Samstag, 20. April 2024

Archiv


Migration als Einbahnstraße

Multikulti scheint passé. Auszuwandern, sich für ein Land, eine Staatsbürgerschaft und eine Sprache zu entscheiden, wird stattdessen als Einbahnstraße verstanden. Das meint Zafer Şenocak.

Von Zafer Senocak | 01.08.2010
    Die positive Vorstellung von der kulturellen Vielfalt einer Einwanderungsgesellschaft ist längst düsteren Exempeln einer misslungenen Integration im Alltag gewichen. In seinem Essay macht der Autor deutlich, dass eine fortwährende Stigmatisierung des Fremden nur in die Irre führen kann. Zafer Şenocak ist deutsch-türkischer Schriftsteller. Sein jüngstes Buch "Der Pavillion" erschien 2009 im Dagyeli Verlag.



    Zafer Şenocak: Migration als Einbahnstraße


    Sprache ist verräterisch. Sollte man Zuwanderer sagen oder Einwanderer? Abstammung oder Herkunft? Schon die Wortwahl macht den kontroversen Charakter einer Identitätsdebatte deutlich, deren Fortgang das zukünftige Gesicht sowohl Deutschlands als auch Europas prägen wird. Wer man ist, hängt auch davon ab, wer zu einem kommt, kommen darf, kommen will.

    Man könnte behaupten, dass Einwanderung ein Land dynamisiert, umgestaltet und weltoffener macht. Da kommen Menschen ins Land, die sich neu orientieren müssen. Von dem Land, in das sie kommen, haben sie bestenfalls eine Fantasie im Kopf. Von den USA beispielsweise, dass sie das Land der unbegrenzten Möglichkeiten seien, von Deutschland, dass Ordnung, Stabilität und Wohlstand das Leben erleichtern. Die Einwanderer bringen ein Stück Ausland ins Innere eines Landes und sie erinnern dieses Land immer an seine Klischees. Länder- und Kulturgrenzen aber lassen sich nicht so einfach verschieben, wie Menschen sich heute auf dem Globus bewegen.

    Wenn Eigenes und Fremdes sich begegnen, verliert das Eigene seine Selbstverständlichkeit. Es reagiert ähnlich wie ein Körper, der im Krankheitszustand sich selbst gewahr wird, sich bemerkbar macht und fiebert. Das aufnehmende Land muss sich auf diese neu ankommenden Menschen und ihre Besonderheiten einstellen. Denn mit den Menschen werden auch Ideen und Mentalitäten bewegt. Überdacht werden muss, was sich über Jahrhunderte eingespielt hat an Gewohnheiten, Sitten und Traditionen. Eine Aufgabe, die sowohl die Einwanderer als auch die Alteingesessenen vor Herausforderungen stellt.

    Irgendwann wird jede Einwanderung zu einer Bauordnungsfrage. Wie sichtbar wird Fremdes? Wie viel Raum nimmt es ein? Es ist typisch für unsere Zeit, dass diese Fragen nun um Moscheebauten herum diskutiert werden. Kultur wird inzwischen immer mehr von der Religion repräsentiert. Die Menschen werden zwar nicht gläubiger, aber sie sind geneigter, sich ein religiös definiertes Etikett an den Kragen zu heften. Die zunehmende Bedeutung der religiösen Identität hat ohne Zweifel Auswirkungen auf die reale Welt, die nicht immer nur rational erfassbare Realität ist, sondern auch all das umfasst, was den Menschen ausmacht, also seine Ängste, seine Sehnsüchte, sein Streben nach Glück auf der Welt. Irgendwann im Alter wird jeder Mensch wieder etwas Kind. Und so scheint es auch Zivilisationen zu ergehen, die in ihre Spätphasen eintreten. Die abendländische Zivilisation, die vielleicht die erste Zivilisation ist, die ihren Untergang - nach zwei Weltkriegen - überlebt hat, befindet sich in dieser zweiten, späten Kindheit. Sie reagiert inzwischen mehr instinkthaft als mit einem ausgereiften Verstand auf Gefahren und Herausforderungen.

    Bis zu Beginn der 2000er-Jahre herrschte ein überwiegend positives Bild über die Folgen der kulturellen Melange, die immer dann entsteht, wenn Menschen wandern. Doch dieses Bild täuschte, denn es war mehr in den Denkstuben und Universitäten entworfen worden als in den Köpfen der weniger gebildeten Schichten. Der sogenannte Multikulturalismus wurde weniger als eine Ideologie geformt, denn als eine Lebensart. In einer bestimmten Schicht hatte man sich für andere Kulturen zu interessieren, so wie man sich für gute Weine oder spannende Reiseziele begeisterte. Ähnlich wie im Tourismus blieb das Andere aber ein etwas verschwommenes Ziel des Interesses. Es hatte vielleicht eine Aura, aber keinen Körper. Ein Körper hätte ihn vielleicht zu bedrohlich werden lassen. Denn ein Körper beansprucht immer Raum. Aura aber ist luftig, löst sich auf. In der Aura des Anderen haben sich in der relativ kurzen Zeitspanne, in der der Multikulturalismus den Ton angab, die Fantasien von der eigenen Gesellschaft bestens integrieren lassen.

    In den Niederlanden beispielsweise wurde das Image des Landes von der Toleranz gegenüber fremden Kulturen bestimmt und als solches auch vermarktet. Erst als sich der Körper des Fremden bemerkbar machte, seine Besonderheiten sichtbar wurden und insbesondere nach der brutalen Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh durch einen muslimischen jungen Mann wandelte sich nicht nur die Stimmung in den Niederlanden. Auch die Wahrnehmungsmuster änderten sich. Plötzlich waren die Straßen in Amsterdam und Rotterdam nicht voller bunter Farben und exotischer Gerüche, sondern fremder, bedrohlicher Gestalten, deren Körperlichkeit durch einen Mord markiert wurde. Diese Ablösung der Aura durch den Körper begleitete das Ende der Multikultiillusion.

    Die Mehrheit der Bevölkerung hatte mit anderen Sorgen und Ängsten zu kämpfen, vor allem mit den Folgen der Globalisierung, die das Leben beschleunigt und viel Unsicherheit in überschaubare Lebensentwürfe getragen hat. Fast über Nacht wurde dann der Optimismus der Denkstuben ausgetauscht mit einem diffusen Gefühl der Verunsicherung, die inzwischen mehr den Instinkten folgt als Statistiken und sozialen Analysen. Diese Instinkte, die begleitet von Wehmut über den Untergang der alten überschaubaren Welt auftreten, können weder durch Integrationskurse noch durch Sonntagsreden kontrolliert werden. Sie mobilisieren Abwehrkräfte und sind eine Inspirationsquelle für Polemiker und Warner. So ist es nicht überraschend, dass diese in den Debatten über Migration und Integration inzwischen den Ton angeben. Und wie jetzt in den Niederlanden mit radikalen Parolen Wahlerfolge feiern.

    Doch der inzwischen fast überall in Europa von einer Mehrheit der Bevölkerung als Fremdkörper wahrgenommene Muslim wird bleiben. Die lapidare Feststellung, dass die Idee des Multikulturalismus gescheitert sei, ist lediglich ein verzweifelter Versuch, sich die Welt einfacher vorzustellen, als sie ist. Die Erleichterung, die manchmal in dieser Feststellung mitschwingt, ist trügerisch. Sie zeugt von einer Selbstbehauptung, die sich selbst nicht mehr reflektiert. Ein sich abschotten gegenüber dem Fremden, der sich abschottet. Ein gefährlicher Riss tut sich da in der Gesellschaft auf, der rational nicht mehr zu kitten ist.

    Der Rückzug des rationalen Denkens und der Vormarsch des Instinkts ist das Kennmerkmal jeder Umbruchphase. Es wäre heute vielleicht angebracht, wieder intensiver auf die Epoche um 1600 zu schauen. Eine Zeitspanne, die in den Dreißigjährigen Krieg mündete. Manches aus unserer Gegenwart, manches, was Ängste und Sehnsüchte betrifft, könnte sich in dieser Zeit finden lassen. Es sind dies tief sitzende Ängste und Sehnsüchte. Die Welt ist unberechenbar geworden. Maßeinheiten werden revolutioniert, Kriegsführung neu organisiert. Die Welt wird als böse und bedrohlich wahrgenommen, gleichzeitig aber herrscht Faszination über die neuen Entdeckungen. Selbst der Himmel wird mit neuen Augen gesehen. Unsere fernen Zeitgenossen lebten damals in einer sich rasant verändernden Welt.

    Das Leben kann niemals ohne Risiko gelebt werden. Doch dieses Risiko wird von geschlossenen Denksystemen aufgefangen, so zum Beispiel im religiösen Denken. Religionen erzählen immer Geschichten mit Anfang und Ende. Was aber, wenn diese Geschichten aufbrechen? Wenn Anfang und Ende, Sinn und Zweck verschwimmen? An der Idee der Freiheit, die aus einer solchen Erschütterung emporwächst, laboriert die Menschheit bis heute.

    Um 1600 wird die Welt auf den Kopf gestellt. Reformation, Gegenreformation und Inquisition überziehen weite Teile Europas. Autoritäten wie die Kirche wanken. Der Philosoph Giordano Bruno stirbt auf dem Scheiterhaufen. Neue astronomische Erkenntnisse wie die von Galileo Galilei oder Johannes Kepler irritieren und erschüttern Gewissheiten. Und am Horizont taucht eine neue Botschaft auf, die der Menschheit nicht die Existenz Gottes verkündet, sondern die Existenz des Menschen. Der Menschheit wird der Mensch geschenkt und anvertraut. Der Humanismus bekommt in dieser Zeit seine endgültige Färbung, gewinnt an Sprache und Deutungskraft. Es ist die Geburtsstunde unserer Zeit.

    Doch da wir heute in einer ähnlichen, weitreichenden Umbruchphase leben, ebenfalls geprägt von tief sitzenden Ängsten, von neuen Möglichkeiten, die uns an die Grenzen unserer Vorstellungskraft bringen, ist der Blick ebenfalls auf den Horizont gerichtet, voller Sehnsucht. Was sagt uns heute noch die humanistische Idee des beginnenden siebzehnten Jahrhunderts? Was bedeutet sie angesichts der Bedrohung unseres Planeten, unserer Lebensgrundlagen, die ein Umdenken über die Beziehungen zwischen Mensch und Natur erfordern? Hilft es uns weiter, dass sich immer neue Galaxien entdecken lassen, das Zusammenleben mit fremden Nachbarn aber ein Problem für uns bleibt?

    Es gibt inzwischen eine immer stärker werdende Neigung, unsere Welt auch jenseits rationaler Wahrnehmung zu deuten. Von der Wiederkehr der Religionen ist oft die Rede und Seelenkuren haben Konjunktur. Am Horizont tauchen verdrängte Deutungsmuster der Welt auf. Natur verspricht Therapie, die in der Technik nicht zu finden ist. Von dieser Perspektive aus müsste auch zu den Identitätsfragen unserer Zeit hinübergeschaut werden. Denn Identitätsfragen sind die Keimzellen einer jeden neuen Weltordnung. Was geschieht, wenn sich Skepsis einstellt gegenüber den Möglichkeiten des Menschen, die Welt nach Kriterien der Ratio und der Zeit zu ordnen und somit lebensfreundlich zu gestalten?

    Am Anfang eines jeden zivilisatorischen Fortschritts steht das Zurückdrängen des Instinkts aus dem gesellschaftlichen Diskurs zugunsten einer rationalen Weltauffassung. Der Instinkt aber geht niemals ganz verloren. Er begibt sich in Lauerstellung, aus der er immer wieder ausbrechen kann. Ein solcher Ausbruch wird von Vernunftskepsis und irrationalen Ängsten begleitet. Ihm wohnt sowohl kreatives Potenzial als auch eine angstgelenkte Fluchttendenz inne. Diese Ambivalenz ist heute überall sichtbar: In der Anregung der Kunst durch das Zusammenströmen unterschiedlicher Sprachen und Traditionen ebenso wie auch in dem simplen Bild des Kulturkonflikts, der einen Anderen konstruiert, der ganz anders ist als man selbst.

    Was manchmal so aggressiv daherkommt und sich allzu deutlich phobischer Muster bedient, um sich gegen fremde Symbole wie Minarette und Burka zu richten, um das Eigene zu schützen und zu festigen, ist nicht der Ausdruck eines durchdachten Konzepts, oftmals wirkt es grotesk oder schrullig. Berechtigte Kritik an den Missständen in einer fremden Kultur wird zum Futter für Demagogen und Populisten, die den Rassismus in den Köpfen mit Idealen der Aufklärung und Emanzipation veredeln und somit hoffähig machen. Dieser Kampf gegen Minarette in der Schweiz oder die Burka in Frankreichs Ämtern wirkt unbeholfen und aussichtslos. Denn er ist nicht das Ergebnis einer kulturellen Auseinandersetzung, sondern einer Fieberattacke des Eigenen, das sich gegen den Eindringling aufgestellt hat.

    Die Protagonisten dieses Kampfes sind zwar immer besser organisiert, aber sie wirken geradezu naiv angesichts der ständigen, technischen und semantischen Revolutionierung der Welt, in der wir leben. Von dem kindlichen Gesichtsausdruck des niederländischen Populisten Geert Wilders und den unbeholfenen, an Kinderzeichnungen erinnernden Plakaten der Schweizer Initiativen gegen Moscheebauten geht eine ganz andere Aura aus als von faschistischen oder reaktionären Bewegungen aus dem 20. Jahrhundert. Diesen Schuh haben sich inzwischen die Islamisten angezogen und ihre Gegner wirken wie die Verteidiger einer friedliebenden, zivilisierten Welt. Erst ihre Rhetorik, die pauschalisiert und dadurch den Einzelnen entmenschlicht, entlarvt sie, doch diese Rhetorik ist inzwischen zweitrangig. Bilder und ihre Massenwirksamkeit stehen im Vordergrund.

    Man wittert Gefahr und ist instinktiv gegen etwas, was diese Gefahr symbolisieren könnte. Dabei geht die Gefahr nicht von den Symbolen aus, sondern von den Denkmustern, die diese Symbole entstehen lassen und zwar sowohl für jene, die diese Symbole betrachten, als auch für die, die sie repräsentieren. Die Frauenunterdrückung in der islamischen Kultur heute ist ein gewaltiges Problem, dem mit einem Burka-Verbot sicher nicht beizukommen ist. Instinkte aber brauchen Symbole als Auslöser. Sie kommunizieren nicht mit Denkmustern. So wird die Burka, die nicht einmal ein Teil der islamischen Kleiderordnung ist, aus der eigentlichen Problematik, nämlich der bescheidenen Stellung der Frau im Islam, herausgerissen und zum Protagonisten einer verzerrten Debatte zwischen Menschenrechtlern, Feministinnen, zwischen Islamgegnern und gläubigen Muslimen. Dabei hat die Gefahr eine durchaus reale Basis.

    Diese Gefahr zeigt sich spätestens dann, wenn archaische Gewohnheiten sich unter dem Mantel der kulturellen Vielfalt etablieren. Doch archaischen Gewohnheiten kann man nicht mit von Instinkten geleiteten Initiativen begegnen. Wenn dies geschieht, verkleinert sich lediglich der Raum, in dem die Vernunft atmet. Nicht die Burka ist dann in Gefahr, sondern die Aufklärung, weil sich immer mehr Menschen vom vernunftgeleiteten Denken lösen und sich ihren Instinkten überlassen.

    Der Judenhass im Nazideutschland war ebenfalls instinktiv. Der Antisemit glaubte, den Juden riechen zu können. Seine Ideologie trachtete nicht nach Ideen, sondern nach dem Körper. Ein Nachdenken über diesen Vorgang war nicht erwünscht, und dann bald auch nicht mehr möglich. Was sich als Hinterstuben-Ideologie auf den Weg machte, führte binnen weniger Jahre zum monströsen Sündenfall der westlichen Zivilisation. Wir sind geneigt, diesen europäischen Exzess des Instinktanfalls als eine Heimsuchung zu deuten und nur den Deutschen zuzuschreiben, als eine Episode in der Geschichte. Die Radikalität und die Bosheit des Nationalsozialismus lagen aber gerade darin, dass sie es vermochten, den Instinkten freien Lauf zu lassen, die nicht deutsch, sondern allgemein menschlich sind und unter bestimmten Bedingungen jede Gesellschaft befallen können.

    "Seltsame Vision! Inmitten deutschen Lebens ein abgesondert fremdartiger Menschenstamm, glänzend und auffällig staffiert, von heißblütig beweglichem Gebaren. Auf märkischem Sand eine asiatische Horde."

    Diese Beschreibung Walther Rathenaus in seinem Pamphlet "Höre Israel!" aus dem Jahr 1897 liest sich heute nicht wie eine Darstellung aus ferner Vergangenheit. Die Typisierung des nicht assimilierten Juden in Rathenaus Text folgt dem gleichen zeitlosen instinktiven Blick, der heute die Fremden betrachtet, die sich in den Metropolen Europas niedergelassen haben. Wenn heute Begriffe wie Migration oder Integration fallen, denkt niemand mehr an eine Mittelklassefamilie mit zwei Kindern. Allmächtig sind die Bilder von verwahrlosten Stadtteilen, Jugendlichen ohne Arbeit, zwangsverheirateten, eingesperrten Frauen.

    Und tatsächlich gibt es dies alles ja auch. Es ist aber nur ein Teil des Bildes, das den Rest längst aus dem Rahmen hinaus gedrängt hat. Der Instinkt duldet keine Widersprüche. Er verlangt nach einem einheitlichen, in sich stimmigen Bild, um sich wirksam entfalten zu können. Dieses Bild löst geradezu körperliche Ängste aus. Sind die Instinkte einmal angesprochen, stellen sie sich der rationalen Analyse quer. Instinkte sind mit einem bunten Boulevardblatt vergleichbar. Daneben erscheint das rationale Denken als farb- und bildfeindliches Wochenblatt mit langen schwer zu entziffernden Textstrecken.

    An der Wahrnehmung der Türken in Deutschland lässt sich die Arbeitsweise des Instinkts besonders gut veranschaulichen. Die Türken in Deutschland repräsentieren inzwischen das kulturell Fremde. Sie werden vor allem mit ihrer religiösen Zugehörigkeit, die sie von der Bevölkerungsmehrheit unterscheidet, identifiziert. Aus dem Gastarbeiter der 60er-Jahre ist inzwischen der Moscheegänger geworden, der nur noch in seiner Gemeinde existiert. Richtig, die Türken sind in ihrer Mehrheit Muslime, aber sie kommen auch aus einem säkularen Land, wo die Religion im öffentlichen Raum eine geringere Rolle spielt als in Deutschland. Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September aber wird der Raum, in dem Muslime leben, ausschließlich durch den Islam definiert. Einen Islam, der ein großes Aggressionspotenzial besitzt. Diese instinktive Wahrnehmung des Islam versperrt den Blick auf die türkische Kommunität in Deutschland, auf ihre Vielfalt und auch auf ihr Potenzial.

    Dass die große Mehrheit der Türken in Deutschland ein unauffälliges und durchaus aufstiegsorientiertes Leben führt, ist weder eine Nachricht wert, noch entspricht es dem Bild der Gesellschaft von den Anderen, die sich per se nicht anpassen wollen. Es gibt Muslime unter den Türken, gläubige und ungläubige, fromme und weniger fromme, aber es gibt auch Friseure, Automechaniker, Kleinkriminelle, Künstler und Ärzte. Die Zahl der türkischen Akademiker, die Deutschland verlassen, steigt von Jahr zu Jahr. Ein Alarmzeichen, das lediglich Statistiken füttert, nicht aber die Vorstellungskraft und das Bewusstsein der Gesellschaft erreicht.

    Stattdessen ist die holzschnittartige Wahrnehmung des Anderen als "Problemfall" inzwischen zum allmächtigen Schöpfer des Selbstbildes der Mehrheitsgesellschaft geworden. Die deutsche Öffentlichkeit hat sich inzwischen in einem selbstgefälligen "Wir" eingerichtet, das den Anderen nicht nur ausschließt. Es erhebt sich auch über ihn, in dem es die immer wieder gleichen Kettenbilder produziert, nach den Schemata im eigenen Kopf.

    Dies ist eine fatale Entwicklung, die nicht nur die Anderen stigmatisiert. Sie nimmt auch dem Eigenen die Kraft, sich notwendigen Veränderungen anzupassen und mit ihnen schöpferisch umzugehen. Das Eigene wird quasi geschützt von der Herausforderung, sich mit dem Anderen auseinanderzusetzen. Die vielfältige, multiple, oftmals widersprüchliche Welt des Anderen, übrigens eine ergiebige Quelle für künstlerische Arbeit, wird als Gefährdung einer konstruierten Monokultur der Deutschen wahrgenommen. Dadurch wird die gesamte Gesellschaft unflexibel. Sie beraubt sich der Kraft zum Wandel durch Selbstkritik. Um den eigenen Tellerrand herum entstehen Mauern. Die eigene Welt wird eng und enger. Eine derartige Gesellschaft wird es im 21. Jahrhundert nicht einfach haben.

    Selbst die Kunstproduktion der Migranten steht inzwischen unter der Obhut einer kanalisierten Fantasie, in der immer wieder die gleichen Geschichten erzählt werden von der krisenhaften Identität der Migrantenkinder, vom Dazwischen, vom Nirgendwo-Sein. Prämiert wird, was den antagonistischen Wahrnehmungsmustern der Mehrheit entspricht. Kaum herausgefordert wird inzwischen die konstruierte Polarität zwischen zwei Welten, zwischen Hier und Dort, zwischen Herkunft und Dasein in Deutschland. Die vielfältigen komplizierten Verschränkungen, die die Migration ausgelöst hat, sind kaum einmal Thema. Denn sie sind schwer zu greifen, noch schwerer sind sie an ein Publikum zu verkaufen, das sich seine Bilder von den Anderen gemacht hat und nun diese bestätigt sehen will.

    Der Migrant ist inzwischen eine schwer zu ertragende Verunsicherung für den bodenständigen Menschen, der schon durch seine Lebensumstände und die Herausforderungen der globalisierten Gesellschaft verunsichert ist. Der Migrant ist nur ein weiteres schwer fixierbares Phänomen unter den zunehmenden Ungewissheiten. Die Migration löst ähnliche Ängste aus wie die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, sogar noch tiefer gehende. Denn die Existenz von Menschen, deren Sprachen changieren, deren Identitäten multipel sind, provoziert nicht nur die Gemeinschaftsidee. Was die Gesellschaft solidarisch macht, hat sicher auch mit dem Sich-Erkennen im Anderen zu tun, sich ähnlich fühlen, sich angleichen. Diese Prozesse des Angleichens werden heute mit dem Begriff Integration kaum noch beschrieben.


    Denn dieser Begriff fußt immer noch viel zu sehr auf einer statischen Wahrnehmung von Identität und Gemeinschaft. Er thematisiert kaum die Fragen von Loyalität und Verrat, die durch hin und herwechselnde Zugehörigkeiten aufgekommen sind. Wo man Zuhause ist, sagt nicht immer alles aus darüber, wohin man gehört. So werden oft Zuschreibungen bemüht, um jene Identitäten, die fließen, an einem sicheren Hafen festzumachen. Doch somit wird auch die Dynamik unterbunden, die jeder fließenden Identität innewohnt. Eine Dynamik, aus der die Gesellschaft viel Energie gewinnen kann, die für einschneidende Veränderungen notwendig ist.

    Viele europäische Gesellschaften haben aber inzwischen ein Übermaß an Sitzfleisch angesetzt, sich in einem bewegungsfeindlichen Zustand eingerichtet. Das hat sicher auch mit dem erreichten Niveau des Wohlstands zu tun. Die Unbeweglichkeit aber kreiert zusätzliche Ängste gegenüber jenen, die sich bewegen. Besitzwahrung und Besitzansprüche werden immer wieder zur Identitätsfrage, zu einer Überlebensfrage für das Bestehende, das bewahrt werden soll. Fragen der Besitzwahrung betreffen nicht nur die Sozialgesetzgebung.

    Sie sind auch Fragen, die die Beziehungen zwischen Staat und Individuum, zwischen der Gemeinschaft und dem Einzelnen beschreiben. Angelsächsische Länder haben die Beziehungen zwischen Staat und Individuum anders geordnet, als sinnstiftende Staatsentwürfe wie in Deutschland oder Frankreich. Vielmehr als der Staat steht die Sphäre des Bürgers im Mittelpunkt ihrer Gesellschaftsentwürfe. Nicht zufällig sind Länder wie die USA und Großbritannien klassische Einwanderungsländer. Wahrscheinlich kann sich nur eine Bürgergesellschaft mit klar definierten, aber reduzierten Staatsfunktionen zu einer funktionierenden Einwanderungsgesellschaft entwickeln. Eine Vorrangstellung des Staates und jegliche philosophische Überfrachtung der Staatsidee erweist sich wie im Fall Deutschlands aber auch Frankreichs eher als Hemmschuh.

    Eine nicht zu unterschätzende Verantwortung für diesen Zustand trägt auch die Politik in Deutschland. Die meisten deutschen Politiker hängen nach wie vor romantischen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft nach. Die Idee der Volksgemeinschaft ist nach wie vor ein, wenn auch ins Unterbewusstsein verdrängtes Ferment des deutschen Zugehörigkeitsgefühls. Der Staat tritt als Akteur auf, der Identitäten festschreibt, Menschen formatiert, Zugehörigkeiten definiert. Ein solcher Staat reklamiert Eigentumsrechte über seine Bürger. Dieses Staatsverständnis ist durch und durch idealistisch, hegelianisch. Es hat sich in Deutschland zudem noch mit dem Ideal des väterlichen Fürsorgestaates verbündet. Die Folie des Sozialstaates verdeckt den unterdrückerischen und freiheitsfeindlichen Charakter des hegelianischen Staatsverständnisses. Doch nur notdürftig. Wie hegelianisch ist Deutschland heute noch? Diese Frage zu diskutieren kann nicht umgangen werden, wenn Deutschland sich tatsächlich als Einwanderungsland definieren sollte.

    Wenn nationale Vorstellungen durch multiple Identitäten herausgefordert werden, reagiert man aber nicht etwa mit einer Modernisierung überholter Denkweisen, nein, es werden Auswanderungskonzepte aus den Mottenkisten des 19. Jahrhunderts hervor gekramt. Das Scheitern ist somit vorprogrammiert. Die Gründe für dieses Scheitern werden ausschließlich dem Anderen zugeschrieben, der sich nicht integrieren will, weil sich sein Herkunftsland zu sorgenvoll um ihn kümmert, zu sehr klammert, wie im Fall der Türkei.

    Also hat sich der Einwanderer für ein Land, eine Staatsbürgerschaft, eine Sprache zu entscheiden. Auswanderung wird als Einbahnstraße verstanden, die dazu führt, das verlassene Land nicht nur in den Hintergrund zu rücken, sondern selbst als Erinnerungsfolie unsichtbar werden zu lassen. Eine Illusion, in einer Welt der permanenten Grenzüberschreitung durch Flugzeug und Internet. Für den Einwanderer gibt es kein Hier und Dort mehr und schon gar nicht ein Dazwischen. Sondern nur ein "sowohl als auch". Dieses "sowohl als auch" wird in Deutschland so heftig negiert wie nirgendwo sonst. Dies drückt sich auch in der Haltung und im Diskurs deutscher Mainstream-Medien aus.

    Die Türken werden immer mehr in einen Zwischenraum zwischen Deutschland und der Türkei gedrängt, der gar nicht existiert, weil sich Zwischenräume aufgelöst haben. In der Vorstellungskraft aber geht von diesem Zwischenraum Bedrohung aus, für die Definition der eigenen Grenzen. Dabei verschieben sich Grenzen in unserer Welt permanent. Statt abgeschlossener Zwischenräume, die eine Art Pufferzone zwischen dem Eigenen und dem Fremden bilden, gibt es sprunghafte Verknüpfungen, eine ständige Berührung und praktisch gar keine Pufferzone mehr.

    Kann ein guter Deutscher wirklich nur sein, wer kein Türke mehr ist? Das polarisierende Denken löst eine Verkrampfung zwischen nationalen Identitäten aus. Eine Einwanderungsgesellschaft, die erfolgreich sein will, braucht aber ein entspanntes Verhältnis gegenüber den nationalen Identitäten. Vor allem braucht sie Durchlässigkeit an konstruierten Grenzen. Erst diese Durchlässigkeit ermöglicht das allmähliche Entstehen einer Avantgarde, einer erst einmal kleinen Gruppe von Menschen, die sich als Weltbürger verstehen. Sie übernehmen Vorbildfunktionen, die für eine Einwanderungsgesellschaft unverzichtbar sind.

    Doch die Wirklichkeit in Deutschland sieht anders aus. Zu dünn ist die Luft, in der eine solche Avantgarde frei atmen könnte. Im Gegenteil: Die meisten selbstständig denkenden Türken in Deutschland, die sich weder von deutschen noch türkischen Identitätsnostalgikern instrumentalisieren lassen, werden an den Rand gedrängt und unsichtbar gemacht. Bewegliche, nicht fixierte Identitäten werden nach wie vor mehr als Gefährdung denn als Chance wahrgenommen. Übrig bleiben die Wasserträger einer verunsicherten, auf Selbstbestätigung lechzenden Mehrheitsgesellschaft und diejenigen unter den Einwanderern, die sich abschotten und somit das Gesamtbild komplett machen.

    Herkunft und Lebenswirklichkeit zu einer nicht konfliktfreien, aber fast immer produktiven, vor allem beweglichen Identität zu verbinden, diese Beweglichkeit ist das Kapital jeder spätmodernen Gesellschaft. In Deutschland aber wird dieses Kapital nicht nur vergeudet, es wird auch innerlich und rhetorisch abgelehnt.

    Die Erhöhung des Selbst durch die Stigmatisierung des Anderen mag einer durch Einwanderung verunsicherten Gesellschaft vorübergehend Erleichterung verschaffen. Doch letztlich erweist sie ihr einen Bärendienst. Denn die hohe Warte, von der man auf andere herabschaut, hat keine Fundamente. Sie offenbart lediglich einen Abgrund.