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Mike Leigh
"Die Kunst war es, mit einer Ikone umzugehen"

Mister Turner nennt der Brite Mike Leigh seinen Film über den weltberühmten britischen Maler, und deutet damit schon an, dass er kein Heiligenbild von ihm zeichnet, sondern einen Menschen mit Ecken und Kanten porträtiert. Die letzten 25 Jahre seines Lebens (1775-1851) skizziert Mike Leigh in seinem Film.

Mike Leigh im Corso-Gespräch mit Sigrid Fischer |
    Regisseur Mike Leigh bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes.
    Regisseur Mike Leigh bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes. (ALBERTO PIZZOLI / AFP)
    Sigrid Fischer: Mike Leigh, Sie heben den Maler William Turner in Ihrem Film nicht auf den Sockel, sondern inszenieren ihn als eine alltägliche Figur. Hat Sie das "Normale" mehr interessiert als seine Arbeit, als der Künstler?
    Mike Leigh: Mein Beruf ist es, Filme über Menschen zu drehen, da ist erst mal jeder interessant. Dieser Mann, der dieses außergewöhnlich großartige epische Werk geschaffen hat, und der obendrein auch noch so exzentrisch war, der ist genauso interessant wie sein Werk. Bei der Recherche über ihn wurde schnell klar, dass er als Figur in einem Mike Leigh Film qualifiziert wäre. Dazu noch ist sein Werk extrem filmisch, also war das fast unvermeidlich. Aber die Kunst war es natürlich, mit einer Ikone umzugehen, man könnte auch sagen, dass wir hier eine Ikone vom Podest stürzen. Ja, auf der einen Seite sehe ich ihn als normalen Menschen, so wie ich jede Figur in einem Film betrachten würde, aber andererseits ist er das natürlich nicht, er ist eben eine Ikone, er ist Turner, das funktioniert auf beiden Ebenen.
    Fischer: Ihr William Turner macht komische Geräusche, er grunzt und rülpst, ist das überliefert?
    Leigh: Ja, viele Leute beschreiben, dass er lustige Geräusche gemacht hat, dass er gegrunzt hat und komisch gesprochen hat. Einige haben seine Art zu sprechen auch schriftlich festgehalten. Darauf stützen wir uns und auf unsere eigene Vorstellung davon.
    Fischer: Sie haben im Film auch einige turnerartige Tableaus entworfen – manche Einstellungen sehen aus wie ein Turnergemälde, worauf kam es dabei an und wie lange hat es gedauert, das mit dem richtigen Licht so hinzukriegen?
    Leigh: Wir haben uns seine Arbeiten schon sehr genau angesehen, und mit der Zeit geht einem dieser Look in Fleisch und Blut über, man sieht die Welt durch das Turner-Prisma. Aber wir haben es nicht so gemacht wie David Lean seinerzeit, der bekanntlich drei Wochen auf eine bestimmte Wolkenformation gewartet hat, die er drehen wollte. Denn wir hatten nur 16 Wochen Zeit, und wenig Geld. Aber man merkt dann schon, wenn man's getroffen hat. Entscheidend für den Look war aber auch, dass wir den Film digital gedreht haben und so nachträglich noch einiges machen konnten.
    Fischer: Warum haben Sie Mister Turner digital gedreht, weíl's billiger ist?
    Leigh: Das hatte überhaupt nichts mit Kompromiss oder Einschränkung zu tun. Es ist eben dieses neue Werkzeug, das dazu da ist, es kreativ einzusetzen. Genau das haben wir getan. Klar, wir sind alt genug als Filmemacher, um für immer auf die herkömmliche Weise zu drehen, auf 35 und 16 mm, wir lieben echtes Filmmaterial. Aber wir leben im 21. Jahrhundert, und diese Technologie ist da, um erforscht zu werden, das haben wir bei diesem Film getan. Wir haben sie für unsere Zwecke benutzt, das war sehr aufregend.
    Fischer: Da gibt es ja eine Analogie zu unserer digitalen Welt, Turner entdeckt die neue Technologie der Fotografie, und war etwas in Sorge, ob sie die Malerei verdrängen könnte.
    Leigh: Ja, genau, Turner war fasziniert und hatte gleichzeitig Angst vor der Fotografie. Aber da gibt es noch einen Aspekt: Als er die Fotografie gegen Ende seines Lebens entdeckte, da hatte er bereits in seinen Bildern den radikalen Wandel vollzogen, den später die Impressionisten - inspiriert von der Fotografie - in die Malerei bringen sollten. Er war damals schon soweit.
    Timothy Spall als der Maler William Turner in dem Film "Mr. Turner - Meister des Lichts".
    Timothy Spall als der Maler William Turner in dem Film "Mr. Turner - Meister des Lichts". (picture alliance / dpa / PROKINO Filmverleih GmbH)
    Fischer: Wann haben Sie, Mike Leigh, eigentlich William Turner für sich entdeckt?
    Leigh: Wenn man in der englischsprachigen Welt aufgewachsen ist, war er einfach immer da, so wie Shakespeare, Aber ich habe neulich noch drüber nachgedacht: als Heranwachsender hat er mich nicht interessiert, Turner, Constable, Landschaftsbilder – die sah man auf Keks- und Schokoladendosen drauf, aber in dem Alter kann einen das nicht interessieren, mit 14 wusste ich mehr über Picasso oder die Impressionisten, die Surrealisten, Salvador Dali war für uns aufregend, eine Ansicht, die wir als Erwachsene nicht mehr vertraten. Aber später, als Kunststudent in den 60ern, habe ich Turner entdeckt, ich ging in die Tate oder die National Gallery und hab mir die Turners angesehen. Dieser dramatische Malstil war inspirierend für mich.
    Fischer: Bei filmischen Malerportraits stellt sich immer das Problem, wie man es mit den Bildern handhabt: mit Turner Originalen konnten Sie wahrscheinlich nicht arbeiten oder?
    Leigh: Nein, nein! das war unmöglich, Die Originale am Filmset? Können Sie vergessen. Aber die Museen weltweit, besonders die Tate Gallery, waren sehr generös, und haben uns erlaubt, die Motive zu benutzen – die sind ja alle mit Copyright belegt. Also wenn man im Film ein fertiges Bild sieht, ist es eine Reproduktion. Aber wir hatten auch jemanden, der Bilder sehr gut fälschen kann, wo man dann auch den Arbeitsprozess filmen konnte.
    Fischer: Am Ende des Films sagt Turner, dass er sein Werk nicht einem privaten Sammler verkaufen will, sondern es der Öffentlichkeit zugänglich machen will, als Spende. Als Sie den Film gedreht haben, hat die Welt von dem inzwischen verstorbenen Cornelius Gurlitt erfahren , der ja sehr berühmte Bilder in seiner Wohnung hortete, anstatt sie der Öffentlichkeit zu zeigen, Sie haben sicher davon gehört, wie paradox im Vergleich , oder?
    Leigh: Das kann man nicht vergleichen, denn zu Turners Zeit waren ja private Käufer die einzige Absatzmöglichkeit. Außer dem Louvre gab es praktisch keine öffentlichen Ausstellungsorte. Auch die National Gallery in England stand erst am Anfang. Deshalb war seine Idee, dass alle seine Bilder zusammen an einem Ort zu sehen sein sollten für die Öffentlichkeit, das war damals eine sehr radikale Ansicht. Er wollte, dass ganz normale Leute sein Werk kostenfrei sehen konnten.
    Fischer: Was seinen anarchischen Geist und sein Umstrittensein angeht, wäre Turner heute vielleicht ein Banksy, der Streetartist. Können Sie damit was anfangen, ist das überhaupt Kunst für Sie?
    Leigh: Das ist schon Kunst, es ist großer Spaß. Mir gefällt die Anarchie daran. Aber es berührt mich nicht wie Turner oder viele andere Künstler mich berühren, Aber darum geht es Banksy auch nicht. Er ist ein urbaner Guerillakämpfer mit Sinn für Humor, er untergräbt die bürgerliche Moral . Viel Glück damit, das ist toll.
    Fischer: William Turner wurde zu seiner Zeit nicht verstanden, was war an seinen Bildern nicht zu verstehen?
    Leigh: Weil er immer abstrakter malte, er hat immer mehr die Impressionisten und die Kunst des 20. Jahrhunderts antizipiert. Von heute aus betrachtet ist es ganz einfach zu verstehen, was er da gemacht hat, wir kennen ja auch schon Jackson Pollock. Aber Mitte des 19. Jahrhunderts dachten die Leute, er ist verrückt. Oder blind, oder von allen guten Geistern verlassen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.