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Mikrokosmos aus Erleben und Vergessen

Mar del Plata ist das beliebteste Seebad Argentiniens. Südöstlich von Buenos Aires gelegen, schafft es die Stadt, breite Touristenschichten an sich zu ziehen. Typisch für die Heimatstadt des Tangokomponisten Astor Piazolla ist die Mischung aus Unterhaltung und Melancholie.

Von Wolfgang Martin Hamdorf |
    Schwarze Wellen rollen nachts an den Strand. Der Pier, eine alte Holzkonstruktion, ragt in das Meer hinein, das alte Fischrestaurant, zwanzig Meter über dem Meeresspiegel, ist noch erleuchtet, Licht und Schatten gehen ineinander über. An manchen Stellen unheimlich, geradezu abweisend, wirkt es bei einem anderen kurzzeitigen Lichteinfall fast wieder einladend, erzählt die junge Spanierin Clara López Rubio:

    "Das Meer nachts ist sehr schwarz. Es sind trotzdem auch viele milde Nächte, in denen man ins Meer gehen kann und wo man baden kann und man hat Geschichten gehört, wie die von Alfonsina Storni, die ins Meer gegangen ist und da gestorben ist."

    Viele der ausländischen und argentinischen Besucher suchen in Mar del Plata auch nach den Spuren großer argentinischer Dichterinnen: Alfonsina Storni ertränkte sich hier, unheilbar erkrankt, am 25. Oktober 1938 im Atlantik. Auch Alejandra Pizarnik, die ihrem Leben 1976 das Ende setzte, war oft in Mar del Plata und schrieb hier zahlreiche Gedichte.

    Von dem nahegelegenen Spielcasino dringt die Musik bis hierher. Wegen seiner zahlreichen Backsteinbauten wird der Badeort auch "die rote Stadt am Meer” genannt. Mar del Plata hatte einmal das größte Casino der Welt mit Theatern, Varietés und Diskotheken und immer noch füllen sich die Räume in den Sommermonaten zum Roulette, Bingo und Kartenspielen.

    Die Stadt wurde 1874 gegründet, zunächst ein Ort mondäner Sommerfrische. In manchen Stadtvierteln wie "Los Troncos” erinnern großzügige Villen aus dem frühen 20. Jahrhundert an die luxuriöse "Belle Epoque” des Seebades; aber auch der hinter einer hohen Mauer verborgene neoklassizistische Friedhof mit den großen Mausoleen der besten Familien der argentinischen Oberschicht. Der bekannsteste Sohn der Stadt ist Astor Piazolla, der den Tango wie kaum ein anderer Musiker erneuert hat.

    Mar del Plata war gleichzeitig immer auch Laufsteg neuer Tendenzen und Gralshüter etablierter bürgerlicher Kultur. Wie jedes Jahr verlagert sich auch in diesem Sommer ein Großteil der Kulturszene aus dem 400 Kilometer entfernten Buenos Aires nach Mar del Plata.Das Internationale Filmfestival im März ist eines der bekanntesten in Lateinamerika. Die Kabaretts, Boulevardtheater, Strassen und Synfonieorchester in einer ostblockartig anmutenden Badeortarchitektur ziehen auch zahlreiche ausländische Gäste an, erzählt Benjamin Seidel aus Berlin:

    "An der Stadt ist, glaube ich, das absolut interessanteste die wunderbaren Bars und Kneipen und da verbringt man auch die meiste Zeit, der Strand selber ist nicht so schön, aber die Kinos selber sind sensationell, das ist mit Abstand das Schönste eigentlich – Bars und Kinos."

    "El asado”, gegrilltes Fleisch und Fleisch und wieder Fleisch bestimmt immer noch das Essen – auch wenn der Fisch in der Küstenstadt hervorragend ist, erzählt die argentinische Schauspielerin Gladys Lizarazu:

    "Das Essensangebot ist unglaublich, wenn ich hier bin, nehme ich immer ein oder zwei Kilo zu."

    Mar del Plata war zunächst der Rückzugsort für erholungsbedürftige Großbürger aus Buenos Aires. Der Charakter der Stadt änderte sich in den 40er Jahren, in der ersten Phase des im Peronismus organisierten Massentourismus der argentinischen Arbeiterschaft, erzählt der argentinische Journalist Diego Broderson:

    "Also in den zwanziger, dreißiger Jahren war das ein Ort für reiche Familien, aber mit der Machtübernahme Peróns kamen Kleinbürger und Arbeiter. Das prägt bis heute noch das Stadtbild, diese fast kommunistische Architektur, die ja sehr viel mit dem Charakter der Perónregierung zu tun hat: auf der einen Seite rechts und militaristisch, aber auf der anderen Seite auch eine ganz starke sozialistische Komponente. Das ging bis in die siebziger jahre, ab da hört die Entwicklung auf, und so wirkt alles heute wie eingeschlafen, in der Vergangenheit stehengeblieben."

    So spiegelt Mar del Plata in seiner zerrissenen Architektur bis heute auch die allgemeine Entwicklung am Rio de la Plata wieder. Die wohlhabenden Argentinier verbrachten noch bis in die 90er Jahren die Sommerfrische an ausländischen Stränden. Mit dem Zusammenbruch der argentinischen Wirtschaft vor 5 Jahren wurden die Bankguthaben eingefroren, die Eliten in den Inlandsurlaub verbannt:

    "Ja, nach der Wirtschaftskrise hat sich alles geändert, die Leute konnten nicht ins Ausland fahren und die sind nach Mar del Plata gegangen und auf einmal ist Mar del Plata richtig voll gewesen, die Hotels haben nicht gereicht. Die vielen Hotels, die da waren, und die Apartments und alles haben nicht gereicht, weil es zu viele Leute gab. Ja und jetzt ist es so, dass Mar del Plata nicht nur für Pensionierte und Familien ist, sondern für die ganze argentinische Gesellschaft."

    Das zeigt sich auch in dem durchaus gemischten Publikum auf der langen Strandpromenade unterhalb des Casinos. Hier wird Kunsthandwerk, falsche Markensonnenbrillen und Souveniers angeboten, die an den Adriaurlaub in den 60er Jahren erinnern. Für Generationen von Argentiniern wurde Mar del Plata zum Inbegriff ungetrübter Strand- und Badefreuden erzählt Diego Broderson:

    "Ich habe eine ganz starke visuelle Erinnerung, als ich drei oder vier Jahre alt war; eine Zeit, in der man sich normalerweise nicht so gut erinnert, aber ich habe es noch deutlich vor Augen, als ich mit meinen Eltern im Auto die letzte Kurve vor dem Stadtzentrum passierte. Dann sah ich auf der einen Seite das Meer liegen und auf der anderen Seite die Stadt."

    Zwischen dem Meer und den neoklassizistischen roten Backsteinfassaden wird verkauft und getanzt. Besonders die Älteren und ganz Alten bewegen sich munter zu Tango und Merenguetakten, die aus den kratzigen Lautsprechern dringen. Die soziale Dimension des Massentourismus zeigt sich ganz deutlich in der Vor- und Nachsaison, wenn das Durchschnittalter in die Höhe schnellt. Vicente Aranguren, heute 84 Jahre alt, kommt immer wieder in den Sommermonaten zurück:

    "Mar del Plata ist einfach großartig, wunderschöne Küstenstriche, hat große Hotels, wunderbare Gebäude. Es gibt viele Orte, auf die wir stolz sein können in Argentinien, aber drei Millionen haben im letzten Monat Mar del Plata besucht, das ist doch wahnsinnig viel."
    In der Hauptsaison kann man sich nur mühsam an den ausgebreiteten Handtüchern entlang bewegen. Gladys Lizarazu:

    "In der Hauptsaison komme ich nicht so gerne, denn dann sind die kleinen Sandstreifen völlig überfüllt. Ruhe findet man da eigentlich nirgendwo. Im März finde ich es ideal, da findet das Filmfestival statt und das Wetter ist auch noch so, dass man schwimmen und sich sonnen kann."

    Am Strand bieten Eis- und Spielzeugverkäufer ihre Waren an und das lehmige trübe Wasser schlägt an den Sand. Die Mündung des Rio de la Plata ist nicht weit. Die Familien trinken Matetee: Mit den dünnen Silberröhrchen aus den kleinen Kürbissen schütten sie immer wieder Wasser aus der Thermoskanne nach. Mar del Plata beherbergt Sommergäste mit völlig unterschiedlichem Geldbeutel, sagt der Hotelfachschüler Manolo:

    "Der Tourismus ist heute völlig gemischt. Einerseits der breite Massentourismus, dann die eher elitärere Schiene. Es gibt alles und das zeigt sich auch in den zahllosen Unterkunftsmöglichkeiten, vom 5-Sterne-Hotel bis zur einfachsten Bleibe: Es gibt Unterkünfte für alle Bedürfnisse."

    Das Taxi rattert über die holprigen Straßen im Hafengebiet hin zur Seelöwenkolonie. Der Taxifahrer:

    "Dieser Kran da vorne, da haben sie noch die schweren Wracks aus dem Hafenbecken gezogen. Da hinten bei den Seelöwen sieht man den riesigen Schiffsfriedhof. Und hier vorne fahren die Küstenfischer ab, etwa 170 Schiffe mit sieben Mann Besatzung, die fahren morgens um 5 Uhr raus und kommen abends um 5 Uhr zurück."

    Der Hafen und auch die Fischerei sind neben dem Tourismus die zweite Einnahmequelle der Stadt. Ein faszinierendes Durcheinander von Kränen, Werften und Fischerbooten.

    "Da fahren die großen Fischerboote ab, die sind zehn bis fünfzehn Tage unterwegs, die brauchen erst einmal zwei Tage, um überhaupt in die Fischgründe zu kommen und dann noch zwei Tage wieder zurück, das dauert lange. Da vorne wird der Treibstoff entladen, der kommt in grossen Schiffen an und wird dann entladen und mit LKWs in die Nachbardörfer gebracht."

    In den verlassensten Ecken des Hafens breitet sich vor dem Besucher eine bizarre Rostlandschaft aus. Zwischen den Wracks haben sich die Seelöwen ausgebreitet. Sie liegen bequem in der Sonne, springen behendig ins Wasser und verbreiten einen seltsamen Geruch nach Fisch und Tierkot.

    Ein kleines Denkmal erinnert in der Fußgängerzone an Astor Piazolla. Die Hochhäuser der 70er Jahre sind grau geworden. Ramsch und Billigangebote bestimmen das Angebot vieler kleiner Läden. Diego Brodersen:

    "Diese allgemeine Stagnation ist überall sichtbar und es gibt sehr schöne Gebäude, wie das Hotel Provincial, einst das luxoriöseste Hotel der Stadt, das heute leer steht. Generell lässt der Denkmalschutz doch sehr zu wünschen übrig."

    So wirkt Mar del Plata mitunter wie ein melancholisches Patchwork der eigenen Geschichten und der eigenen Geschichte. Bei allen Krisen und politischen Zusammenbrüchen der letzten jahrzehnte seit dem Sturz Perons wird besonders die letzte Wirtschaftskrise in Argentinien von vielen Älteren als ein Zusammenbruch eines gesamten Wertesystemes wahrgenommen:

    "Ich in meinem Alter stehe im Bus immer noch auf und gebe meinen Platz her. Ich setze auch meinen Hut ab, wenn ich den Aufzug betrete. Das hat sich doch völlig verloren, zumindest in Argentinien. Zu meiner Zeit, da gab es noch Erziehung, da hat man sich noch benommen. Heute bin ich sehr traurig über das, was in Argentinien passiert. Es ist beschämend, was bei uns passiert, beschämend nicht wegen der Touristen, sondern unsretwegen. Die Leute schlafen auf der Straße, stehlen sich ihr Essen zusammen – in einem Wort: Das Land ist sehr hässlich geworden!"

    Mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch brach aber auch das Tabu der Vergangenheitsbewältigung. Erst nach dem Desaster der neoliberalen Politik konnte mit der Aufarbeitung des Schicksals der 20.000 Verschwundenen unter der Militärdiktatur, den massiven Folterungen, Morden und Menschenrechtsverletzungen in den 70er und 80er Jahren begonnen werden.

    Heute ist "La memoria”, die Erinnerung, die Aufarbeitung der Vergangenheit in vielen Bereichen der argentinischen Kultur präsent. Der Filmregisseur Tristán Bauer wurde 1959 in Mar del Plata geboren. In seinem Film "Iluminados por el fuego" (Erleuchtet durch das Feuer) erzählt er über den letzten Krieg der Militärdiktatur, als eine ganze Generation in den sinnlosen Kampf um die Falklandinseln gehetzt wurde:

    "Das Filmgenre arbeitet mit Bildern und deswegen kann es das Gedächnis sichtbar machen, die Erinnerungen an die Vergangenheit. Der argentinische Film hat sich ganz besonders immer wieder mit dieser Vergangenheit beschäftigt. Nicht aus Liebe zur Selbstkasteiung oder aus nostalgischer Verklärung der Vergangenheit oder aus Freude am Stillstand, sondern um wirklich einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen."

    Erst spät in der Nacht kehrt am Strand wieder Stille ein. In einem bewegten Land mit einer bewegten Geschichte ist Mar del Plata ein Mikrokosmos, ein Maremagnum aus Unterhaltung, Vergnügungssucht und immer wieder auch jener melancholischen Mischung aus Tango, Erleben und Vergessen.