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Mikroskulpturen
Fast unsichtbare Kunst

Der Brite Willard Wigan macht nach eigener Aussagen die kleinsten Skulpturen der Welt. Dem bloßen Auge erscheinen sie als winzige Krümel, erst durch das Mikroskop erschließt sich die perfekte Arbeit Wigans, die manchmal Monate dauert. In Hamburg ist die erste Schau von Wigans Werken in Kontinentaleuropa zu sehen.

Von Dirk Schneider | 16.04.2014
    Der britische Mikroskulpturenkünstler Willard Wigan sitzt am 14.04.2014 in Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg bei der Ausstellung «Kleine Welten», vor einem Mikroskop.
    Der britische Mikroskulpturenkünstler Willard Wigan (picture alliance / dpa / Maja Hitij)
    Im Jahr 1957 kam der Film "The Incredible Shrinking Man" in die Kinos: Die Hauptfigur namens Scott Carey schrumpft unaufhaltsam, bis seine Frau ihn eines Tages für verschwunden erklärt und er seinen Trost in der Welt des Mikrokosmos findet. 1957 ist auch das Geburtsjahr von Willard Wigan, der sich auf seine Weise in den Mikrokosmos begibt. Er behauptet, die kleinsten Skulpturen der Welt zu machen. Und das ist wahrscheinlich wahr. 0,05 Millimeter sind sie im Schnitt klein, und Wigan arbeitet daran, sie noch kleiner zu machen.
    "Gott hat uns aus dem Nichts geschaffen, aus dem Staub. Mit meinen Werken möchte ich den Menschen zeigen, dass es die kleinen Dinge sind, die die großen erst erschaffen. Die großen Ideen kommen von den kleinen. Wenn wir denken, kann man nicht sehen, was dabei vorgeht. Aber daraus entsteht die Idee. Sie ist unsichtbar, und wir Menschen verwandeln den Gedanken in etwas Sichtbares."
    Dass Wigans Skulpturen mit bloßem Auge schwer zu erkennen sind, ist nicht richtig. Sie sind mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen. Die Ausstellung von 20 seiner Werke im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe besteht aus zwei Räumen mit je zwei Tischen, auf denen Mikroskope stehen. Unter den Okularen beleuchtete Steck- und Nähnadeln.
    Was ohne Mikroskop kaum als Schmutzrand in einem Nadelöhr zu erkennen wäre, erweist sich in der Vergrößerung als eine Darstellung des letzten Abendmahls Jesu, frei nach Leonardo Da Vinci. Dreizehn individuell gestaltete Personen sitzen da an einem Tisch: Jesus in der Mitte, am Abend vor seiner Kreuzigung. Ihr Schöpfer hat dieses Abendmahl mit Diamantsplittern aus einem Kunststoff herausgeschnitzt und bemalt mit einer Wimper als Pinsel.
    "Ich muss auf jede Bewegung aufpassen, selbst auf den Pulsschlag in meinen Fingern. Auf meinen Atem, meinen Herzschlag. Ich halte Diät. Vermeide Lärm. Es ist absolute Hingabe. Ich wurde ein 'Dead Man Working', ein Toter bei der Arbeit."
    Blick auf die kleinen Details
    Willard Wigan ist 1,80 Meter groß und wirkt sehr sportlich. Man könnte den 57-Jährigen locker zehn Jahre jünger schätzen. Nur seine Augen sehen alt aus, mitgenommen, der Rand der Iris verschwimmt unscharf im Weißen der Augen. Seit er ein kleiner Junge war, blickt Wigan mit diesen Augen auf die kleinsten Details seiner Umgebung.
    "Ich habe früher gerne im Garten gesessen und den Ameisen zugeschaut. Unser Hund hat einmal ein Loch gegraben, und es kamen noch viel mehr Ameisen zum Vorschein. Ich habe damals geglaubt, dass Ameisen sprechen können. Also habe ich mit ihnen gesprochen und sie an mein Ohr gehalten, aber ich habe keine Antwort."
    Und der junge Willard glaubte, dass die Ameisen jetzt obdachlos seien. Aus Holz hat er ihnen kleine Häuser gebaut, mit Betten und Tischen, sogar Spielgeräte wie Schaukeln und Wippen hat er für sie gebastelt.
    "Und als meine Mutter das gesehen hat, hat sie zu mir gesagt: Das ist es, was du tun solltest! Meine Lehrerin sagte, ich sei Analphabet und würde später Mülltonnen ausleeren. Dass aus mir nichts werden würde. In der Schule wurde ich vollkommen erniedrigt. Meine Lehrerin hat mich herumgezeigt als Beispiel für einen Versager, für jemanden, aus dem nichts wird. Das Wort 'Nichts' hat mich gedemütigt und mir all mein Vertrauen genommen. Und als ich die Schule verlassen habe, hatte ich: Nichts. Ich war so traumatisiert, dass ich sogar meine Sprache verloren habe."
    Das Sprechen fällt Wigan heute noch schwer. Interviews gibt er dennoch gerne, denn eines hat er gelernt:
    "Man kann auch viel reden und nichts damit sagen, und man kann wenige Worte sagen und damit alles ausdrücken."
    2009 war Wigan sogar Hauptredner bei der TED World Conference. Auch dort hat er über seine Kindheit gesprochen, die ihm die größten Verletzungen zugefügt hat und ihn gleichzeitig zu dem gemacht hat, der er heute ist: Der Mann, der uns eindrucksvoll zeigt, dass auch ein Ding, das nicht größer als ein Staubkorn ist, mehrere zehntausend Euro wert sein kann. Denn Wigans Mikroskulpturen sind begehrte Sammlerobjekte. In ernsthaften Kunstsammlungen wird man sie allerdings eher nicht finden, denn eigentlich sind sie Kitsch.
    Das Kolosseum, das Weiße Haus, das Taj Mahal im Kleinformat, Usain Bolt in Siegerpose, Moses mit den zehn Geboten: Eine Willard-Wigan-Ausstellung ist vor allem eine Kuriositätenschau, egal ob in Hamburg oder anderswo. Und ausgestellt wird, was gerade zur Hand ist.
    Doch zusammen mit Wigans Lebensgeschichte blinkt dann doch manchmal echte Tiefe auf. Etwa in der Figur des ultraminiklitzekleinen Pinocchio, der uns so frech und fröhlich aus seinem Nadelöhr anblickt, als würde er, trotz seiner Winzigkeit, gerade seinen nächsten Streich planen. Wie Willard Wigan, der zum diamantenen Krönungsjubiläum von Queen Elizabeth beauftragt wurde, ihre Krone als Miniatur nachzubilden. Sie befindet sich heute irgendwo im Buckingham Palast. Willard Wigan hat seiner Lehrerin eindrucksvoll bewiesen, dass es Nichts nicht gibt.