Archiv

Zum Tod von Michail Gorbatschow
Beliebt im Ausland - in Russland geächtet

Der letzte sowjetische Staatschef und Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow ist tot. In Russland wird ihm der Zerfall der Sowjetunion angelastet. Westliche Stimmen loben ihn dafür, den Weg für den Fall des Eisernen Vorhangs bereitet zu haben.

Von Robert Baag |
Michail Sergejewitsch Gorbatschow auf einer Pressekonferenz
Michail Sergejewitsch Gorbatschow (imago images / Dennis Brack)

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!

Mit diesem Zitat am 6. Oktober 1989 in Ostberlin, kurz vor dem Zusammenbruch der DDR, hat sich Michail Sergejewitsch Gorbatschow mindestens in Deutschland Unsterblichkeit gesichert. Doch: Was hat der sowjetische Staatspräsident damals Unter den Linden, vor der Neuen Wache, denn wirklich in die Mikrophone der Medien gesagt?
- "Ich bin sicher, dass jedes Volk selbst bestimmen wird, was in seinem eigenen Land notwendig ist."
- "Meinen Sie, dass die Situation in der DDR jetzt gefährlich ist?"
- "Ich denke nicht. Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren."
Hatte es das schon mal gegeben - einen Sowjetführer, der vor der Westpresse spontan eine Erklärung abgibt?", fragte noch 25 Jahre später Ulla Plog in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und erinnert sich:
"Es war ein langes Statement. Aber an die genauen Worte erinnerte sich, wie so oft beim Fernsehen, nachher niemand mehr. Die Szene an sich war die Botschaft. Ungefähr 30 Millionen Zuschauer sahen die Sternstunde am Abend in der Tagesschau. Am Tag danach, am 7. Oktober, passierte alles zur gleichen Zeit...
Da stand plötzlich in allen Medien dieser Satz: 'Wer zu spät kommt...'. Daraus wurde ein Schlüsselwort zur deutschen Einheit - der Anfang vom Ende der DDR."
Auch wenn der wahre Autor dieses Zitats wahrscheinlich Gorbatschows Pressesprecher Gerassimov gewesen ist. Der nämlich hatte einigen Journalisten zuvor noch vom angespannten Verlauf der gemeinsamen Sitzung des SED-Politbüros mit seinem hohen, aber ungeliebten Gast berichtet, der eigens zu diesem 40. Jahrestag der DDR-Gründung aus Moskau angereist war. Und dort sei sinngemäß, aber natürlich nicht-öffentlich, dieser Satz gefallen - an die Adresse von Erich Honecker samt dessen SED-Führungsriege. Die Fernsehbilder vom Vortag sowie der griffige Sinnspruch verschmolzen sogleich in eins - bis auf den heutigen Tag.
Viele DDR-Bürger fühlten sich damals in ihren Erwartungen und Hoffnungen ermutigt. Gorbatschows Beliebtheit wuchs dort ziemlich rasch, nachdem der damals 54-Jährige im März 1985 zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt worden war. Bald nach der Bestimmung Gorbatschows zur Nummer 1 der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sind völlig ungewohnte, geradezu liberal anmutende Töne aus Moskau zu hören. Die DDR-Führung indes reagiert argwöhnisch auf den vergleichsweise jungen Chef im Kreml und dessen Ideen, wie sich der Ex-DDR-Oppositionelle und SPD-Politiker Markus Meckel gut erinnert:
"Es war dann schon sehr schnell in der DDR so, dass man wirklich das Neue Deutschland‘ lesen musste, um die vollständigen Reden von Gorbatschow zu lesen, denn schon in den Bezirkszeitungen der SED sind die wichtigsten Teile herausgeschnitten worden."
Mitte der 1980er Jahre trennt der Kalte Krieg die Welt immer noch in ein westliches Lager mit den USA als Führungsmacht und in den sogenannten Ostblock. Im Westen verfolgt man die Auftritte und Initiativen des neuen Mannes in Moskau zunächst ebenfalls misstrauisch - auch wenn sich der eloquente Gorbatschow wenigstens äußerlich wohltuend von seinen greisen Vorgängern Brezhnev, Andropov und Tschernenko unterscheidet. Dennoch: Vorbehalte und Vorurteile sitzen tief bei vielen westlichen Politikern. Bundeskanzler Helmut Kohl etwa muss sich im November 1986, immerhin schon anderthalb Jahre nach Gorbatschows Amtsantritt, vor dem Bundestag für eine ziemlich missglückte Nazi-Anspielung in der US-Zeitschrift Newsweek öffentlich entschuldigen:
"Es liegt mir fern, Generalsekretär Gorbatschow zu nahe zu treten oder gar beleidigen zu wollen. Das Interview in Newsweek‘ gibt in der entsprechenden Passage Sinn und Inhalt des eineinhalbstündigen Gesprächs nicht korrekt wieder. Dabei ist der falsche Eindruck vermittelt worden, ich hätte Generalsekretär Gorbatschow persönlich mit Goebbels vergleichen wollen. Das war nicht meine Absicht. Ich bedaure es sehr..."

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

Gorbatschow schafft es in kurzer Zeit, die zuletzt erratisch anmutende sowjetische Außenpolitik seiner direkten Vorgänger aufzulockern. Egon Bahr etwa, einer der SPD-Architekten der Ost- und Entspannungspolitik noch aus den siebziger Jahren, lobt schon im Frühsommer 1987 flexibles Denken bei Gorbatschow:
"Er betrachtet die Außenpolitik der Sowjetunion nicht mehr unter dem Prisma der Ausschließlichkeit zu den Vereinigten Staaten. Ich glaube, dass es interessante, neue Ansätze geben wird, wenn sie von Westeuropa entsprechend gefördert oder beantwortet werden."
Egon Bahr täuscht sich nicht. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt wohl noch kaum jemand vorausahnt, welche erstaunliche Dynamik die Ost-West-Politik nun entwickeln wird, um schließlich nur zweieinhalb Jahre später die Berliner Mauer zum Einsturz zu bringen.
"Er hat erkannt, dass die Sowjetunion den Wettlauf mit dem Westen so nicht durchhalten kann. Er hat erkannt, dass der Versuch, die ökonomische Unterlegenheit militärisch zu kompensieren, sein Land ökonomisch immer weiter zurückwirft und (deshalb) vor einem Zirkel des Abgrunds steht, aus dem er heraus muss...", meint im Rückblick der Bremer Osteuropa-Historiker Wolfgang Eichwede. Er spielt in diesem Zusammenhang auch an auf den Krieg, den die UdSSR seit Dezember 1979 in Afghanistan führt, ideologisch getarnt als proletarisch-internationalistische Bruderhilfe für eine von Moskau völlig abhängige Vasallen-Clique in Kabul. - Gorbatschow beendet 1989 schließlich diesen Stellvertreter-Krieg und zieht die Sowjettruppen aus Afghanistan ab: Eine große Hypothek, um endlich substanzielle Abrüstungsgespräche mit dem Westen führen zu können, ist damit abgelöst.

Perestroika und Glasnost

Während Gorbatschow im Ausland für diese Politik, für sein neues Denken zunehmend gelobt und gefeiert wird, will es zu Hause mit seiner Reformpolitik nicht so recht vorangehen. -Schon 1986, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, muss er sich der ernüchternden wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit stellen, mit der das Riesenreich UdSSR inzwischen zu kämpfen hat. Zwar sorgen anfangs die unionsweit vom Fernsehen übertragenen sogenannten Begegnungen Gorbatschows mit den Werktätigen für eine positive Resonanz. Und auch die von ihm propagierten Schlagworte perestrojka (Umbau der Wirtschaft) und glasnost (ein Synonym für allgemeine Transparenz, weitestgehende Medienfreiheit samt liberalerer Kulturpolitik) treffen zunächst auf große Begeisterung. Gorbatschow versucht - oft begleitet von seiner Ehefrau Raissa - die Menschen zwischen Weißrussland im Westen und der pazifischen Küste in Fernost bei diversen öffentlichen Auftritten von seinen Reformplänen zu überzeugen:
"Die Probleme werden zunehmen. Wenn die Perestrojka alle Schichten der Gesellschaft erfasst, dann wird das ein schwieriger Prozess sein. Nicht gut wäre, wenn sich die Gesellschaft als Resultat der Perestrojka spalten würde. Die Gesellschaft sollte sich vielmehr zusammenschließen und zwar auch qualitativ! Der Hauptkontrolle bei uns wird über die Demokratie der Werktätigen erfolgen. Natürlich muß es die Parteikontrolle geben.... Die Partei muss das in die Hand nehmen - und zwar fest! Das ist ein richtiger Gedanke!"
Doch formieren sich längst auch die Beharrungskräfte im Land. Wortgeklingel und Reformkosmetik wirft dem bis an sein Lebensende bekennenden Lenin-Anhänger Gorbatschow eine wachsende Schar von Kritikern vor. Das sind nicht nur stalinistisch sozialisierte Hardliner aus dem KPdSU-Apparat, die um die Dogmen des Marxismus-Leninismus fürchten. Sondern auch Oppositionelle. Der Atomphysiker und Friedensnobelpreis-Träger Andrej Sacharow etwa, von Gorbatschow eben noch als politischer Dissident aus langer Verbannung nach Moskau zurückgeholt, legt vor dem Volksdeputierten-Kongress ungerührt den Finger in die Wunde:
"Wie schaut’s denn aus, Genossen?! Gemäß der geltenden Verfassung hat der Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR die absolute, praktisch unbegrenzte persönliche Macht! Die Konzentration einer solchen Machtfülle in der Hand eines einzigen Menschen ist hochgefährlich - sogar wenn dieser Mensch der Initiator der Perestrojka ist. Persönlich empfinde ich ja für Michail Sergejewitsch Gorbatschow den allergrößten Respekt. Aber hier geht es nicht um eine persönliche, sondern um eine politische Frage. Irgendwann wird an seiner Stelle jemand anderes sein!"
Dennoch, erinnert sich der Historiker Nikita Petrov von der Moskauer Menschenrechtsgesellschaft Memorial: Fast völlig verdrängt worden sei mittlerweile ein gar nicht hoch genug einzuschätzendes Verdienst aus der Zeit Gorbatschows:
"Ab 1986 ist niemand mehr aus politischen Gründen ins Gefängnis oder ins Lager gekommen. Das war die Initiative von Gorbatschow! Jetzt war damit Schluss! Hier beginnt eine andere Geschichte der Sowjetunion. Plötzlich wusste jeder: Egal, was du auch sagt - sitzen musst du nicht mehr dafür! Das war ein Umbruch!"
Gorbatschows Achillesferse indes bleibt die katastrophale wirtschaftliche Situation der Sowjetunion. Für den Osteuropa-Historiker Eichwede liegt dort der Kern für das spätere politische Scheitern Gorbatschows, des gelernten Mähdrescher-Mechanikers, studierten Juristen und kommunistischen Berufsfunktionärs seit jungen Jahren. Immerhin:
"Er hat die Agrarprobleme gekannt. Das war ja auch sein früherer Job innerhalb des Zentralkomitees und des Politbüros. Ich glaube, dass er die ganze Hoppelei‘ am Anfang seiner Amtszeit mit der Anti-Alkoholkampagne, wo sie mehr Steuern verloren haben als sie überhaupt retten konnten, als sie die uskorenie‘, die Beschleunigungs‘-Kampagne gemacht haben, dass das alles sehr hoppelartige Versuche waren und ihn nicht als einen großen Ökonomen ausweisen. Als er dann begonnen hat wirtschaftlich zu reformieren, hat er keine Zeit mehr gehabt..."
Und noch ein weiteres Problem haben Gorbatschow und seine Berater völlig unterschätzt: "Die nationale Frage spielte eine eminente Rolle..." ...meint der Publizist und Schriftsteller György Dalos, Autor der Gorbatschow-Biographie Mensch und Macht:
"Gorbatschow war kein Nationalist. Wäre er einer gewesen, hätte er vielleicht etwas mehr Empathie für die anderen Nationalismen. Aber er war keiner. Und er hat nicht verstanden, was diesen Republiken fehlt. Sie konnten diesen Nationen das Selbstwertgefühl nicht geben. Die nationalen Kulturen waren in diesem sowjetischen Einheitsstil fast ertrunken. Es war reine Folklore. Und nicht mehr. Und in einem Vielvölkerstaat, der dann beginnt mit ökonomischen Problemen zu kämpfen.... Jede Rezession führt (dann) automatisch zu zwischennationalen Fehden..."
...zu Fehden und sogar zu Kriegen auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR, an denen bald nicht nur etwa die Ukraine oder Georgien sehr lange zu leiden haben werden, sondern auch das postsowjetische Russland selbst. Die beiden blutigen Bürger- und Sezessionskriege in der Nordkaukasus-Republik Tschetschenien innerhalb eines einzigen Jahrzehnts seit 1994 sind einschlägige Beispiele.

Der 19. August 1991

Das staatliche sowjetische Fernsehen verkündet, dass gemäß Ukas des Vize-Präsidenten der UdSSR das Staatsoberhaupt Michail Sergejewitsch Gorbatschow aus Gesundheitsgründen von seinen Amtsverpflichtungen entbunden sei. Dessen Aufgaben übernehme nun ein sogenanntes Staatliches Notstandskomitee. Schnell wird klar: Der Innenminister, der Chef des Geheimdienstes KGB und der Verteidigungsminister haben gegen Gorbatschow geputscht, der auf der Krim Urlaub macht. Ein Anlass für diesen Nomenklatur-Aufstand ist der unterschriftsreife neue Unionsvertrag. Er soll den Sowjetrepubliken innerhalb der UdSSR weitreichende Souveränität gewähren. Genau dies aber lehnen die KPdSU-Hardliner ab. Sie befürchten als Konsequenz aus diesem Abkommen das Auseinanderbrechen der Sowjetunion.
Und: Genau dies wird vier Monate später auch geschehen. Ihr mangels Unterstützung seitens der Bevölkerung kläglich gescheiterter Putschversuch war dabei der Katalysator. Nach knapp sieben Jahrzehnten implodiert das Gebilde UdSSR. Auch Michail Gorbatschows politische Karriere findet am ersten Weihnachtsfeiertag 1991 ihr abruptes, aber friedliches Ende. Äußerlich gefasst sitzt er zum letzten Mal hinter seinem Schreibtisch im Moskauer Kreml:
"Liebe Landsleute, Mitbürger!",fasst er sich kurz. "Unter dem Druck der augenblicklichen Situation beende ich meine Tätigkeit auf dem Posten des Staatspräsidenten der UdSSR."
Was in diesem Augenblick aber tatsächlich in ihm vorgeht, wird er erst viele Jahre später erzählen: "Die rote Fahne, so heißt es, haben sie noch während meiner Fernsehansprache vom Kreml heruntergeholt, konnten gar nicht schnell genug aufs Dach kommen.... Schade, dass keiner von denen heruntergefallen ist. Schade, Herrgott nochmal!"
Gemeint ist damit in erster Linie sein Rivale Boris Jelzin, der zwar einige Monate zuvor erfolgreich den Anti-Gorbatschow-Putsch beendet hat, ihn danach aber zielstrebig zu entmachten beginnt. Am Ende mit Erfolg, so Wolfgang Eichwede, denn Gorbatschow habe sich nicht vorstellen können, "... dass sich Russland gegen die Sowjetunion wendet. Von mir aus: Die Esten schon irgendwie, oder die Armenier... Aber, dass sich das Bollwerk der Sowjetunion gegen ihn und die Sowjetunion wenden konnte, in der persönlichen Konstellation ´Jelzin - Gorbatschow‘, das hat er einfach nicht auf seinem Schirm gehabt. Im Übrigen: Wir auch nicht!"
"Unsere Gesellschaft erhielt ihre Freiheit, hat sich politisch und geistig aus ihrem Sklavendasein befreit - und das ist die allerwichtigste Errungenschaft, die uns immer noch nicht bis zu ihrer tiefsten Tiefe bewusst ist, weil wir nicht gelernt haben, die Freiheit zu nutzen. Aber dennoch ist das bisher Erreichte bereits von historischer Bedeutung: Das totalitäre System ist liquidiert, das unserem Land bislang die Möglichkeit vorenthalten hat, schon längst glücklich und blühend zu sein. Der Durchbruch zu demokratischen Veränderungen ist erfolgt. Freie Wahlen sind ebenso Wirklichkeit geworden wie Presse- und Religionsfreiheit, es herrscht Parteienvielfalt. Die Menschenrechte sind als oberstes Prinzip anerkannt!"
Diese Passage aus Gorbatschows Abschiedsansprache am 25. Dezember 1991 illustriert den sympathischen aber letztlich realitätsfernen, idealistischen Ansatz dieses Politikers, der immerhin knapp 30 Jahre lang die Ochsentour eines KP-Apparatschiks durchlaufen muss, bis er sich - als Mitglied wechselnder Seilschaften und Fraktionen - zur Spitze der KPdSU durchboxt. Machtbewusst zu taktieren ist ihm nicht fremd. Zugleich jedoch wird deutlich, dass Gorbatschows politisches Analysevermögen begrenzt gewesen ist. Er hat nicht erkannt, dass im Staat und in weiten Teilen der russischen Gesellschaft jene Denk- und Verhaltensmuster nur zeitweilig auf Tauchstation gegangen sind, die sich aus reaktionären, repressiven und totalitären sowjetischen Traditionen speisen. - Und bitter für Gorbatschow: Für viele seiner russischen Landsleute bleibt er zeitlebens als Person wie Politiker in negativer Erinnerung. Die Kreml-Mannschaft unter seinem Nachfolger Putin bildet dabei sogar die Anti-Gorbatschow-Speerspitze, weiß der Moskauer Meinungsforscher Lew Gudkov:
"Er reizt die Putin-Mannschaft. Putins Umgebung ist Gorbatschow gegenüber negativ eingestellt. Kein Wunder bei der imperialen‘ Grundhaltung dieser Leute mit ihrer äußerst ausgeprägten Sehnsucht nach der Sowjetunion, nach den sowjetischen Zeiten. Schon deshalb ist er für sie der Sündenbock, der für alles herhalten muss."
Doch keineswegs alle Menschen in Russland denken so. - Arsenij Roginskij von der Moskauer Menschenrechtsorganisation Memorial plädiert für eine selbstkritische Sicht auf das Leben und Wirken des südrussischen Bauernsohnes Gorbatschow, den Vater von glasnost und perestrojka, den wichtigen Wegbereiter der deutschen Einheit 1989/90:
"Wir waren endlos naiv, als wir von ihm dieses und dann noch jenes gefordert haben. Aber, mein Gott, alles in allem haben wir mit Gorbatschow insgesamt doch Glück gehabt. Und dass es ihn gegeben hat."
Gorbatschows bleibende historische Bedeutung, so Wolfgang Eichwede, bestehe in der Einsicht: "Dass, als er gesehen hat, dass die Geschichte über ihn weggeht, er sich nicht militärisch dagegengestellt hat. Also Gorbatschow ist - auf einen Satz gebracht - groß, durch das, was er probiert hat und groß durch das, was er unterlassen hat."