Herr Professor Zeuske, die Sowjetunion ist untergegangen, die DDR ist von der Landkarte verschwunden, das sozialistische Weltsystem ist zusammengebrochen, nur das sozialistische Kuba hat überlebt. Warum? - Ein kubanisches Wunder? Kann man das sagen?
Zeuske: Aus der Perspektive des Jahres 2001 kann man sicherlich mit einigem Recht von einem "kubanischen Wunder" sprechen. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Ich würde sagen, das "kubanische Wunder", das Geheimnis dieses Überlebens besteht in einem Mix aus Charisma, breiter, sagen wir, 70prozentiger Zustimmung im eher bäuerlichen Kuba und politischer Magie von Castro.
DLF: Der Magier heißt Castro?
Zeuske: Der Magier heißt Castro.
DLF: Sie schreiben ja vom Mythos "Fidel". Dieser Mythos "Fidel" sei ungebrochen. Was macht den Mythos "Fidel Castro" aus?
Zeuske: Wenn man sich Kuba mal pointiert soziologisch anguckt, besteht es aus zwei Teilen: das große und das kleine Kuba. Das große Kuba ist das alte Plantagen- und Zucker-Kuba mit der Stadt Havanna im Mittelpunkt, und das kleine Kuba ist ein bäuerliches Kuba, in dem eine andere politische Kultur, andere Regeln der politischen Kultur arbeiten, die z. B. darin bestehen, dass der oberste Chef nicht nur Chef ist, sondern auch Freund, Patriarch, Freund in gewissem Sinne. Und ich glaube, diese Regeln spielen eine wichtige Rolle für das heutige Kuba.
DLF: Castro als eine Art "Caudillo"?
Zeuske: Als eine Art "Caudillo", allerdings nicht verstanden im schnellen pejorativen Sinne, sondern durchaus aus der Sicht kubanischer Bauern, die ihn eben als einen padre, Freund der Familie ...
DLF: padre, aber auch Diktator ...
Zeuske: aber auch Diktator verstehen.
DLF: Kann man ihn irgendwie einordnen unter den großen Diktatoren dieser Welt?
Zeuske: Irgendwann wird uns das bevorstehen, wenn er in die Geschichte eingegangen ist. Jetzt ist das ausgesprochen schwierig, ihn in die Reihe der Diktatoren einzubringen, weil aus dem Selbstverständnis eben die soziale Gerechtigkeit für Castro eine wichtige Rolle spielt. Er ist nicht zu vergleichen, wie man vielleicht jetzt in der gegenwärtigen Diskussion um Pinochet nahelegen könnte, mit Pinochet beispielsweise.
DLF: Franco?
Zeuske: Franco? - Mit dem Beginn von Franco - (dem) würde ich auch eher ablehnend gegenüberstehen. Aber von der Länge der Regierungszeit her, schon.
DLF: Sie benutzen ja in Ihrem Buch den Terminus "Castrismus". Was ist das eigentlich?
Zeuske: Castrismus ist eben ein System, das all das beinhaltet. Also, vor allen Dingen dieses Caudillo-Klientelhafte, aber eben aus der Sicht derjenigen, die in diesem System leben müssen und die zum großen Teil sicherlich schimpfen über ihn und alles mögliche erleiden müssen, aber im Konfliktfalle eben hinter ihm stehen werden - zu 70 Prozent, sage ich. Das sind nicht alle, und das ist nicht die Bevölkerung Havannas und nicht ein Teil der Jugend usw. Aber im Konfliktfalle werden 70 Prozent der Bevölkerung hinter ihm stehen.
DLF: Sie schreiben ja an einer Stelle Ihres Buches, der Revolution sei die Zukunft abhanden gekommen, sie sei nur noch vergangenheitsorientiert. Hat der kubanische Sozialismus keine Zukunft mehr?
Zeuske: Das ist schwierig zu beantworten. Ich würde mal sagen, als Sozialismus im Sinne des Verständnisses des Wortes Sozialismus, also soziale Gerechtigkeit, hat er sicherlich irgendwie überzeitlich Sinn. Aber ob er in dieser Präfiguration und Prägung, wie er jetzt ist, Castro überleben wird, wage ich zu bezweifeln.
DLF: Herr Professor Zeuske, wie mächtig oder ohnmächtig vielleicht auch ist die Gegenküste? Stichwort: Miami. Kuba wird von den USA aus massiv unter Beschuss genommen - zumindest propagandistisch. An der Spitze dieses Ätherkrieges steht Radio Martí. Verpufft das eigentlich alles wirkungslos auf der Insel, oder hat das irgendwelche Auswirkungen?
Zeuske: Das hat mit Sicherheit Auswirkungen. Ich will erstmal die Gefährdung beschreiben, die man aus Kuba, mehr aus dem offiziellen Kuba, von Miami sieht bzw. erwartet. Die Kubaner haben natürlich, gerade weil sie zehn Jahre die Wende in den anderen realsozialistischen Ländern überlebt haben, Zeit gehabt, die Konsequenzen zu studieren. Das bringt Castro ja relativ oft an. Da ist ein Kern dabei, der nicht vom Tisch zu wischen ist, gerade was die deutsch-deutsche Vereinigung betrifft, also dieses Prinzip: Rückgabe vor Entschädigung. Und das wissen die Kubaner ganz genau. Und sie wissen natürlich ganz genau, dass es eine ganze Reihe von Besitztiteln gibt, die in Miami vorhanden sind. Und das fürchten sie. Und diese Furcht kann Castro auch manipulieren. Das andere wird sehr viel gehört, und die Jugend ist sehr beeinflusst von diesem Radio Martí. Radio Martí ist eigentlich in aller Munde. Das hört jeder. Aber zu einer breiten sozialen Opposition hat es ja bisher noch nicht geführt. Das muss man genau so sehen.
DLF: Es sind ja einige oppositionelle Gruppierungen entstanden in den 90er Jahren. Sind das mehr oder minder Einzelkämpfer, oder ist das eine richtige organisierte Opposition?
Zeuske: Inwieweit sie organisiert ist, das ist eben schwer auszumachen. Es gibt so organisierte Kerne. Aber was ich zur Kenntnis nehme, wenn ich dort bin, (ist), dass diese Opposition nicht in der Lage ist, sich irgendwie außerhalb von Besuchen von ausländischen Politikern sehr deutlich sichtbar zu machen. Sie macht den Eindruck - sei es durch Repressionen, sei es durch geschicktes Ausmanövrieren seitens Castros -, dass sie nicht sehr einflussreich sei. Aber da will ich mich zurückhalten, weil man das möglicherweise nicht sieht. Vor 1989 hat man in der DDR auch noch nicht allzu viel gesehen.
DLF: Thema Repression. Ein Machtfaktor ist ja ganz gewiss die Armee. Kann man sagen, die Armee ist Machtfaktor Nummer eins hinter Castro, vor Castro?
Zeuske: Die Armee ist Machtfaktor Nummer eins, sozusagen unter Castro im Sinne einer Basis. Sie wird also klar im Griff gehalten von Raoul Castro, der im Grunde der Kaderchef der Familie Castro ist - und das ist ja an und für sich eine Familie, die da an der Macht ist; das ist ja Bestandteil dieses "Caudillismo" und dieses "Castroismo", dass da eine Familie an der Macht ist, Bruder und Bruder. Und Raoul, so uncharismatisch er ist, hat die Qualitäten eines guten Kaderchefs. Er hat die Leute handausgelesen. Die Armee ist Machtfaktor in dem Sinne, dass sie Basis ist und Machtfaktor auch in dem Sinne, dass sie im kubanischen Volk, eben dadurch dass viele Bauernsöhne Offiziere geworden sind, nicht als repressive Armee gilt oder noch nicht als repressive Armee gilt.
DLF: Herr Professor Zeuske, am 13. August wird Fidel Castro 75. Was kommt nach Castro? Was könnte nach Castro kommen? Wagen Sie da eine Prognose?
Zeuske: Ich meine, dass das, was wir jetzt sehen, also dieses System Castroismus, im Grunde erstmal ein Weilchen weitergehen wird als Castroismus ohne Castro. Die große Frage ist, wo kommt die charismatische Figur her, die das anführen kann. Da werden ja verschiedene Kandidaten gehandelt. Die sehe ich nicht so als Persönlichkeiten, die einen solchen Einfluss haben wie Fidel Castro. Das heißt, das ist noch ein bisschen ein Unsicherheitsfaktor. Aber die strukturelle Anlage, also Verstärkung des Einflusses der Armee, die Armee als Basis sozusagen dieses Systems, die ist da. Castroismus ohne Castro kann erstmal als Castroismus ein Weilchen weiterlaufen. Die Frage ist dann: Was wird mit der obersten Entscheidungsebene?
Zeuske: Aus der Perspektive des Jahres 2001 kann man sicherlich mit einigem Recht von einem "kubanischen Wunder" sprechen. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Ich würde sagen, das "kubanische Wunder", das Geheimnis dieses Überlebens besteht in einem Mix aus Charisma, breiter, sagen wir, 70prozentiger Zustimmung im eher bäuerlichen Kuba und politischer Magie von Castro.
DLF: Der Magier heißt Castro?
Zeuske: Der Magier heißt Castro.
DLF: Sie schreiben ja vom Mythos "Fidel". Dieser Mythos "Fidel" sei ungebrochen. Was macht den Mythos "Fidel Castro" aus?
Zeuske: Wenn man sich Kuba mal pointiert soziologisch anguckt, besteht es aus zwei Teilen: das große und das kleine Kuba. Das große Kuba ist das alte Plantagen- und Zucker-Kuba mit der Stadt Havanna im Mittelpunkt, und das kleine Kuba ist ein bäuerliches Kuba, in dem eine andere politische Kultur, andere Regeln der politischen Kultur arbeiten, die z. B. darin bestehen, dass der oberste Chef nicht nur Chef ist, sondern auch Freund, Patriarch, Freund in gewissem Sinne. Und ich glaube, diese Regeln spielen eine wichtige Rolle für das heutige Kuba.
DLF: Castro als eine Art "Caudillo"?
Zeuske: Als eine Art "Caudillo", allerdings nicht verstanden im schnellen pejorativen Sinne, sondern durchaus aus der Sicht kubanischer Bauern, die ihn eben als einen padre, Freund der Familie ...
DLF: padre, aber auch Diktator ...
Zeuske: aber auch Diktator verstehen.
DLF: Kann man ihn irgendwie einordnen unter den großen Diktatoren dieser Welt?
Zeuske: Irgendwann wird uns das bevorstehen, wenn er in die Geschichte eingegangen ist. Jetzt ist das ausgesprochen schwierig, ihn in die Reihe der Diktatoren einzubringen, weil aus dem Selbstverständnis eben die soziale Gerechtigkeit für Castro eine wichtige Rolle spielt. Er ist nicht zu vergleichen, wie man vielleicht jetzt in der gegenwärtigen Diskussion um Pinochet nahelegen könnte, mit Pinochet beispielsweise.
DLF: Franco?
Zeuske: Franco? - Mit dem Beginn von Franco - (dem) würde ich auch eher ablehnend gegenüberstehen. Aber von der Länge der Regierungszeit her, schon.
DLF: Sie benutzen ja in Ihrem Buch den Terminus "Castrismus". Was ist das eigentlich?
Zeuske: Castrismus ist eben ein System, das all das beinhaltet. Also, vor allen Dingen dieses Caudillo-Klientelhafte, aber eben aus der Sicht derjenigen, die in diesem System leben müssen und die zum großen Teil sicherlich schimpfen über ihn und alles mögliche erleiden müssen, aber im Konfliktfalle eben hinter ihm stehen werden - zu 70 Prozent, sage ich. Das sind nicht alle, und das ist nicht die Bevölkerung Havannas und nicht ein Teil der Jugend usw. Aber im Konfliktfalle werden 70 Prozent der Bevölkerung hinter ihm stehen.
DLF: Sie schreiben ja an einer Stelle Ihres Buches, der Revolution sei die Zukunft abhanden gekommen, sie sei nur noch vergangenheitsorientiert. Hat der kubanische Sozialismus keine Zukunft mehr?
Zeuske: Das ist schwierig zu beantworten. Ich würde mal sagen, als Sozialismus im Sinne des Verständnisses des Wortes Sozialismus, also soziale Gerechtigkeit, hat er sicherlich irgendwie überzeitlich Sinn. Aber ob er in dieser Präfiguration und Prägung, wie er jetzt ist, Castro überleben wird, wage ich zu bezweifeln.
DLF: Herr Professor Zeuske, wie mächtig oder ohnmächtig vielleicht auch ist die Gegenküste? Stichwort: Miami. Kuba wird von den USA aus massiv unter Beschuss genommen - zumindest propagandistisch. An der Spitze dieses Ätherkrieges steht Radio Martí. Verpufft das eigentlich alles wirkungslos auf der Insel, oder hat das irgendwelche Auswirkungen?
Zeuske: Das hat mit Sicherheit Auswirkungen. Ich will erstmal die Gefährdung beschreiben, die man aus Kuba, mehr aus dem offiziellen Kuba, von Miami sieht bzw. erwartet. Die Kubaner haben natürlich, gerade weil sie zehn Jahre die Wende in den anderen realsozialistischen Ländern überlebt haben, Zeit gehabt, die Konsequenzen zu studieren. Das bringt Castro ja relativ oft an. Da ist ein Kern dabei, der nicht vom Tisch zu wischen ist, gerade was die deutsch-deutsche Vereinigung betrifft, also dieses Prinzip: Rückgabe vor Entschädigung. Und das wissen die Kubaner ganz genau. Und sie wissen natürlich ganz genau, dass es eine ganze Reihe von Besitztiteln gibt, die in Miami vorhanden sind. Und das fürchten sie. Und diese Furcht kann Castro auch manipulieren. Das andere wird sehr viel gehört, und die Jugend ist sehr beeinflusst von diesem Radio Martí. Radio Martí ist eigentlich in aller Munde. Das hört jeder. Aber zu einer breiten sozialen Opposition hat es ja bisher noch nicht geführt. Das muss man genau so sehen.
DLF: Es sind ja einige oppositionelle Gruppierungen entstanden in den 90er Jahren. Sind das mehr oder minder Einzelkämpfer, oder ist das eine richtige organisierte Opposition?
Zeuske: Inwieweit sie organisiert ist, das ist eben schwer auszumachen. Es gibt so organisierte Kerne. Aber was ich zur Kenntnis nehme, wenn ich dort bin, (ist), dass diese Opposition nicht in der Lage ist, sich irgendwie außerhalb von Besuchen von ausländischen Politikern sehr deutlich sichtbar zu machen. Sie macht den Eindruck - sei es durch Repressionen, sei es durch geschicktes Ausmanövrieren seitens Castros -, dass sie nicht sehr einflussreich sei. Aber da will ich mich zurückhalten, weil man das möglicherweise nicht sieht. Vor 1989 hat man in der DDR auch noch nicht allzu viel gesehen.
DLF: Thema Repression. Ein Machtfaktor ist ja ganz gewiss die Armee. Kann man sagen, die Armee ist Machtfaktor Nummer eins hinter Castro, vor Castro?
Zeuske: Die Armee ist Machtfaktor Nummer eins, sozusagen unter Castro im Sinne einer Basis. Sie wird also klar im Griff gehalten von Raoul Castro, der im Grunde der Kaderchef der Familie Castro ist - und das ist ja an und für sich eine Familie, die da an der Macht ist; das ist ja Bestandteil dieses "Caudillismo" und dieses "Castroismo", dass da eine Familie an der Macht ist, Bruder und Bruder. Und Raoul, so uncharismatisch er ist, hat die Qualitäten eines guten Kaderchefs. Er hat die Leute handausgelesen. Die Armee ist Machtfaktor in dem Sinne, dass sie Basis ist und Machtfaktor auch in dem Sinne, dass sie im kubanischen Volk, eben dadurch dass viele Bauernsöhne Offiziere geworden sind, nicht als repressive Armee gilt oder noch nicht als repressive Armee gilt.
DLF: Herr Professor Zeuske, am 13. August wird Fidel Castro 75. Was kommt nach Castro? Was könnte nach Castro kommen? Wagen Sie da eine Prognose?
Zeuske: Ich meine, dass das, was wir jetzt sehen, also dieses System Castroismus, im Grunde erstmal ein Weilchen weitergehen wird als Castroismus ohne Castro. Die große Frage ist, wo kommt die charismatische Figur her, die das anführen kann. Da werden ja verschiedene Kandidaten gehandelt. Die sehe ich nicht so als Persönlichkeiten, die einen solchen Einfluss haben wie Fidel Castro. Das heißt, das ist noch ein bisschen ein Unsicherheitsfaktor. Aber die strukturelle Anlage, also Verstärkung des Einflusses der Armee, die Armee als Basis sozusagen dieses Systems, die ist da. Castroismus ohne Castro kann erstmal als Castroismus ein Weilchen weiterlaufen. Die Frage ist dann: Was wird mit der obersten Entscheidungsebene?