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Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes.

Den nationalsozialistischen Killer stellten die Historiker der frühen Bundesrepublik ihrem Publikum als sozial Deklassierten vor, den seine Absturzerfahrung auf mörderische Abwege geführt habe. Ein Massenphänomen wurde so zur Abweichung heruntergeredet und entschärft. Später, da stand Eichmann in Jerusalem vor Gericht, musste man einräumen, dass der Völkermord die bereitwillige Mitarbeit einer großen Zahl von Schreibtischtätern zur Voraussetzung hatte. Erst zu Beginn der 90er-Jahre konnte Christopher Browning am Beispiel des Ersatz-Polizeibataillon 101 nachzeichnen, wie ganz normale Männer zu Mordmaschinen mutierten.

Tillmann Bendikowski | 16.09.2002
    In diesem Jahr nun hat der Hamburger Historiker Michael Wildt die Forschung mit der Beschreibung eines neuen Tätertypus bereichert: Junge, zumeist akademisch gebildete Männer, die den Nationalsozialismus gewollt hatten. Sie fühlten sich zum Führen berufen, dachten völkisch und antisemitisch und handelten mörderisch. Heydrichs als "kämpfende Verwaltung" konzipiertes Reichssicherheitshauptamt bot ihnen die Möglichkeit, an der Konzeption des Völkermords mitzuwirken und bei seiner Exekution die Kommandohöhen zu besetzen. "Generation des Unbedingten - Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes" hat Michael Wildt sein Werk überschrieben, und erschienen ist es in der Hamburger Edition.

    Otto Ohlendorf war auf den ersten Blick ein sympathischer Zeitgenosse; gutaussehend, freundlich, intelligent und nicht ohne Wirkung auf Frauen. Das jedenfalls notierten Beobachter des Nürnberger Prozesses, bei dem Ohlendorf anfangs als Zeuge auftrat. Doch am 3. Januar 1946 provozierte er lähmendes Entsetzen im Zuschauerraum, als der ehemalige SS-Mann freimütig bekannte, er habe als Leiter einer Einsatzgruppe die Ermordung von 90.000 Menschen in der Sowjetunion zu verantworten. Und Ohlendorf war nur einer von vielen, einer von jenen rund 400 Personen, die das Führungskorps des berüchtigten Reichssicherheitshauptamtes bildeten. Der Hamburger Historiker Michael Wildt hat diese Tätergruppe jetzt genauer untersucht und sich der Frage angenommen, was diese Männer zu Massenmördern machte. Dabei hat er einen spezifischen Tätertypus ausgemacht, der sich schon vor 1933 in Ansätzen herausbildete:

    Zur Masse wollten die jungen Männer ebenso wenig gehören, wie sie sich gleichfalls nicht als bürgerliche Individuen einer liberalen Gesellschaft begriffen. Einzelne waren sie als Führer und Helden, nicht als Bürger. Die wenigen Jahre wirtschaftlicher und politischer Stabilität zwischen 1924 und 1929 hatten das Vertrauen in die Solidität bürgerlicher Gesellschaft nicht festigen können.

    Es waren gemeinsame Erfahrungen, die für Michael Wildt jene Männer verbanden, die später als SS-Führer die Arbeit des Reichssicherheitshauptamtes prägten. Über ein Viertel von ihnen war nach 1900 geboren, die meisten zwischen 1900 und 1910. Der Autor sieht hier eine Generation heranwachsen, die sich nach 1933 mühelos in das NS-Terrorsystem einfügen sollte; nicht zuletzt eben auch wegen ihrer Erfahrungen in der Weimarer Zeit:

    Wer, zwischen 1900 und 1910 geboren, die Stabilität des Kaiserreichs höchstens als Kindheitserfahrung, dagegen Krieg, Revolution, Nachkriegswirren und Hyperinflation des Jahres 1923 als entscheidende Prägungen erlebt hatte, der war schwerlich von der Zukunftsfähigkeit einer bürgerlichen Gesellschaft zu überzeugen.

    Nun machten solche Erfahrungen allein einen jungen Mann beileibe noch nicht zum Massenmörder. Vielmehr zeigt Michael Wildt in seiner akribischen Studie, dass diese Entwicklung im Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren und Institutionen, von Ideologie und Funktion, von individuellem Vorsatz und situativer Gewaltdynamik zu erklären ist. Die Bedingung der Möglichkeit bot den späteren SS-Führern der Aufbau des neuen Reichssicherheitshauptamtes unter Reinhard Heydrich. Dieses umfasste nach seiner Gründung 1939 sowohl Sicherheitsdienst wie Gestapo, also gleichermaßen die Zentrale exekutiver Macht wie den zentralen Nachrichtendienst zur Erforschung selbsterwählter Feinde.

    Beide Institutionen unter der Führung der SS sollten im Reichssicherheitshauptamt nicht nur vereinigt werden, sondern durch die Verschmelzung eine spezifische nationalsozialistische Institution neuen Typs bilden, die allein der Politik dienen sollte, keiner Kontrolle außer der durch die Führer unterworfen, und die von keinem Gesetz oder sonstigen Paragraphen abhängig war.

    Diese "Institution neuen Typs” ermöglichte und beschleunigte eine neue Radikalität. Hier war der theoretische wie praktische Kristallisationspunkt einer nationalsozialistischen Polizei entstanden, die sich als Exekutive der rassistischen "Volksgemeinschaft” verstand. Und in ihrer Führungsetage tummelten sich bald die jungen Aufsteiger des Terrorsystems. Gut ausgebildet und keineswegs einem akademischen Subproletariat entstiegen, nutzten die studierten Ärzte oder Juristen ihre Chance zum beruflichen Erfolg:

    Das Reichssicherheitshauptamt war eine Institution sozialer Aufsteiger. Von den Führungsangehörigen des Reichssicherheitshauptamts hatten deutlich mehr als drei Viertel das Abitur absolviert, zwei Drittel hatten studiert, und nahezu ein Drittel insgesamt, das entspricht der Hälfte aller Studierten, hatte zudem einen Doktorgrad erworben. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts setzte sich keineswegs aus gescheiterten Existenzen zusammen, es entstammte nicht den sozialen Rändern der Gesellschaft, sondern war Teil der bürgerlichen, akademisch ausgebildeten Elite.

    Die Doktoren in der Schaltzentrale des Terrors waren als Gruppe deshalb keineswegs mit irgendwelchen prügelnden SA-Trupps oder auch dem Führungspersonal der Konzentrationslager zu vergleichen:

    Als Tätertypus unterschied sich das Führungspersonal des RSHA in signifikanter Weise von anderen Tätern des nationalsozialistischen Regimes. Kaum eine andere Gruppe der NS-Führung besaß eine solche generationelle Homogenität und akademische Ausbildung. Im Unterschied zu den Politischen Leitern der NSDAP, den höheren Beamten des NS-Regimes und der Generalität der Wehrmacht war das leitende Personal des RSHA deutlich jünger und akademisch gebildeter.

    Die Aufgaben dieser SS-Männer beschränkten sich nicht auf die reine Bürokratie und die Organisation der Verfolgung der von ihnen ausgemachten "Volksfeinde”. Vielmehr sammelten sie zunehmend praktische Erfahrungen als Mörder. Nach dem deutschen Überfall auf Polen und später die Sowjetunion zogen sie an der Spitze der berüchtigten Einsatzgruppen durch die besetzten Länder. Diese Einsatzgruppen stellten als mobile Einheiten des Reichssicherheitshauptamtes eben jene "kämpfende Verwaltung” dar, die Reinhard Heydrich gefordert hatte.

    Diese Männer waren keine Schreibtischtäter oder Bürokraten. Sie verbanden ihre Arbeit in der Zentrale in Berlin mit der Praxis vor Ort, vollzogen die terroristische Besatzungsherrschaft nicht nur per Erlass und Verfügung jenseits des Geschehens, sondern praktizierten den Terror. Das Reichssicherheitshauptamt als Institution agierte als bewegliche, flexible Organisation, deren Zentrale zwar in Berlin war, deren Kraft und Macht sich jedoch vor Ort entfaltete.

    Überzeugend führt der Autor die Kategorie der "Entgrenzung” ein, um die Radikalität des Terrors zu charakterisieren. Entgrenzung nicht nur als räumliche Ausdehnung der Herrschaftsgrenzen, sondern auch in Bezug auf die Zahl der Opfer, die terrorisiert, vertrieben, deportiert und ermordet wurden; und nicht zuletzt Entgrenzung der Praxis, als Radikalisierung der Maßnahmen bis hin zum systematischen Völkermord, mit denen das Reichssicherheitshauptamt und seine Führungskräfte seine Politik durchsetzte. Das war die Stunde der Massenmörder:

    Erst das Amalgam aus konzeptioneller Radikalität, neuen Institutionen und einer auf keine Grenzen stoßenden Machtpraxis im Krieg konnte jenen Prozess der Radikalisierung freisetzen, der in den Völkermord mündete. Umgekehrt gilt daher, dass diese Weltanschauungstäter ohne jene spezifischen Institutionen und ohne entgrenzte Praxis zwar Radikale hätten bleiben können, aber nicht mehr über die Macht verfügen, ihre Weltanschauung Wirklichkeit werden zu lassen.

    Diese Männer blieben Gläubige der von ihnen selbst konstruierten Weltanschauung; und dies zumeist auch nach 1945. Die Alliierten sorgten zwar anfangs dafür, dass die meisten von ihnen zunächst interniert wurden, doch auch sie kamen bald in den Genuss des einsetzenden Amnestiewillens der jungen Bundesrepublik. Wenngleich etwa der eingangs erwähnte Otto Ohlendorf 1951 von den Amerikanern hingerichtet wurde - all zu viele seiner SS-Kameraden konnten in der neuen Gesellschaft ihren Weg machen; als Strafverfolger mit Praxiserfahrung übrigens gerne im Dienst der Kriminalpolizei.

    Mit diesem Ausblick auf die Karrieren nach 1945 schließt Michael Wildt seine überzeugende Darstellung, die fast 900 Textseiten umfasst. Der Umfang ist der Tatsache geschuldet, dass der Autor ausgewählte Täter-Biographien detailliert nachzeichnet und dass er immer wieder Einzelaspekte seines Themas in den allgemeinen historischen Kontext einordnet. Beides kommt der Lesbarkeit zugute, so dass seine Studie auch einem breiteren Publikum zu empfehlen ist. Entscheidend für die historische Fachöffentlichkeit ist das Verdienst des Autors, die in den vergangenen Jahren vorangetriebene Täterforschung entscheidend bereichert zu haben. Neben die Gruppe der sozial Deklassierten, der Schreibtischtäter oder ideologiefreien Technokraten stellt er mit seinem Buch die überraschend homogene Gruppe gut ausgebildeter und ideologisch gefestigter junger Männer. Als Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes bildeten sie die Kerngruppe des nationalsozialistischen Terrors; sie wussten, was sie taten, und sie waren überzeugt, dass es richtig war. Dank der Studie von Michael Wildt ist unser Bild von den Tätern jener Zeit klarer geworden. Vollständig ist es allerdings noch lange nicht.

    Michael Wildt: "Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes”. Die Studie ist erschienen im Verlag Hamburger Edition, umfasst 968 Seiten und kostet 40 Euro.