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Michael Stürmer : Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte

Wie sieht nun die Antwort Europas auf die amerikanische Herausforderung aus, die ja auch indirekt eine Herausforderung für die transatlantischen Partner, die Europäer ist? Kissinger kann noch in Kompromissen und Gleichgewicht denken und tut es auch. Auch die Europäer versuchen es, aber die Mitte des geopolitischen Gleichgewichts hat sich verlagert. "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte" nennt der renommierte Publizist und Historiker Michael Stürmer folgerichtig auch sein Buch.

Helmut Heinzlmeir |
    Der 'Frieden von Utrecht’ von 1713 gilt als einer der großen Friedensschlüsse der Neuzeit. Briten und Österreicher vereitelten seinerzeit eine französische Hegemonie in Europa. Fortan, für mehr als 2oo Jahre, herrschte auf dem Kontinent - nur kurzfristig von Napoleon erschüttert - ein Gleichgewicht der Mächte. Wenn es gefährdet schien, griff Entland ein. Es war für die Seemacht Voraussetzung für ihren Aufstieg zur Weltmacht. Michael Stürmer - Professor für Neuere Geschichte und langjähriger Direktor eines renommierten Forschungsinstituts - stellt diesen historischen Exkurs mit Bedacht an den Anfang seines Essays zur aktuellen Weltpolitik. Ein gewisses Gleichgewicht der Mächte ist ihm - in Europa, in den atlantischen Beziehungen, weltweit - ein strukturbildendes Element, das anzustreben aller diplomatischen Mühen wert ist. Nicht zuletzt, weil es vor Hybris schützen kann. Aus dem Klappentext zum Buch:

    Die Kunst des Gleichgewichts ist die europäischste aller europäischen Ideen. Sie zwingt zu Ausgleich, Kompromissen. In Europa hat sie Tradition, weltweit nicht. Weder die USA noch China haben je lernen müssen, im Gleichgewicht mit anderen Mächten zu leben.

    Via NATO hat die Seemacht USA nach 1945 unterschiedlichste Balancen auf dem Kontinent gewahrt. Zum einen gegenüber der Sowjetunion. Es war die atomare Abschreckung, die Westeuropa zu Zeiten des Kalten Krieges den Frieden sicherte. Michael Stürmer:

    Ohne die Nuklearwaffe hätte Amerika nach 1945 Europa nicht über Jahrzehnte hinweg Sicherheit bieten können. Schon Westberlin wäre im Ernstfall nicht einen Vormittag lang zu halten gewesen.

    Die NATO, die in der Bundesrepublik Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten, banden aber auch das besiegte Land in den Westen ein, tarierten in Westeuropa die Kräfteverhältnisse aus. Mit anderen Worten: Die NATO war Voraussetzung für das Werden der Europäischen Gemeinschaft. Das gilt tendenziell - so der Autor - auch heute noch. Nicht nur in Paris und London saß 1989 der Schock über eine drohende deutsche Wiedervereinigung tief. Dadurch, dass das wiedervereinigte Deutschland in die NATO aufgenommen wurde, blieben die USA Gleichgewichtsmacht in Europa. Der Autor:

    Bis heute hat EU-Europa sein inneres Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden. Die Einführung des Euro musste Deutschland den Franzosen zugestehen.

    Für den Autor ist die Wirtschafts- und Währungsunion kein unumkehrbarer Prozess. Sie bedarf des ständigen Engagements. Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und die Bedrohungen aus dem Kalten Krieg verblassen. Für Deutschlands Nachbarn geht es auch nicht um eine Überwindung des Nationalstaates. Man hat keine Vergangenheit zu bewältigen. Der Autor:

    Der Abschied vom Nationalstaat war eine deutsche Wunschvorstellung, geboren aus der traumatischen Erfahrung des Totalitarismus im 2o. Jahrhundert. Die europäische Integration, je mehr, desto besser, sollte mit einer neuen Zukunft auch eine neue Vergangenheit liefern.

    Deutschlands Nachbarn sind zu einer engen Zusammenarbeit bereit. Sie nützt. Insbesondere im Globalisierungsprozess vermag eine große wirtschaftliche Interessengemeinschaft einiges durchzusetzen. Aber eine Politische Union steht - so der Autor - nirgendwo ernsthaft auf der Agenda. Spätestens bei der Frage nach Krieg und Frieden wird sich auch kein demokratisch gewähltes Parlament die Entscheidung abnehmen lassen. - Sorgen bereiten dem Autor die transatlantischen Beziehungen. Zu groß ist ihm das Machtgefälle in den europäisch-amerikanischen Beziehungen geworden. Nicht nur, aber am sichtbarsten, im militärischen Bereich. Die USA sind heute weltweit präsent; mit einem Schwerpunkt in Asien - von Israel bis China. Mit China - so dieses Land nicht an seinen außerordentlichen internen Problemen zerbricht - droht zu gegebener Zeit ein Hegemonialkonflikt. Der Autor dazu:

    Beide Seiten sehen den Konflikt heraufziehen. Beide fürchten ihn. Washington und Peking müssen einen Modus des Gleichgewichts miteinander finden.

    Im Nahen Osten ist die amerikanische Politik - so der Autor - zwangsläufig widersprüchlich. Washington garantiert Israel - mit seiner regionalen militärischen Vormachtstellung - und will gleichzeitig ungehinderten Zugriff auf die arabischen Ölquellen. Spätestens an diesem Punkt ist auch Europa gefordert. Unter anderem bei der Türkei. Sie soll - so Washington mit allem Nachdruck - in der Europäischen Union abgesichert werden. Michael Stürmer:

    Die Türkei bietet Israel strategische Tiefe, und der Staat Israel ist ein wichtiger, niemals zu übergehender Teil amerikanischer Innenpolitik.

    Washington wird im Zweifelsfall stets seine nationalen Interessen - Stichwort Unilateralismus - oben ansetzen. Trotzdem plädiert der Autor für enge transatlantische Beziehungen, und zwar aufgrund beiderseitiger Interessen. Mit seinen Worten:

    Obwohl die USA derzeit für jedes Gleichgewicht zu stark sind, sind sie mit einer globalen Hegemonie auf Dauer überfordert. Und Europa benötigt die USA nicht zuletzt auch zur Balance seiner internen Kräfteverhältnisse.

    Internationale Politik als Auseinandersetzung zwischen Mächten und Interessen darzustellen, mag nicht nach jedermanns Geschmack sein. Sich mit solcher Sicht auseinander zusetzen, lohnt trotzdem. Und das Buch ist gut geschrieben.

    Helmut Heinzlmeir rezensierte Michael Stürmer: "Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte", ebenfalls erschienen im Berliner Verlag Propyläen. Es hat 24o Seiten und kostet 21 Euro.