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Michelle in den Fängen des Sachbearbeiters

Wer Entscheidungen trifft, kann Fehler machen und in der Zeit der Pubertät, in der alles aus den Fugen gerät, ist die Quote besonders hoch. Genau in diesem problematischen Lebensabschnitt spielt Martina Wildners neuer Roman "Michelles Fehler", erschienen bei Bloomsbury. Wie schon in ihrem mit dem Peter-Härtling-Preis ausgezeichneten Buch "Jede Menge Sternschnuppen" dreht sich alles um Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Die Berliner Autorin schildert einen Tag im Leben von Michelle Mitzow. Wir würden sagen, das Mädchen hat einfach nur einen Pechtag. In der Sprache des Fehlerberechnungsamtes heißt es Ausreißertag. Absurd, dabei tiefgründig und voller Ironie berichtet die Berliner Autorin aus dem nicht ganz so einfachen Alltag eines Teenagers und einer fiktiven Behörde, deren Sachbearbeiter nach einem völlig schiefgelaufenen Tag nur noch nach dem Telefon greifen kann, um Entschädigungsleistungen anzubieten. Karin Hahn stellt das Jugendbuch "Michelles Fehler" im Gespräch mit Martina Wildner vor.

Von Karin Hahn |
    Martina Wildner:
    " Die Idee für das Buch bekam ich nach einem eigenen persönlichen Pechtag, wo ich eben bemerkt habe, dass Fehlerketten entstehen können, dadurch dass man einen Fehler macht, der dann noch einen Fehler nach sich zieht und im schlimmsten Fall baut man gleich einen Autounfall oder so was. Und deswegen habe ich den ersten Satz geschrieben: Niemand auf der Welt macht soviel Fehler wie Michelle. Der ist im Buch jetzt nicht mein erster Satz, da habe ich ja die Szene vom Fehlerberechnungsamt vorgeschaltet. Aber das war mein Ursatz, auf den habe ich alles aufgebaut. "

    Schmidt nickte. "Dann unterschreiben Sie das." Schmidt las:
    " Sachbearbeiter Schmidt, Kennnummer EDB 2737 4777-S1 b/w: Die mir und meiner umsichtigen Bearbeitung anvertraute Michelle Mitzow hat aufgrund meiner eigenen Fahrlässigkeit ihre Existenzbescheinigung gesehen. Der Tatbestand einer Gesehenen Existenzbescheinigung (GE) liegt hiermit vor. Das Fehlerberechnungsamt (FBA)."
    Schmidt unterschrieb, der Beamte legte ihm Handschellen an, dann wurde Schmidt abgeführt. (...)
    Niemand, dachte Michelle und kroch unter ihr Bett, niemand auf der ganzen Welt macht so viele Fehler wie ich.


    Unfähige Beamte gibt es überall, auch im kafkaesken Fehlerberechnungsamt, von dem die vierzehnjährige Michelle nicht die geringste Ahnung hat. Sie weiß nicht, dass all ihre Fehler peinlich genau aufgelistet und analysiert werden. Und sie hat auch keine Vorstellung von gelben Existenzbescheinigungskarten, die bei Jugendlichen alle zwei Jahre durch eine Revision überprüft werden müssen. Die ersten Seiten des Romans stürzen den Leser kurzzeitig in Verwirrung. Doch nach und nach entflechten sich die Zusammenhänge zwischen Michelles Alltag und dem Aufgabenbereich ihres im Hintergrund agierenden Sachbearbeiters Herrn Schmidt. Michelle hat einen Dienstag voller Pleiten, Pech und Pannen vor sich. Am Morgen dieses 15. März 2005 wird das Mädchen erst mal verschlafen, die falsche Kleidung wählen, sich schlechte Noten einfangen, erneut Zielscheibe für Lydias gemeine Angriffe werden und zum ersten Mal in ihrem Leben den Unterricht schwänzen. Der Handlungsverlauf des Romans rangt sich um diesen einen Tag und seine sich zuspitzenden Konflikte. Unterbrochen wird der Erzählfluss durch die akribische Registrierung und Benennung der 85 Fehler, die sich Michelle innerhalb von zehn Stunden leisten wird. Herr Schmidt ist jedenfalls nicht bereit, sich in das Innenleben eines pubertierenden Teenagers hineinzuversetzen.

    Schmidt warf den Bleistift hin. " Das ist doch nicht möglich! Die braucht sich gar nicht zu wundern, dass bei ihr alles schief läuft." Schmidt, der der Meinung war, dass die meisten der bei Jugendlichen auftretenden Fehler auf Disziplinlosigkeit, Faulheit und Langeweile zurückzuführen waren, wurde langsam wütend.

    " Also erst mal hat mir dieser Schmidt gefallen. Ich fand es total toll, mal in Anführungsstrichen ein "Arschloch" sein zu dürfen. Und dann hat mir die Systematisierung Spaß gemacht. "

    Mit Perfektion und logistischer Raffinesse entwirft Martina Wildner ein Fehlerlexikon - ein theoretisches Fundament, um ihrer Behörde eine Daseinsberechtigung zu geben. Da ist zum einen der Beamtenapparat mit seinen Zuständigkeitsbereichen. Die Sachbearbeiter ergreifen diesen Job übrigens erst nach ihrem Tod. Zum anderen gibt es verschiedene Abteilungen, Unterabteilungen, exakte Begriffsklärungen und unzählige Verordnungen in staubtrockener Verwaltungssprache.

    " Das Amt ist praktisch das ausgelagerte Fehlerbewusstsein eines Mädchens. Das ist ein literarischer Trick. Ansonsten könnte auch das Mädchen selber die ganze Zeit zählen. Diese Absurdität kommt, finde ich, besser zur Geltung, wenn das Ganze so ein seltsames Amt ist. Mir ist beim Schreiben selber aufgefallen, das das Ähnlichkeiten haben könnte mit eben Stasi oder ähnlichen Einrichtungen. Hab dann ein bisschen einen Schreck gekriegt, hab dann aber beschlossen, dass das einfach eine Tatsache ist. "

    Herr Schmidt ist aber nicht nur für die passive Observierung zuständig, er kann durch Tastenkombinationen seines Rechners Einfluss auf die Stimmung des zu Beobachtenden nehmen und sein Verhalten manipulieren, was allerdings vom Amt nicht gern gesehen wird.

    " Also ein Schutzengel war das nie für mich. Er hat ja auch nie die Aufgabe da irgendetwas Gutes zu tun, sondern das ist eine blöde Behörde. Die ist zu nichts anderem da als die Fehler zu zählen. Sie soll auch nicht beschützen. "

    Der Roman entfaltet sich durch Rückblenden, innere Monologe und die Fehlentscheidungen der beiden Hauptfiguren. Michelle hasst ihren Vornamen, ist viel zu klein für ihr Alter, wartet immer noch auf ihre Periode und leidet unter Lydias verbalen Attacken. Vor drei Monaten ist ihre Kleinfamilie auseinander gefallen. Michelles Vater lebt nun in Hamburg.

    Man konnte so viel falsch machen! Das ganze Leben war voller Wahlmöglichkeiten; und jede konnte ein Fehler sein. Michelle wusste nicht genau, wann es angefangen hatte, dass ihr jede Entscheidung schwerer und schwerer zu fallen begann. Doch sie ahnte, dass es mit dem Auftauchen des Wortes Hamburg zu tun haben musste.

    Als Michelle dann einen anthrazitfarbenen Audi mit Hamburger Kennzeichen an der Schule sieht, glaubt das Mädchen, dass es der Wagen ihres Vaters ist.

    Schmidt starrte auf seinen Monitor. Eine schwarze Schrift lief über den Schirm. Achtung! Gefahr von Fehlerketten! (...) Eine Fehlerkette der Stärke S7+ bahnte sich an. (...) Schmidt beugte sich über seine Akte.

    Schmidt hat schon längst seine professionelle Objektivität für diesen Fall verloren. Michelle lügt, klaut, verursacht einen Sachschaden und bringt sich immer mehr in Schwierigkeiten. Ihre Methode sich das Leben in den unterschiedlichsten Situationen mit Abzählen und Rechnen einfacher zu machen, funktioniert nicht.

    " Sie will die Welt eben greifbar machen und für sich in Ordnung halten und dafür dient das Zählen. Ich zähle auch selber gern. Ich hab auch als Kind ganz viele Listen gemacht von Dingen und hab alle Erdteile immer in Listen eingetragen und Bodenschätze eingetragen. "

    Als Michelle dann mit ihrem Sachbearbeiter durch Zufall auf der Kantstrasse - eine beiläufige Anspielung auf das Weltbild des Philosophen - zusammenstößt und verblüfft ihre eigene Existenzbescheinigungskarte sieht, trifft Schmidt eine verhängnisvolle Entscheidung: Michelle muss sterben bevor die Revision vorgenommen werden kann. Martina Wildner treibt die Ereignisse folgerichtig mit Spannung und trockenem Humor auf die Spitze. Die Stärken ihres Buches liegen im rückhaltlosen Einlassen auf die Mächte des Unsinns, des FBA einerseits und den realistisch nachvollziehbaren Alltagsproblemen des sympathischen, starken Mädchens andererseits. Klare Antworten auf die grundlegenden Existenzfragen, die Michelle auch am Ende des Tages bewegen, werden nicht geliefert, aber dafür viel Raum zum Nachdenken. Michelle jedenfalls wächst entgegen allen wissenschaftlichen Untersuchungen an diesem Tag körperlich, aber auch geistig über sich hinaus.

    " Für mich war wichtig, dass sie sich durch einen Trick von diesem Fehlerberechnungsamt befreit. Und dadurch ist auch niemand mehr für sie zuständig, es zählt auch niemand mehr. Genau, sie ist jetzt selber verantwortlich für ihr Tun. Das ist so eine Art Botschaft. "

    Bibliographie
    Martina Wildner: Michelles Fehler, Bloomsbury Kinderbücher und Jugendbücher, Berlin 2006, 282 S., 12,90 Euro