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Migration als Normalzustand

Sie kommen aus Schlesien, Iran oder Vietnam: 40 Interviews mit Personen, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihre Heimat verlassen haben, ließ Autor und Regisseur Tobias Rausch führen. Nun hat er das Material auf die Bühne des Deutschen Theaters gebracht.

Von Eberhard Spreng | 10.01.2013
    Eine bizarre Konstruktion steht auf der Bühne. Noch im Rohbau und schon Ruine, Betonbauelemente wie Wände mit vorgefertigten Festeröffnungen, eine Treppe, ein paar Bodenplatten fügen sich zu einem zerklüfteten Gebilde voller expressionistischer schiefer Ebenen. Das soll eine zerbrochene Welt bebildern, verlorene Geborgenheiten. Auf diesem Spielfeld tummeln sich neun Jugendliche, die immer wieder erwartungsvoll zu einer Schuttrutsche emporblicken, die aus dem Bühnenhimmel Kleiderbündel auf die Bühne entlässt, oder Staub, oder eine Blutwurst. Requisiten, die für die jeweils nächste Szene gebraucht werden.

    Unter der Leitung von Tobias Rausch haben diese Jugendlichen mit Flüchtlingen 40 Interviews geführt, die aus den verschiedensten Gründen ihre Länder verlassen haben. Um die Frage was Heimat ist, was Heimweh soll es dabei gehen. Gleich zu Beginn zeichnete Caroline Hellwig mit flüchtigen Kreidestrichen auf dem eisernen Vorhang eine Menschheitsgeschichte der Wanderschaften. Ewige Migration sei der Normalzustand in der Geschichte der Menschheit. "Sitzen ist die Ausnahme. Sesshaftigkeit ist das Vorrecht der Götter" hatte schon leitsatzartig das Programmheft propagiert. Auch wenn das nicht einmal für die Götter stimmt, ist dieser Rechercheansatz in einer Zeit einigermaßen kurios, in der die allermeisten Flüchtlinge Vertriebene wider Willen sind, Opfer politischer, wirtschaftlicher und militärischer Gewaltverhältnisse, für die Menschen die Verantwortung tragen, die sehr wohl im Genuss gesicherter und dauerhafter Sesshaftigkeit leben.

    Von der Flucht aus dem Kosovo, dem Iran bis zur Umsiedlung eines Dorfes aufgrund des vorrückenden Kohletagebaus über die Trachtentreffen von Schlesienvertriebenen bis hin zu Fukushimaflüchtlingen erzählen die Geschichten, die die jugendlichen Akteure mit altersgemäßem Engagement und Furor erzählen, in rasch skizzierten Gruppenbildern und Kleiderordnungen. Alles, was den Flüchtlingen bleibt, wenn sie ihren Ursprungsort verlassen haben, ist ihre Geschichte.

    "Alle wollen sie was, alle wollen meine Geschichte. Das ist nämlich was
    wert, meine Geschichte ist mein Kapital; meine Geschichte ist die
    Rechtfertigung, daß ich hier sein darf; meine Geschichte ist den
    Journalisten 50 Euro wert."

    Die Fluchtökonomie ist einer der interessanteren Aspekte an diesem Abend, der immer dann die Aufmerksamkeit weckt, wenn er die präzisen Lebensverhältnisse, etwa in Asylantenheimen beleuchtet: Verordnete Bewegungslosigkeit, Arbeitsverbot, Verzicht also auf Eigeninitiative. Aber immer, wenn die Erzählungen versuchen, an das emotionale Elend der Vertriebenenbiografien zu rühren, stoppen Mitspieler den jeweiligen Protagonisten: Keine Gefühle bitte, sagt sich dieses Theater der selbstverordneten Askese. Es will dokumentieren, nicht Lebensläufe erspielen und ausloten. Auch die schnellen Rollenwechsel der Jugendlichen sorgen dafür, dass Verkörperung nicht stattfindet. Und doch bleibt in all dem die Geschichte des Afghanen Arman in Erinnerung, dessen Vater in Kabul ums leben kam, der in Teheran als Illegaler arbeitete und nun Richtung Deutschland unterwegs ist, mit schlechter finanzieller Ausstattung:

    "Wenn du 7000 Dollar hast, dann hast du: gefälschten Pass,
    Visum, Flugticket. Wenn du 3000 Dollar hast, dann bringt dich ein Schlepper über die Berge, und du fährst mit dem Schnellboot von der Türkei nach Europa. Dafür brauchst du einige Tage. – Aber die Mutter von Arman hatte nur tausend Dollar.
    Seit wie vielen Wochen ist er jetzt unterwegs?
    Und nun läuft Arman die Schienen entlang nach Deutschland."

    Neben Armans Geschichte bleibt an diesem Abend vieles unverbunden, beliebig und wenig erhellend in Bezug auf die Grundfrage der Sesshaftigkeit, die dieses Theater untersuchen wollte und gleich zu Beginn in einer fingierten Szene mit dem Publikum anriss: Das Theater habe Plätze doppelt belegt, etwa 10 Platzlose warteten auf den Gängen darauf, dass bereits sitzende Zuschauer ihren Platz räumen, was natürlich keiner tat. Natürlich sind es die Akteure selbst, die da als überschüssige Zuschauer ihr Recht einfordern; sie erobern daraufhin die Bühne und skandieren: Wir bleiben. Ganz am Ende der Aufführung spielen sie Fußball, das Spiel mit der globalen Fangemeinde, ein Stück Heimat, überall.