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Michael Thalheimer erstmals in Frankreich

Er stand schon auf vielen Brettern: Michael Thalheimer inszenierte Stücke in Dresden, Chemnitz, Berlin, Hamburg, Basel oder Freiburg. In Frankreich hingegen erlebt er gerade sein "erstes Mal", denn der künstlerische Direktor Stéphane Braunschweig hat ihn ans Pariser Théâtre de la Collines geholt.

Von Eberhard Spreng |
    "Oft wollen die kleinen Leute nur eine kleine Sache, aber diese kleine Sache die wollen sie wirklich, und für die würden sie sich auch umbringen lassen, und selbst noch als Tote, würden sie die noch wollen."

    Das sagt der Afrikaner Alboury, der sich in eine bewachte Baustelle eingeschlichen hat und mit dem Bauleiter Horn spricht. Er verlangt die Herausgabe des Leichnams seines angeblich bei einem Unfall getöteten Bruders.

    Und wie immer bei Koltès reichen die Forderungen immer vom Konkreten ins Allgemeine, werden die oft nächtlichen Verhandlungen und Deals der Protagonisten zu grundsätzlichen Kämpfen zwischen Oben und Unten, Arm und Reich, zu Kämpfen zwischen Gesellschaften und Kontinenten. Michael Thalheimer hat das in Frankreich so gerne verdrängte kolonialistische Erbe ins Zentrum seiner Aufführung gestellt. Wo bei Koltès und in Patrice Chéreaus Uraufführung in den 80er-Jahren der Schwarze in ein Huis-Clos von drei in Afrika gestrandeten Europäern einbrach, steht hier ein elfköpfiger Chor von schwarzen Schauspielern auf der Bühne.

    Alboury ist im langen ersten Teil der Aufführung als Chor entpersönlicht, er ist so auch, mehr denn eine konkrete Figur des Stücks, eine Projektionsfläche für Horn, seine viel jüngere, gerade aus Paris angekommene Verlobte und den nervösen, psychisch labilen Ingenieur Cal. Vor allem ist dieser Chor, der zunächst vom dunklen Hintergrund der Bühne aus durchs Spielfeld den Zuschauern geradewegs ins Auge schaut, ein zweiter Blick, ein zweites Publikum. Und hier entfernt sich Thalheimer von der naturalistischen Fundierung, die man in Frankreich bei Koltès-Stücken erwartet. Die nächtliche Baustelle ist hier zu einem schwarzen Schacht geworden, mit hoch aufragenden Seitenwänden, einem geländerbewehrten Umgang und einer in die Tiefe abfallenden Schräge. Wie in den deutschen Thalheimer-Inszenierungen hat Olaf Altmann eine Metapher gebaut, die nicht eine immerfort vom afrikanischen Außen bedrohte europäische Enklave darstellt, sondern ein finsteres Seelengefängnis, in dem keiner das eigene Exil überwinden kann. Sprechen als Vorbeireden, ein Kommunizieren nur im Monolog. Es ist aber auch eine Vorhölle für europäische, besser: französische Lügenbolde. Wenn Horn, der den Leichnam des von Cal im Streit ermordeten Bruders nicht herausgeben kann und Alboury mit Geld abspeisen will, wenn sich die junge Léone schwarze Farbe auf die Haut geschmiert hat, aber ihre weiße Heuchlerseele dennoch nicht losgeworden ist, dann ist auch der Chor aufgelöst und Jean-Baptiste Anoumon als Afrikaner zur Figur geworden. Die Europäer haben ihren Abgrund erreicht und der Schwarze ist als Individuum in seiner Würde rehabilitiert. Die stringente Lesart des Stückes setzt sich, anders als in den deutschen Thalheimer-Inszenierungen, nicht ganz ungebrochen im Spiel der französischen Akteure um: Charlie Nelson spielt den stämmigen Baustellenleiter mit kreatürlicher Hemdsärmeligkeit, Stefan Konarske gibt hingegen allenfalls eine ausgeflippte Karikatur des nervösen Ingenieurs Cal. Lediglich Cécile Coustillac zeigt als Léone diese spezifischen Thalheimer-Manierismen, eine lustig-überdrehte Gestik und spricht in forcierter Diktion:

    Vier Akteure, vier Spielweisen, das verkürzt die Figuren des Bernard-Marie Koltès dann doch zu Typen, die das Persönliche ohne jede Schattierung zu verhandeln haben und zu Spielfiguren auf dem Kampfplatz exemplarischer Seelenzustände werden: Es ist ein Stück über Angst, Verdrängung und Schuldgefühle gegenüber dem schwarzen Kontinent. Hier hat Thalheimer, mit der Distanz, die er als deutscher in der französischen Afrikadebatte hat, deutlicher und entspannter Position bezogen, als es einem französischen Regisseur möglich gewesen wäre. Im Programmheft bezieht er sich außerdem auf den Michael-Haneke-Film "Caché", der die unbewältigte Kindheit eines französischen Jungen zum Motor einer unheimlichen franko-algerischen Gegenwart machte. Und die kleine Sache der kleinen Leute, die Alboury verlangt, ist gut fünfundzwanzig Jahre nach der Uraufführung des Stücks immer noch eine beziehungsreiche Metapher. Heute assoziiert man dabei die immer noch ausstehende Entschuldigung Frankreichs für die Gräuel des Algerienkriegs. Solange das Land sich selbst und dem Süden nicht dieses befreiende Geschenk macht, bleibt es Opfer des eigenen Traumas und bleibt auch der Kampf des "Negers und der Hunde" ungebrochen aktuell.