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"Militärischer Schutz der Republik"

1960 herrschte Kalter Krieg, die DDR bereitete das Land auf den Ernstfall vor: Am 10. Februar beschloss die DDR-Volkskammer, einen Nationalen Verteidigungsrat einzurichten, der im Fall eines Krieges als Notstandsregierung fungieren sollte.

Von Sylvia Conradt | 10.02.2010
    "Meine Damen und Herren. Getragen von der großen Verantwortung für die Sicherung des Friedens, für die Verteidigung und den militärischen Schutz unserer Republik und für den Schutz der Zivilbevölkerung, legt die Regierung den Entwurf des Gesetzes über die Bildung des Nationalen Verteidigungsrates zur Beschlussfassung vor."

    Willi Stoph, stellvertretender Ministerpräsident und Minister für nationale Verteidigung der DDR, am 10. Februar 1960 vor der Volkskammer.

    "Der Nationale Verteidigungsrat der Deutschen Demokratischen Republik soll die Maßnahmen für die Landesverteidigung festlegen, die notwendig sind, um den Schutz des Arbeiter- und Bauernstaates zu Lande, zu Luft und auf dem Wasser wirkungsvoll zu gewährleisten, die sozialistischen Errungenschaften der Werktätigen zu sichern und die Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik gegen jeden Angreifer zu verteidigen."

    "Der Nationale Verteidigungsrat stand an der Spitze der Sicherheitsarchitektur der DDR."

    Heiner Bröckermann vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam.

    "Im Kriegsfall wäre der Nationale Verteidigungsrat als Führungsstelle der Partei- und Staatsführung aktiv geworden in erster Linie zur Unterstützung der Streitkräfte des Warschauer Vertrages auf dem Boden der DDR und auch entsprechend zur Gewährleistung von - in Anführungszeichen - Ruhe und Ordnung auf dem Gebiet der DDR."

    Als Konsequenz aus den Juniunruhen hatte die SED-Führung bereits 1953 eine sogenannte Sicherheitskommission etabliert. Der Fokus dieses geheim tagenden Gremiums lag zunächst auf der Wahrung der inneren Sicherheit. Doch Ende der 1950er-Jahre rückte der Schutz vor einer äußeren Bedrohung in den Vordergrund. Der Kalte Krieg, die Sorge vor dem - wie es hieß - "angriffslüsternen" Westen und bündnispolitische Forderungen der Sowjetunion nach Aufbau einer kriegsfähigen DDR-Infrastruktur führten schließlich zur Gründung des Nationalen Verteidigungsrates. Zwar blieb das Politbüro das höchste politische Entscheidungsgremium, aber mit dem Nationalen Verteidigungsrat hatte sich Walter Ulbricht ein weiteres Führungszentrum und eine gesetzliche Basis geschaffen, um Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Interesse der SED-Sicherheitspolitik zu mobilisieren. Der Zeithistoriker Armin Wagner:

    "Da beginnt man dann, Umgehungsstraßen zu bauen. Man beginnt, wichtige Straßen, wichtige Eisenbahnstrecken zu duplieren. Das heißt, sie ein zweites Mal nicht zu errichten, aber sozusagen alle Vorbereitungen zu treffen, das Material einzulagern, um sozusagen im Falle eines Krieges in der Lage zu sein, die Hauptachsen auf der West-Ostroute auf jeden Fall aufrechtzuerhalten, auch wenn durch einen befürchteten Luftschlag des Westens diese außer Kraft gesetzt worden wären. Das geht weiter bis hin zur Tatsache, dass in alle Ministerien eine sogenannte Hauptabteilung I eingebaut wird oder implementiert wird, wo nur die Aufgabe dieser Hauptabteilung I ist, sich in diesem Ministerium für diesen Bereich, sei es nun das Bildungswesen oder sei es die Schwerindustrie, die Vorbereitung für den Kriegsfall zu treffen und konkret durchzuplanen, das Finanzierungsvolumen zu erarbeiten, die Maßnahmen zu üben."

    Im Kriegsfall sollte der Nationale Verteidigungsrat als Notstandsregierung fungieren, an deren Spitze der jeweilige Generalsekretär der SED stand, der gleichzeitig Oberbefehlshaber der "bewaffneten Kräfte" war. Zugleich wirkte der Nationale Verteidigungsrat aber auch nach innen.

    "Es werden Internierungslager geplant für die eigene Bevölkerung, nicht für die Gesamtbevölkerung, sondern für die Teile der Bevölkerung, deren man sich unsicher ist. Es wird, allgemein bekannt, es wird zum Schutz eine Mauer gebaut, die angeblich als antifaschistischer Schutzwall nach außen gerichtet ist, die aber natürlich, wie man aus den ganzen begründenden Unterlagen sehen kann, sich vor allen Dingen eben gegen die Republikflucht wendet. Das Besondere ist also das Ausmaß erstens der nach innen gerichteten Repression und zweitens der Umfang dieser infrastrukturellen Vorbereitung auf den Krieg, die eben weit über das hinausgeht, was man als normal - in Anführungsstrichen - bezeichnen kann: wie zum Beispiel, dass man eine Armee hat, diese Armee trainiert, das ist eben das Besondere am NVR."

    Neben dem Vorsitzenden Walter Ulbricht, später Erich Honecker, gehörten dem Nationalen Verteidigungsrat mindestens zwölf hochrangige Mitglieder an, deren Namen streng geheim gehalten wurden. Nach der Wiedervereinigung wurden einige von ihnen wegen des Schießbefehls an der Mauer zu Haftstrafen verurteilt.