Ein offenes Manteltuch umfängt die Gestalt Gottes - aufgebauscht vom Wind. Adam liegt nackt auf weichem Erdengrün. Beide - Gott und Adam - halten Arm und Hand aufeinander zu gestreckt. Ihre Zeigefinger kommen sich so nah, als würden sich gleich ihre Fingerspitzen berühren.
Es ist geschafft. Sechzehn "giornate", fast drei Arbeitswochen, hat es gebraucht, um in der Sixtinischen Kapelle das Deckenfresko "Die Erschaffung Adams" fertigzustellen. Es ist groß - genauer: 4,80 Meter mal 2,30 Meter groß. Vier "giornate", vier Arbeitstage, brauchte es, um die Gestalt Adams zu vollenden. "Die Erschaffung Adams" ist zweifellos das berühmteste Fresko der Sixtinischen Decke.
"Eine Figur, die in ihrer Schönheit, ihrer Haltung und ihren Umrissen so erscheint, als sei sie vom ersten und höchsten Schöpfer selbst erschaffen worden, nicht aber durch den Pinsel und nach der Zeichnung eines sterblichen Menschen."
Schreibt rund 60 Jahre später Giorgio Vasari. Der Hofmaler der Medici ist bekannt für seine Künstlerbiografien. Vasaris "Vita di Michelangelo Buonarroti" erscheint 1568, vier Jahre nach Michelangelos Tod. Von ihm, von Vasari, stammt auch der Titel des Freskos: "Die Erschaffung Adams". Nicht von Michelangelo. Der Kunsthistoriker Ross King erklärt in seinem Buch: "Michelangelo und die Fresken des Papstes":
"Wenn Michelangelos Adam sich nicht von dem von Gott unterscheiden lässt, folgt daraus, dass er selbst eine Art Gott ist. Ein höheres Lob kann man sich kaum vorstellen."
Michelangelo ist sich der Lücke bewusst
Doch nichts liegt Michelangelo ferner als eine solche Einschätzung seines künstlerischen Schaffens, nichts ferner als seine Selbstvergottung als Künstler. Stets ist er sich des Abstands zwischen Gott und Mensch deutlich bewusst.
Gewiss strecken sich Gottes und des Menschen Hand einander entgegen, gewiss weisen ihre Fingerspitzen aufeinander zu - doch da ist eine Lücke, ein Abstand zwischen ihnen. Er mag winzig erscheinen, und dennoch ist er da.
Das Bild zweier Hände, die sich einander entgegenstrecken, wird im Laufe der Jahrhunderte zum Pars pro toto. Wie selbstverständlich ist sogar von einer Berührung der Finger die Rede. Dazu der Kunsthistoriker Ross King:
"Die Berührung der beiden Hände wurde zu einem Leitgedanken, zu einer Art von Grundton für das gesamte Fresko."
"Ich bin kein Maler"
Michelangelo ist gerade 33 Jahre alt geworden, als er am 10. Mai 1508 den Auftrag erhält, die Decke der Sixtinischen Kapelle mit Fresken neu zu gestalten. Auftraggeber ist Papst Julius II. Der Auftrag - eine Zumutung. Michelangelo, der Bildhauer, soll in 20 Metern Höhe eine Fläche von fast 600 Quadratmetern ausmalen - in einer Technik, die er zwar erlernt hat, in der er aber wenig erfahren ist.
"Ich verliere meine Zeit, Gott helfe mir."
Schreibt er verzweifelt an seinen Vater und stöhnt an anderer Stelle:
"Ich bin kein Maler, hier gehts mir schlecht."
Nichts davon ist im Bild zu spüren. Gelöst liegt Adam auf dem leicht abschüssigen Grün. Halb aufgerichtet in entspannter Haltung. In vollendeter Form verläuft die Linie seines Körpers von den Zehen des ausgestreckten rechten Beins über die Schultern und den ausgestreckten linken Arm bis zur Spitze seines Zeigefingers. Seinen nackten Leib wendet er dem Betrachter zu. Keine Frage: Adam ist schön.
Von Michelangelo selbst ist kein Kommentar zu seinem Werk überliefert. Kein Wort zur Schönheit seines mit Pinsel und Farbe geschaffenen Menschen. In seiner Dichtung aber, die sein künstlerisches Tun sein Leben lang begleitet, verschafft er sich Klarheit darüber, was ihn als Künstler antreibt.
"Als Leitstern meines Kunstberufes ward / Bei der Geburt die Schönheit mir gegeben, / In beiden Künsten Spiegel mir und Licht. / Nur sie kann mich zu jenen Höh'n erheben, / Auf die ich bildend meine Augen richt'."
Lautet es in einem seiner Sonette. Michael Engelhard hat Michelangelos Sonette übersetzt. Er erläutert:
"Viel ist darüber gedacht und geschrieben worden, von wem Michelangelo seinen Begriff der Schönheit übernommen habe. Alle möglichen Bücher von Renaissance-Dichtern und ‑Philosophen wurden durchstöbert. Schönheit war für ihn jedoch weniger ein Begriff, sondern die Grunderfahrung seines Lebens. Diese Schönheit hat er mit seinen Augen geschaut, in seiner Seele erlitten und in seinem Werk gestaltet."
Über die Medici zur Neuplatonik
Michelangelo Buonarotti wird in einem kleinen Ort in der Toskana geboren - und zwar in Caprese am 6. März 1475. Mit 13 beginnt er in Florenz in der Werkstatt der Brüder Domenico und Davide Ghirlandaio eine Lehre als Maler. Bereits ein Jahr später wechselt er in die Kunstschule von Lorenzo de' Medici - in den berühmten Giardino di San Marco mit seinen antiken Skulpturen -, um sich dort als Bildhauer ausbilden zu lassen.
Der Bankier und Politiker ist ein Förderer der Künste, der Philosophie und der humanistischen Wissenschaften. In seiner Kunstschule lernt Michelangelo die geistigen Größen seiner Zeit kennen, die hier ein- und ausgehen. Der Kunsthistoriker Ross King:
"Zu diesen Gelehrten hatten zwei der größten Philosophen der Zeit gehört: Marsilio Ficino, der Leiter der Academia Platonica, der die Werke Platons ins Lateinische übersetzt hatte, und Giovanni Pico, Conte della Mirandola, der Verfasser der 'Oratio de dignitate homini', der 'Rede über die menschliche Würde'. Wie intensiv der Umgang war, den Michelangelo mit diesen Männern des Geistes pflegte, ist jedoch unklar."
Intensiv genug jedenfalls, um mit ihrem philosophischen Gedankengut bekannt zu werden. Nicht zuletzt mit der den Geist der Renaissance prägenden neuplatonischen Metaphysik des Schönen.
Deshalb vermag der Anblick sinnlicher Schönheit die Seele des Menschen zu beflügeln und sie hin zum Wahren, hin zum göttlich Schönen zu führen. Marsilio Ficino beschreibt es mit den Worten:
"Was uns in den Himmel zurückführt, ist ein Aufwärtsstreben zur übersinnlichen Schönheit und wird in uns durch den Anblick des körperlich Schönen erweckt."
Und Michelangelo findet in einem Sonett die Zeilen:
"Den Augen wird im Drang nach schönen Dingen, / Der Seele im Verlangen nach dem Heil, / Nur eine Kraft zuteil, / Die Schau des Schönen, / Sich emporzuschwingen, / In unsres Sehnens Trübe, / Zum Himmel es zu bringen."
Von einem solchen Verlangen jedoch ist Adam noch weit entfernt, wie er so daliegt in schöner Unbefangenheit auf seinem weichen Erdengrün. Noch umfließt ihn der Glanz des allerersten Lichts. Noch ist seine Seele klar wie ein Spiegel und kein banges Sehnen trübt sein Gemüt. Noch ist er dem Schöpfer so nah, dass er ihm ohne Scheu Arm und Hand entgegenstreckt.
"Amo: volo ut sis"
Wie für die Gestalt Adams braucht Michelangelo auch für die Gestalt Gottes nur vier "giornate", um sie zu vollenden. Vier Arbeitstage für die Darstellung des Schöpfers, der sich Adam nähert - wie im Flug, in gestreckter Haltung, fast liegend und mit übereinander gekreuzten Beinen. Dazu der Kunsthistoriker Ross King:
"Die frühe christliche Kunst ging bei Darstellungen von Schöpfungsszenen selten darüber hinaus, mehr vom Schöpfer zu zeigen als eine riesige Hand, die aus den Himmeln hervorkam."
Nun strecken sich Arm, Hand und Zeigefinger Adam entgegen. Nicht von hoch oben, sondern fast auf gleicher Höhe mit ihm.
Der Flugwind hat den Ärmel seines Gewands hochgeschoben, bis hinauf zur rechten Schulter. Er gibt Gottes kraftvollen Arm frei. Ein leises Lächeln umspielt zugleich seine Lippen. Als wäre seine Bewegung hin zu Adam getragen von einem großen "Ich liebe: ich will, dass du bist".
"Amo: volo ut sis", lautet die vielzitierte Wendung, die oft Augustinus zugeschrieben wird. In Wirklichkeit stammt sie von Johannes Duns Scotus, dem scholastischen Theologen und Philosophen aus dem 13. Jahrhundert. Wenn es aber die Liebe Gottes ist, die den Menschen ins Leben ruft, ihn sein lässt, wozu braucht es dann noch eine Berührung ihrer Fingerspitzen? In der hebräischen Bibel jedenfalls ist kein Beleg dafür zu finden. Im ersten Schöpfungsbericht der "Genesis" steht:
"Nun sprach Gott: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei."
Im zweiten Schöpfungsbericht ist zu lesen:
"Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen."
Doch so oder so - nichts davon ist im Bild zu sehen. Deutlich zu erkennen hingegen ist jener Abstand zwischen den Zeigefingern, jene winzige Lücke, die sich - fast im Zentrum des Bildes - vor der lichterfüllten Weite des Himmels abzeichnet.
"Es ist entscheidend, dass sich die Finger nicht berühren"
Der Kunstwissenschaftler David Hornemann von Laer schreibt 2008 in seinem Buch "Vom Geschöpf zum Schöpfer":
"Seit Vasaris Beschreibung einer 'Creazione di Adamo' wird das Bild als 'Erschaffung Adams' bezeichnet. Indes ist entscheidend, dass sich die Finger nicht berühren."
Denn dies hat Michelangelo deutlich, überdeutlich vor Augen: diesen Abstand zwischen Gott und Mensch, diesen Moment, in dem alle Bewegung innezuhalten scheint und sich zu höchster Spannung auflädt. So nah Schöpfer und Geschöpf einander auch sind, so weit sind beide zugleich voneinander entfernt. Deshalb muss zwischen ihnen eine Lücke klaffen.
Sein Gesicht hat Adam hin zu Gott gewendet. Doch seltsam - sein Blick sucht nicht das Antlitz, nicht das Auge seines Schöpfers. Wie magisch angezogen haftet sein Blick sinnend auf dieser Lücke zwischen ihren Fingern. Noch weiß er nicht, was sie bedeutet, noch weiß er nicht, was ihn als Mensch erwartet.
Wie oft mag auch Michelangelo auf diese Lücke gestarrt haben - hoch oben auf seinem Malgerüst unter der Decke der Sixtina. In einem Brief an seinen Bruder klagt Michelangelo:
"Ich lebe hier in großer Kümmernis und härtester körperlicher Anstrengung und habe keine Freunde und will auch keine haben; und ich habe nicht einmal soviel Zeit, dass ich das Nötigste essen kann."
Unentwegt kreist Michelangelos Denken um die Lücke zwischen Gottes und Adams Finger. Denn anders als Adam weiß Michelangelo als Mensch um diesen Abstand. Kennt das Verlangen, diese Kluft zu überwinden, die Sehnsucht, dem Glanz und der Nähe des Göttlichen erneut teilhaftig zu werden. Das lässt ihn immer wieder zur Feder greifen:
"Zerreiß den Schleier, Du o Herr! Zerbrich die Mauer, / Die uns mit hartem Stein vom Glanze trennt / Des Lichts, das dieser Welt erlischt und schwindet! / Send des verheißnen Leuchtens künft'ge Dauer, / Dass mir entbrennt das Herz / Und ohne Furcht nur dich empfindet."
Ohne Frage ist auch für Michelangelo der Mensch das Abbild Gottes. Deshalb ist der Mensch schön - und deshalb ist auch sein Adam schön.
Kein typischer Renaissance-Humanist
Zugleich aber quälen ihn als Künstler Ungewissheit und Zweifel: Ist es möglich, durch den Anblick sinnlicher Schönheit tatsächlich zum Glanz "übersinnlicher Schönheit" - zum Licht Gottes und seiner Wahrheit - emporsteigen zu können? So, wie es die neuplatonische Metaphysik lehrt und wie er es selbst in seinen Sonetten wieder und wieder beschworen hat. Doch so ganz anders klingt es jetzt, wenn er schreibt:
"Ich weiß nicht, ist es das ersehnte Licht / Des Schöpfers, welches meine Seele spürt, / Hat eine andre Schönheit mich berührt, / Ist es ein Schein, ein Traum, den jemand dicht / vor meinen Blick und vor das Herz mir führt, / Ist's irgendein Erglühn, das mich rührt, / Bis Tränen rinnen über mein Gesicht? / Ich weiß es nicht."
Aus diesem Bekenntnis spricht nicht der selbstbewusste Geist des Renaissance-Humanismus, wie ihn Michelangelo in jungen Jahren in Florenz kennengelernt hat. Nicht die philosophische Begeisterung eines Marsilio Ficino oder eines Giovanni Pico della Mirandola mit ihrem Vertrauen in die Selbst-Vervollkommnung des Menschen.
Auch nicht ihr Glaube, aus eigener Kraft sogar die Sphäre des Göttlichen erreichen zu können. So heißt es bei Pico della Mirandola in seiner berühmten "Rede über die Würde des Menschen":
"In die Mitte der Welt bist du gestellt, o Mensch. Es steht dir frei, zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren zu werden, wenn deine Seele es beschließt."
Ein solches Selbstvertrauen aber entspricht keineswegs der Seelenlage Michelangelos. Denn eins erfährt er in seinem künstlerischen Schaffen immer deutlicher:
"Das, was ich fühl und suche, was mich führt, / Ist nicht in mir, noch seh den Ort ich, da / ich's finde, wenn mir's ein anderer nicht weist."
Michelangelo schreibt:
"Denn in mir selbst ist weder Kraft noch Wille."
Nein - Willenskraft spricht nicht aus ihm, wie er so daliegt im frühen Licht der Schöpfung, sich ganz dem überlassend, was geschieht. Unverkennbar gehen alle Kraft und aller Wille von Seiten seines Schöpfers aus. Und diese Wirkmacht Gottes strahlt über den Abstand zwischen ihren Fingern hinweg - weit in die Sphäre seines Geschöpfs, in die Sphäre Adams, hinein.
"Gott hat uns nicht geschaffen, um uns zu verlassen"
"Amo: volu ut sis - Ich liebe, das heißt, ich will, dass du bist."
Diese Liebe aber braucht keine körperliche Berührung, um zu berühren. Und auf diese Liebe kann nicht allein Adam - im Glanz seiner ursprünglichen Nähe zu Gott - vertrauen, sondern ebenso der von Gott getrennte Mensch.
In diese Liebe weiß sich auch Michelangelo einbezogen. Trotz Ungewissheit und Zweifel. Trotz Verzweiflung über das eigene schöpferische Unvermögen. In einer kleinen Notiz hat er diese Gewissheit zu Papier gebracht:
"Gott hat uns nicht geschaffen, um uns zu verlassen."
Vielleicht ist in diesem Satz der Kerngedanke seines Bildes enthalten, das als "Die Erschaffung Adams" weltberühmt wurde. Die Essenz seiner eigenwilligen Auslegung der biblischen Schöpfungsgeschichte: Bei ihm erzählt sie von der unaufhebbaren Distanz zwischen Gott und Mensch - aber zugleich von ihrer Nähe. Bildgeworden in jener winzigen Lücke zwischen ihren Fingerspitzen.
Dann ist die Arbeit abgeschlossen.
"Ich habe die Ausmalung der Kapelle beendet",
schreibt er an seinen Vater,
"Der Papst ist außerordentlich zufrieden".
Die Schönheit als Grunderfahrung des Lebens
Am Abend vor Allerheiligen, am 31. Oktober 1512, wird die Sixtinische Kapelle mit den neuen Deckenfresken für die Besucher geöffnet. In seiner "Vita di Michelangelo Buonarroti" berichtet Giorgio Vasari:
"Als sein Werk enthüllt wurde, sah man alle Welt von überall her herbeiströmen, und es ließ alle Leute in höchster Verwunderung verstummen."
Die Schönheit als Grunderfahrung seines Lebens wird auch weiterhin Michelangelos schöpferisches Feuer entfachen. Doch immer stärker empfindet er die Grenzen seiner Kunst. "Nicht Malen und nicht Meißeln hilft hier mehr", heißt es in einem seiner späten Sonette:
"Die Seele will in Gottes Liebe ruhn."
Und es klingt fast wie im Blick zurück auf sein Fresko, zurück auf die anfängliche Nähe von Schöpfer und Geschöpf, zurück auf das ewige Aufeinander zu ihrer beiden Hände, wenn er schreibt:
"Herr, ganz zuletzt / Nimm mich mir selbst, dass nur Dein Arm mich hält, / Mach mich zu einem, der Dir wohlgefällt."
Diese Sendung wurde erstmals am 20.12.2017 in der Reihe "Aus Religion und Gesellschaft" ausgestrahlt.
Diese Sendung wurde erstmals am 20.12.2017 in der Reihe "Aus Religion und Gesellschaft" ausgestrahlt.