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Migrationshintergrund der anderen Art

Die 1984 in Weimar geborene Autorin Andrea Hanna Hünniger wuchs in den 90er-Jahren in einem Plattenbauviertel auf. In ihrem ersten Buch "Das Paradies - Meine Jugend nach der Mauer" schreibt sie über die Irritationen dieser Zeit, die bis heute andauern.

Von Ralph Gerstenberg | 30.12.2011
    Es ist nicht gerade üblich, dass eine 27-jährige Autorin ihre schriftstellerische Karriere mit ihren Jugenderinnerungen beginnt. Andrea Hannah Hünniger hat mit ihrem Debüt "Das Paradies - Meine Jugend nach der Mauer" genau das getan. In dem Buch zitiert sie Armin Müller-Stahl, der behauptet, jeder über 40 könne seine Autobiografie schreiben oder einen Film aus seinem Leben machen. Die Autorin kontert selbstbewusst:

    "Jeder über 40? Im Osten jeder über zehn."

    Als die Mauer fiel, war Andrea Hannah Hünniger gerade fünf Jahre alt. Die DDR, das Land, in dem sie geboren wurde, kennt sie also größtenteils nur vom Hörensagen. Dennoch spürt sie, dass es etwas mit ihr zu tun hat, weil ihre Eltern dort sozialisiert wurden.

    "Wir haben gewissermaßen Migrationshintergrund. Unsere Eltern sprechen von einem Land, das es nicht mehr gibt beziehungsweise in dem sie nicht mehr leben, manchmal in einer Sprache, die wir auch nicht richtig verstehen, also wenn es um das Vokabular geht. Und ich spreche die Nachgeborenen an, also die, die auch kein Pioniertuch mehr getragen haben, die, sagen wir mal, ab '84 oder ab '83 Geborenen. Insofern sind das fast schon mehrere Generationen. Da geht's auch um Leute, die jetzt erst 15 oder 20 sind. Es ist auch eine vergessene Generation, weil uns immer gesagt wird, ihr habt eh keine Ahnung, ihr habt das ja alles nicht miterlebt und ihr seid sowieso die Turbo- und Spaßkapitalisten. Insofern brauchen wir auch eine gewisse Aufklärung."

    "Die letzten Kinder von Marx und Milka" titelt marktschreierisch der Verlag. Soziologen sprechen von der dritten Generation Ostdeutschland. Doch auch wenn Andrea Hanna Hünniger gelegentlich die dritte Person Plural bemüht und sich am Ende ihres Buches unter anderem bei Jana Hensel und Florian Illies bedankt, entgeht sie der Gefahr, sich in ihrem Buch permanent zum Sprecher ihrer Generation aufzuschwingen. Die Erfahrungen, über die sie schreibt, sind in gewissem Sinne vielleicht exemplarisch, doch sucht sie nicht krampfhaft den Konsens in der Verallgemeinerung.

    "Es gibt schon einen Generationsbegriff, der sich daran knüpft, mit welchen Marken wachsen wir auf, mit welchen Nachrichten, welchen Ereignissen? Es gibt schon so ein kollektives Gedächtnis, aber es gibt natürlich unterschiedliche Erfahrungen. Und einen unterschiedlichen Umgang mit Ereignissen. Und ich wollte 'ne Alternativgeschichte erzählen, etwas, das abfällt von dem totalen Happiness-Gerede über die deutsche Wiedervereinigung. Wer hat eigentlich darüber Geschichtshoheit, zu sagen: Das war das beste, was uns hätte passieren können? Wer behauptet so was? Also ich kann das nicht behaupten."

    Dabei fing alles ganz verheißungsvoll an. In der größten Weimarer Plattenbausiedlung, in der die Autorin aufwächst, eröffnet Mitte der 90er-Jahre ein Supermarkt mit einem gigantischen Angebot. Doch vor den Verlockungen der schönen neuen Warenwelt stehen ein elterliches Reglement und Prinzipien aus einer Zeit, in der es einen Überfluss an Ideologie und einen Mangel an Konsumgütern gab.

    Etwas ratlos und verwirrt bummeln wir Richtung Kühlbereich. Überall hängen Plakate mit lachenden, jungen Familien drauf. "Hier gibt's mehr Werbung als für den Sozialismus", sagt meine Mutter. In meinem Kopf entsteht das Bild eines gewissen Dings namens Sozialismus, er ist klein, bucklig und schlecht gelaunt und hat große, weiße Zähne. Ich weiß nicht, warum, etwas von Zahnarzt muss ich da mitdenken. Das einzig Bekannte im Supermarkt sind die alten Fliesen.

    "Der Kapitalismus ist ja gerade für Kinder eigentlich ein Riesenspaß. Wir haben ja die großen Supermärkte am ehesten genossen und genießen sie immer noch. Und unsere Eltern sind dann relativ verwirrt oder lehnen das ab aus ideellen Gründen. Und insofern gibt es dann immer die Frage: Was ist eigentlich deren Problem, was wollen die eigentlich? Warum können die sich nicht einfach anpassen? Warum können die nicht genauso viel Spaß haben am Kapitalismus wie wir?"

    Andrea Hanna Hünnigers Eltern waren als Agraringenieure an einem Institut beschäftigt, das sie selbst mit aufgebaut hatten. Geboren in den Anfangsjahren der DDR glaubten sie fest an die Zukunft und die Werte des Sozialismus. Mit der Wende verlieren sie nicht nur ihren Job, sondern auch ein fest gefügtes Weltbild.

    Die Verunsicherung durch den plötzlich über sie hereinbrechenden Kapitalismus ist groß. Der Vater verlässt kaum noch die Wohnung, archiviert Videokassetten mit alten Filmen und verfällt in eine lähmende Depression, die Mutter überbrückt die 90er mit miesen Jobs und Arbeitslosengeld. Die Kinder sind in dieser Zeit größtenteils sich selbst überlassen. Das Paradies, das dem Buch den Titel gab, beginnt gleich hinter den Plattenbauten des Viertels: eine wild wuchernde Kleingartenanlage - Abenteuerwelt und Fantasiereich der Heranwachsenden.

    "Also auch 'ne Zeit des Autoritätsverfalls, insofern als dass wir unsere Eltern gar nicht mehr gesehen haben. Also die hatten natürlich sehr stark mit sich selbst zu tun. Und das ging über die kompletten 90er-Jahre, dass man sich eigentlich selbst erzogen hat. Und dafür steht eben auch das Paradies, also als Ort. Letztlich so Peter-Pan-Land. Wildwuchs, und dann hängen da eben nur Kinder oder Jugendliche rum. Oder Neonazis."

    Es gab viele Neonazis, die nur aussahen wie Neonazis, die das als Moderichtung begriffen und es gab die Neonazis in unserem Viertel, die sich vor allem gegenseitig die Schädel einschlugen. Jedenfalls solange es noch keine Ausländer gab. Es kämpften dann Neonazis mit weißen Schnürsenkeln gegen Neonazis mit roten Schnürsenkeln und man wusste nicht, wohin man sich retten sollte. (...) Ich habe gedacht, dass die schon verdammt dämlich sein müssen, so wie die sich gegenseitig jagen. Man lief am besten einen großen Umweg.

    Ungeordnet und bruchstückhaft wie Erinnerungen erscheinen die Geschichten in diesem Buch. Andrea Hanna Hünniger springt in den Zeiten, wechselt die Stile. Mal schildert sie aus kindlicher Perspektive die Veränderungen in der Siedlung, dann reflektiert sie in essayistischer Weise die Beschämungen einer Elterngeneration, deren Leben trotz des medial gepushten Einheits- und Freiheitstaumels in eine tiefe Krise geraten war, einer Generation, die sich nicht mehr zurechtfindet und deren Unsicherheit bei ihren Kindern bestenfalls Mitleid erregt.

    Die Beschreibung eines Strafprozesses wird zu einer Lehrvorführung deutsch-deutscher Gegensätze. Ein Freund der Autorin, der nach der Schule in Weimar ein Geschäft für halluzinogene Pilze eröffnet hat, steht vor Gericht. Verteidigt wird er von einem Staranwalt aus dem Westen, der mit winkeladvokatischem Geschick und Überrumpelungstaktik die ungeschickten Ostjuristen aufmischt.

    "Daran merkt man eben auch, das ist auch so tief in der Justiz eingegraben, das ostdeutsche (fast schon) Denken. So ein bisschen steif und ein bisschen verkrampft. Und das hält sich ja, da nützt auch kein Mauerfall. Die Leute bleiben ja so. Für uns war das extrem unterhaltsam, aber gleichzeitig empfand man sich auch mit vorgeführt. Das sind ja auch die Eltern, die da stehen und die da auch so lächerlich gemacht werden. Das ist auch so das Paradox in mir, das ich versucht habe aufzuschreiben, dass ich einerseits meine Eltern auffordere, sich endlich mal zu verändern oder zu reden, dass ich das auch irritiert beobachte, wie sie sich verhalten. Und gleichzeitig habe ich Mitleid mit ihnen. Also es ist keinesfalls so, dass ich sie sozusagen an den Pranger stelle. Eigentlich würde ich sie gerne beschützen. Und das ist so paradox."

    Das Nachwendepanorama, das Andrea Hanna Hünniger entwirft, ist alles andere als nostalgisch. Bei allem Sinn für Paradoxien begnügt sie sich nicht mit einem eindimensionalen Kabinett der Absurditäten. Es sind die Widersprüche, die sie als Herausforderung empfindet. Neben dem Grau der Plattenbauten und der Tragik mancher Episode, die von Selbstmord oder Psychiatrie handelt, wächst und wuchert das wilde Paradies einer Jugend, die sich ihre Vergangenheit aus Erzählungen, Erinnerungen, Büchern und Filmen rekonstruieren muss, um die Gegenwart zu begreifen. Genau das macht Andrea Hanna Hünniger mit wachem und neugierigem Blick.

    Andrea Hanna Hünniger: "Das Paradies - Meine Jugend nach der Mauer".
    Tropen Verlag, 216 Seiten, 17,95 Euro