einen Politiker überhaupt existierte. Für seine Zeit als aktiver Politiker lässt er sich kaum in die Karten sehen. Interessante Einsichten in die Persönlichkeit Helmut Schmidts liefert jedoch Schweliens Schilderung von Herkunft und Jugend.

    Gustav Schmidt, Helmut Schmidts Vater, wurde 1888 in Hamburg geboren – als uneheliches Kind. Der leibliche Vater war ein jüdischer Kaufmann namens Gumpel, der sich nach einer finanziellen Zuwendung an den Adoptivvater, den Helmut Schmidt zunächst für seinen richtigen Großvater hielt, nach Sachsen absetzte. Ende des 19. Jahrhunderts, als Schwangerschaftsabbrüche noch lebensgefährliche, von Kurpfuschern und Engelmacherinnen vorgenommene, streng verbotene Eingriffe waren, bezahlten – bestenfalls – leibliche Väter Adoptivväter dafür, dass diese sich ihres Kindes annahmen und so die Affäre aus der Welt schafften. Und dieser Adoptivvater, der Gustav Schmidt hieß und sich gar nicht erst die Mühe machte, für das Kind einen anderen Namen als den eigenen zu suchen, dürfte das Geld alsbald versoffen haben. Er war ein, wie es seinerzeit hieß, "unständiger Hafenarbeiter" und wohnte im proletarisch geprägten Barmbek.

    Das angenommene Kind brachte es mit viel Energie - dies vielleicht ein Erbe des eigentlichen Vaters - aus kleinsten Verhältnissen bis zum Schulleiter. Eine Karriere, die sich auf unendlichen Fleiß, Selbstdisziplin und Pragmatismus gründete. Der Sohn Helmut Schmidt übernahm diese Tugenden des sozialen Aufsteigers. Kindheit und Jugend des späteren Bundeskanzler sind die eines Mannes, der noch den Geruch des Proletariers mitbekommen hat, aber in seinem Bewusstsein schon längst nach Höherem strebt. Die Kapitel von der Herkunft Helmut Schmidts gehören zu den spannenden Abschnitten des Buches, auch weil sie in einer Art Doppelbiographie von Hannelore Glaser, genannt Loki, erzählen. Die beiden selbstbewussten Kinder wachsen unter reformpädagogischen Einflüssen zu unabhängigen Menschen heran. Eine Vernunftehe, gegründet auf vollkommener Vertrautheit.

    Helmut Schmidt: Freundschaft ist ziemlich am Anfang schon entstanden. Wir haben immer gesagt, wir können uns so schön zanken.

    Die Ehe hält auch, nachdem Schmidt als Minister und später Bundeskanzler von Hamburg nach Bonn wechselt und Loki Schmidt erst nach fast 30 Jahren ihre Berufstätigkeit aufgibt. Und noch heute erscheint dem Leser die Regierungszeit Schmidts als eine der Nerven aufreibendsten der Nachkriegszeit.

    Tagesschau: Fünf Wochen nach der Ermordung des Bankiers Ponto ist am Abend auf den Vorsitzenden der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Hans-Martin Schleyer in Köln ein Attentat verübt worden.

    Helmut Schmidt: Die blutige Provokation in Köln richtet sich gegen uns alle. Wir alle sind aufgefordert, den staatlichen Organen beizustehen, wo immer das dem Einzelnen möglich ist.

    dpa: Wir haben nach 43 Tagen Hans-Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet.

    Deutschland, im Herbst 1977. Das Bekennerschreiben der RAF, das bei der Deutschen Presseagentur eingeht, bringt die Gewissheit: Hans-Martin Schleyer ist tot. Kurz zuvor hatte eine Eliteeinheit des Bundesgrenzschutzes in Mogadischu 91 Geiseln aus der entführten Landshut befreit, hatten die Terroristen Baader, Ensslin und Raspe im Gefängnis Stuttgart-Stammheim Selbstmord verübt. Der Höhepunkt des Terrorismus in Deutschland war gleichzeitig ein Endpunkt. Der Staat hatte klar gemacht, dass er sich nicht erpressen lassen würde, auch nicht um den Preis der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten.

    Helmut Schmidt: Die Menschen in der Bundesrepublik, das spüren wir, sind näher aneinander gerückt. Was unser Volk in diesen Tagen an Haltung gezeigt hat, wird von der zivilisierten Welt in Ost und West, in Nord und Süd mit Respekt und Mitgefühl betrachtet. Die ganze Welt erfährt in diesen Jahren in vielen Ländern das Wiederaufleben zerstörerischer Gewalt, von der die Menschheit glaubte, dass sie durch geschichtliche Erfahrungen, dass sie durch menschliche Moral überwunden sei. Es gibt aber kein politisches Prinzip, mit welchem der Rückfall der Menschlichkeit in die Barbarei sittlich gerechtfertigt werden könnte.


    Kaum ein Bundeskanzler verkörperte den Begriff der Staatsräson so glaubhaft wie Helmut Schmidt. Der disziplinierte Vielarbeiter und begnadete Rhetoriker mit dem Offiziershabitus hatte nicht zuletzt deshalb immer eine große Anhängerschaft – über die eigene Partei hinaus. Auch sein Biograph Michael Schwelien macht da keine Ausnahme. Für ihn ist Schmidt der "fähigste und intelligenteste Kanzler, den die Bundesrepublik je hatte". Und wirklich weckt sein Buch Sehnsucht nach einer Klasse von Politikern, die es heute so nicht mehr gibt, auch wenn es dem Autor nicht gelungen ist, einen breiteren als den ohnehin schon bekannten Weg von "Schmidt-Schnauze" zum Staatsmann nachzuzeichnen. Aber auch der ist schon beeindruckend genug.