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Michael Thumann: Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe

Vom Samland bis Sachalin, von den Bernsteinküsten des Baltischen Meeres bis zu den Gestaden des Pazifik wird es gesungen - das "Lied von der russischen Erde". Doch die Zahl jener, die es jenseits des Urals anstimmen, nimmt stetig ab. Nur noch 27 Millionen Russen leben heute auf einem Territorium, das größer ist als Indien und China zusammen. Und das schafft Probleme für eine Weltmacht von gestern, die sich immer noch als Weltmacht begreift. Als Zeit-Korrespondent in Moskau hat Michael Thumann miterlebt, wie Russlands neue Elite gezielt darauf hinarbeitet, dem Land mehr Weltgeltung zu verschaffen. "Das Lied von der russischen Erde" - Eine Rezension von Robert Baag:

Robert Baag |
    Es war ganz still im vollen Saal. Alle Augen blickten auf den hageren Mann mit langem lichtem Bart, der die Hände zu einem Kreis formte. Beschwörend warf er seine Zauberformel in den Raum: "Einheit!" Der Saal nahm das Wort wie Manna auf. Vor dem Redner in Grau saßen die Ehrengäste in bunter Reihe: zwei hohe Muftis in grünen und goldenen Gewändern, ein buddhistischer Lama in Purpurrot, zwei Rabbis und mehrere orthodoxe Geistliche mit schwarzem Rock. Die weite Halle füllten Russen, Tataren, Kaukasier, Studenten und Rentner, Geschäftsleute und viele Offiziere. Es war kein Pope, der da im Moskauer "Klub der Ehre und Würde" zu ihnen sprach. Alexander Dugin versteht sich als Philosoph, doch ist es treffender, ihn einen politischen Wanderprediger zu nennen. An diesem kristallklaren Frühlingstag im April 2001 gründete der 39-jährige Russe die Bewegung "Eurasien". Dabei wurde akkurat und demokratisch abgestimmt. - "Wer ist für unsere Bewegung und ihr Statut?", fragte Dugin fordernd in den Raum. Tausend Hände gingen hoch. "Einstimmig", bemerkte er trocken und gab ein Zeichen.

    Aus dem Lautsprecher tönte die neue russische Hymne, welche die alte sowjetische ist. Die Menge stand auf und sang. Jetzt erst bekam das langgezogene Spruchband an der Wand seinen rechten Sinn: "Zur eurasischen Symphonie der Völker".

    So oder so ähnlich könnte sich das angehört haben, wobei der eine oder andere sogar noch diese ursprüngliche Stalin’sche Textversion vor sich hingesungen haben dürfte. - Ein Reportage-Fragment war das aus dem jetzt bei DVA erschienenen Buch von Michael Thumann. Er war lange Jahre Russland-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit". "Das Lied von der russischen Erde - Moskaus Ringen um Einheit und Größe" - so der Titel des Bandes. Deutsche Leser mögen zunächst stutzen ob dieser doch ein wenig sperrig-raunenden, nach dampfender Scholle riechenden Worte. Aber: Der Titel überschreibt nur konsequent die Geistes- und Gemütshaltung, die seit der ausgehenden Ära Boris Jelzins weite Teile der russischen Eliten und Entscheidungsträger umtreibt. Lassen wir uns nicht täuschen - nicht wenigen Menschen in Russland geben heute diese zunächst abstrakten Symbolbegriffe "Einheit" und "Größe" Kraft und Halt in einem ansonsten eher kärglichen Leben - elf Jahre nach der Implosion der früher vermeintlich alles abstützenden Sowjetmacht. Fünf Jahre hat Thumann in Russland gelebt und gearbeitet, hat das Land bereist und es in zahlreichen Artikeln beschrieben. Mit seinem Buch hat er jetzt eine vorwiegend nüchtern abgefasste, in der Analyse aber außerordentlich interessante und informative Bilanz vorgelegt, die verblüffende Zusammenhänge herstellt und damit nicht selten zu neuen Einsichten verhilft.

    Ein Kernanliegen Thumanns ist die Frage nach Russlands künftiger Gestalt, denn das administrative Korsett des Riesenlandes lässt sich eben nicht allein mit Rechtsakten verkünden und festlegen. Innerhalb dieses Korsetts wollen schließlich Mentalitäten eines Vielvölkerstaates berücksichtigt sein, muss - wie Thumann an vielen Beispielen belegt - das Verhältnis zwischen der Zentrale in Moskau und den Provinzen immer wieder neu- und feinjustiert werden - bis hin zur Kultur- und Sprachen-Politik. Dennoch: Das Russische dominiert nach wie vor in allen relevanten Bereichen des föderalen Lebens in Russland. Dass für Putin - wenigstens den Worten nach - inzwischen aber auch hier Handlungsbedarf zu bestehen scheint, machte er jetzt, bei seiner Jahres-Pressekonferenz im Kreml deutlich:

    Russland ist nicht nur reich an Bodenschätzen. Russland ist reich durch seine vielfältig-nationale Kultur. Vielleicht ist dies sogar sein größter Besitz. Vielleicht ist es gerade deshalb so schwierig, Russland zu verletzen und ins Verderben zu stürzen. Und deswegen muss die Sorge um diese kulturelle Vielfalt - auch um die Vielfalt unserer Sprachen - eine der Prioritäten des Staates sein.

    Diesen Worten müssen jetzt, nach langen Jahrzehnten, eigentlich sogar Jahrhunderten russischer Dominanz endlich ernsthafte Taten folgen. Sollte Putin dies - trotz fortdauernder Tschetschenien-Tragödie - erkannt haben? Und wird er die Kraft haben, diese Erkenntnis seinen Beamten in die Köpfe zu pflanzen? - In einer bemerkenswerten Beobachtung warnt Thumann vor voreiligen Schlüssen in diese Richtung:

    Wladimir Putin spricht von Russland als "europäischem Staat" und wünscht die engere Verflechtung mit der Europäischen Union - doch fern in Jakutien erregen sich die Menschen über die "europäische Obsession" der Moskauer und bestehen darauf, Asiaten zu sein. Mitunter geraten auch staatliche Interessen mit lokalen Wünschen in Konflikt. Die buddhistisch geprägten Republiken Burjatien und Kalmückien wollten im Sommer 2001 den Dalai Lama nach Russland einladen. Das Moskauer Außenministerium aber erteilte ihm bis Ende 2001 kein Visum, um die guten Beziehungen zu China nicht zu gefährden. Ein kalmückischer Schriftsteller fragte pointiert, ob er nun für die Treue zur Russischen Föderation vom eigenen Glauben lassen solle. Widersprüche wie diese sind ins Fundament der Russischen Föderation eingemauert.

    Thumanns Blick auf Russland fällt am Ende nüchtern aus - aber seine Schlussfolgerung ist belegt durch die an Beispielen reiche Bestandsaufnahme zuvor:

    Russland fehlt heute eine feste Gestalt. Es ist weder ein russischer Nationalstaat noch eine politische Nation von Bürgern, deren ethnische Herkunft zweitrangig ist. Die Verfassung spricht vom "multiethnischen Volk", doch die Regierung nährt den russischen Nationalismus zu politischen Zwecken. Wladimir Putin regiert das Land auf halbautokratische Weise, nicht diktatorisch und nicht demokratisch. Das Land ist weder perfekt zentralistisch gelenkt noch wirklich föderal verwaltet. Es hat seinen imperialen, kolonialen Charakter weitgehend verloren, doch entwickelt es sich bisher nicht zu einem zivilisierten Staat, der sich wie Polen in die Europäische Union integrieren ließe. Russland ist weder ein europäisches noch ein asiatisches Land. Seine Politiker beschwören die harmonische Einheit des Landes, ohne der mythischen Größe entsagen zu wollen.

    "Das Lied von der russischen Erde" - Nach der Lektüre des Thumann’schen Buches will ein elegischer Grundton einfach nicht aus dem Sinn weichen. Denn der Eindruck hat sich verfestigt: Ein langer Atem wird nötig sein bei den direkt Betroffenen - und bei den Zuschauern von außen. Noch viele Unwägbarkeiten müssen einkalkuliert werden, ehe von einem soliden russischen Staatsgebäude die Rede wird sein können. Geduld zu haben, wird im Verhältnis zu Russland weiterhin eine Tugend bleiben müssen. Geduld zu üben, heißt aber nicht, die Augen von nie auszuschließenden Fehlentwicklungen abzuwenden. Und: Nicht zuletzt an solchen Wegmarken sollte Moskaus eigener Anspruch beim Wort genommen werden, eine "velikaja derzhava" zu sein, eine Großmacht, die souverän genug sein sollte, auf freundschaftliche Kritik adäquat und offen zu reagieren und bei unangenehmen Wahrheiten nicht über Selbstisolation nachzugrübeln. Auch diese Erkenntnis steht am Ende des spannenden Buches von Michael Thumann.

    Robert Baag über Michael Thumann: Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe, DVA, Stuttgart 2002.