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Migrantischer Antisemitismus
"Es ist kein Medienhype, es ist die Spitze des Eisbergs"

In Frankreich verlassen offenbar jedes Jahr mehrere tausend Juden ihren Wohnsitz, weil sie von antisemitischer Gewalt bedroht sind. Jetzt wurde auf einer Berliner Konferenz über "migrantischen Antisemitismus" diskutiert - sowie über Parallelen und Unterschiede in Deutschland und Frankreich.

Von Jens Rosbach | 25.04.2018
    Teilnehmer einer Demonstration verbrennen am 10.12.2017 eine selbstgemalte Fahne mit einem Davidstern in Berlin im Stadtteil Neukölln. Die geplante Verlegung der US-Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem sorgte auch in Berlin für Proteste. Bei den pro-palästinensischen Demonstrationen wurden Fahnen mit dem Davidstern angezündet.
    "Wenn Deutschland die Situation nicht ernst nimmt, wird die Situation hier sehr schwierig": Teilnehmer einer Demonstration verbrennen am 10.12.2017 eine selbstgemalte Fahne mit einem Davidstern in Berlin Neukölln (picture alliance / dpa / Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus)
    Die Statistik ist erschreckend. Simone Rodan-Benzaquen, die Direktorin des American Jewish Commitee in Paris, hat seit 2006 elf Morde an französischen Juden gezählt - verübt von Tätern mit migrantischen Wurzeln. Ein Hauptgrund, so die Expertin, weshalb jedes Jahr tausende Juden auswanderten:
    "Worüber man um einiges weniger redet, ist eine interne Auswanderung. Zum Beispiel in Stadtteilen außerhalb von Paris, wo die Situation so gefährlich geworden ist, dass Leute dort nicht mehr leben können, nicht mehr ihre Kinder in eine öffentliche Schule schicken und wegziehen. Und die Leute gehen nicht unbedingt nach Israel, aber sie ziehen in andere Stadtteile, wo es einiges weniger gefährlich für sie wird."
    Jahrelang habe die französische Politik die Augen verschlossen vor dem migrantischen Antisemitismus, klagt die jüdische Organisation. Ein Problem sei dabei gewesen, dass Frankreich wegen seiner Kolonialgeschichte Hemmungen habe, die eigenen Muslime zu kritisieren.
    Rodan-Benzaquen meint: "Ich glaube, dass Schuldbewusstsein vieler Franzosen hat auf jeden Fall sehr viel damit zu tun."
    Nach Ansicht der Fachleute spielen auch Integrationsprobleme eine Rolle. Didier Leschi, der Leiter der französischen Einwanderungsbehörde, analysiert etwa das Wegbrechen laizistischer, also nichtreligiöser, Sozialstrukturen - etwa bei den Zuwanderern aus Algerien.
    Leschi sagt: "In unserer kollektiven französischen Geschichte waren - in den 50er, 60er Jahren - die algerischstämmigen Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Aber heute hat sich das verschlechtert durch den Rückgang von Industrie und Gewerkschaftseinfluss. Damit ist auch ein Teil der Arbeiterkultur verschwunden, die die Integration befördert hat."
    "Integrationskurse müssen reformiert werden"
    Die französischen Erfahrungen sind für deutsche Juden von großem Interesse. Vor allem seit den jüngsten Medienberichten über antisemitische Ausschreitungen in Berlin. Daniel Botmann, der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, warnt:
    "Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Es ist kein Medienhype - es ist nur die Spitze des Eisbergs, was eigentlich sichtbar wird."
    Botmann spricht sich ausdrücklich dafür aus, Flüchtlinge in Not aufzunehmen - gerade weil Juden ebenfalls verfolgt worden sind, während des Holocaust. Gleichzeitig müsse man den Zuwanderern aber klar die europäischen Werte aufzeigen. Allerdings könnten die staatlichen Integrationskurse diese Aufgabe noch nicht bewältigen.
    "Integrationskurse umfassen 100 bis 120 Stunden. Wenn man das Curriculum anschaut, liest sich das wie das Curriculum Sozialkundeunterricht Leistungskurs Oberstufe. Diese Integrationskurse müssen aus meiner Sicht gänzlich reformiert werden, damit die Personen auch wirklich die Chance haben, die Werte vermittelt zu bekommen, auf deren Einhaltung wir pochen."
    Der Regierung sind die Probleme bekannt, zumal die neue Bundesfamilienministerin Franziska Giffey an der Migrations-Konferenz teilnahm. Die SPD-Politikerin erklärte, dass der Kampf gegen Antisemitismus und Extremismus Geld koste. Deshalb habe sie sich dafür eingesetzt, dass das bundesweite Toleranz-Programm "Demokratie leben", das jedes Jahr rund 100 Millionen Euro kostet, nicht - wie ursprünglich geplant - nach und nach gekürzt wird.
    "Ich fand es unverantwortlich zu sagen: Dieses Programm endet - in Zeiten wie heute. Und wir haben letzte Woche mit dem Finanzminister verhandelt, und ich bin sehr froh darüber, sagen zu können, dass wir uns geeinigt haben, dass es weiter geht mit der Förderung für Projekte, die sich genau um diese Fragen kümmern: Demokratie leben!"
    Prävention und Repression
    Die frühere Bürgermeisterin des Migranten-Bezirks Berlin-Neukölln möchte außerdem noch dieses Jahr 170 Anti-Mobbing-Profis an die Schulen schicken, in allen Bundesländern.
    "Wenn jemand auf dem Schulhof sagt: Du Jude, Du Opfer! - dann darf nicht mit einem Schulterzucken reagiert werden. Dann muss konsequent und schnell reagiert werden. Mit Prävention - aber auch mit Repression. Und ganz häufig geraten ja Lehrerinnen und Lehrer auch an ihre Grenzen - weil sie eigentlich Mathe und Deutsch vermitteln sollen. So, und dann noch diese Konflikte!"
    Auf der Berliner Tagung waren sich Deutsche und Franzosen einig: Bei Flüchtlingen und Zuwanderern ist mehr Wertevermittlung gefordert - auch was die Gleichberechtigung von Mann und Frau angeht. Dissens gab es allerdings bei der Frage, ob sich der Staat aus religiösen Fragen heraus halten sollte. Philippe d’Iribarne vom Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Paris betonte, dass die strikte Trennung von Staat und Kirche in Frankreich ein Gewinn sei bei der Bekämpfung des Islamismus.
    "In Frankreich wird versucht, die Individuen auch vor ihrer eigenen Gemeinschaft zu schützen. Als wir ein Gesetz verabschiedet haben zum Verbot des Kopftuches in den Schulen, da gab es Leserbriefe von jungen Muslimen: Danke, dass Ihr uns rettet vor unserer eigenen Community!"
    Ganz anders sieht das Mansur Seddiqzai, ein afghanischstämmiger Autor und Lehrer. Seddiqzai unterrichtet an einer Dortmunder Brennpunktschule unter anderem islamische Religion.
    Seddiqzai sagt: "Der islamische Religionsunterricht bietet den Schülern einen Raum, um über ihre Religion zu sprechen. In Frankreich bieten die staatlichen Schulen diesen Raum den Schülern nicht. Wenn dieser Raum in staatlichen Schulen nicht gegeben wird, wird es andere Räume geben, abseits der staatlichen Institutionen. Und in diesen Räumen sind nicht die Lehrer diejenigen, die das Wort führen, sondern es sind Extremisten und Radikale."
    Ob Islamismus, Demokratiefeindlichkeit oder Antisemitismus: Die Probleme innerhalb der Migranten-Community müssten endlich tabufrei auf den Tisch - resümiert Simone Rodan-Benzaquen vom American Jewish Commitee in Paris: "Ich glaube, wenn Deutschland die Situation nicht ganz ernst nimmt, dass die Situation hier dann sehr schwierig wird - so schwierig wie in Frankreich."