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Millimeterarbeit im Kopf

Heilige Krankheit, Fallsucht, böse Staupe oder verborgene Krankheit - Epilepsie hatte im Laufe der Zeit viele Namen. Letzterer trifft heute noch zu: Epilepsiekranke leben oft im Verborgenen. Viele halten ihre Krankheit aus Angst vor Diskriminierung geheim.

Kristin Raabe | 19.01.2003
    Dabei ist Epilepsie eine Volkskrankheit, die genauso häufig ist wie Diabetes und Gelenkrheuma. Rund fünf Prozent aller Menschen haben einmal im Leben einen epileptischen Anfall. 600.000 leben in Deutschland ständig mit der Krankheit. Den meisten helfen die gängigen Medikamente, aber bei rund 30 Prozent der Patienten kann kein Wirkstoff die Anfälle verhindern. Ihre letzte Chance ist eine Operation.

    In Deutschland hat das Epilepsiezentrum in Bonn die meiste Erfahrung mit dieser Technik. Hier können Epilepsiepatienten operiert werden, die andere Zentren bereits abgelehnt haben. Nur in Bonn wird die Operation durch so eine große Anzahl an aufwendigen Untersuchungen vorbereitet. Die vielen Tests sind notwendig, um herauszufinden wo genau im Gehirn der Ursprung der Anfälle liegt. Außerdem müssen die Hirnchirurgen vor der Operation sichergehen, dass sie mit ihrem Eingriff keine wichtigen Hirnfunktionen zerstören.

    Weltweit einmalig ist in Bonn die Kombination von Therapie und Forschung. Durch kaum eine andere Krankheit können Ärzte und Wissenschaftler soviel über das Gehirn lernen - und damit auch über Bewußtsein, Gefühle, Wahrnehmung und Gedächtnis. Durch ihre Forschungsarbeit mit den Epilepsiepatienten haben die Bonner Ärzte eine "Gedächtnispur" im Gehirn entdeckt. Sie können mit Hilfe dieser besonderen Erregungskurve im Gehirn voraussagen, an welche Wörter aus einer ganzen Liste, sich eine Versuchsperson später erinnern wird. Außerdem hat ein Physiker dort mit Hilfe der Chaostheorie ein System entwickelt, mit dem sich die urplötzlich auftretenden Anfälle vorhersagen lassen.

    Vater Der Glanz in den Augen verschwand und sie hatte ein Angstgefühl in den Augen und sprach wirr durcheinander und manchmal lief ihr auch ein bisschen Spucke aus dem Mund, wenn es ganz schlimm war.

    Mutter Das war ein ganz großer Schock. Wir haben gedacht das kann nicht sein, das unser Kind so etwas hat.

    Jenny Ich merke das, wenn das kommt, aber ich kann das nicht so gut beschreiben. Ich merke ein komisches Gefühl im Mund. So am Kinn ein komisches Gefühl, ich kann das nicht genau beschreiben.

    Mutter Die Anfälle wurden nicht besser. Es ging mal eine Zeitlang gut, aber dann kamen sie wieder häufiger, und dann wurden mal wieder Tabletten umgestellt aber das ging jetzt zehn Jahre jetzt...Medikamentös ist da nichts mehr zu machen. Und darum haben wir uns jetzt auch für die Op entschieden. Jenny will so nicht mehr weiterleben wie sie im Moment leben muss.

    Jenny Im letzten Monat im Juni hatte ich 110 Anfälle und da meinte der Arzt das muss raus aus dem Kopf, das muss entfernt werden.

    Wenn "das” endlich raus ist aus ihrem Kopf – dann wären viele Probleme der 16jährigen Jenny beseitigt. Elf Jahre leidet sie nun schon unter epileptischen Anfällen – mehrmals täglich. Nach so langer Zeit kennt sie sich aus: Sie weiß, dass ihre Anfälle so genannte Abscencen oder Petit mal Anfälle sind. Dabei ist sie für eine halbe Minute nicht ansprechbar, und sie verliert die Kontrolle über ihr Gesicht. Ihre Anfälle sind Jenny peinlich, besonders wenn sie sie in der Schule bekommt.

    Jenny Ich halte mich nur im Haus auf. Ich traue mich gar nicht auf die Straße zu gehen. Weil ich da nur gehänselt werde von irgendwelchen Kindern. Das mag ich nicht, mag ja wohl keiner. Meine Schwester, wenn ich die dabei habe, gehe ich manchmal mit ihr zusammen auf die Straße und die hat gute Wörter, um Antworten zu geben, dass sie mich in Ruhe zu lassen haben.

    Mutter Die Leute hier im Dorf, auch unsere Nachbarn, die können mit der Krankheit von der Jenny nicht umgehen. Die meinen, die Jenny ist behindert. Sie wird dann auch so, als "ach das arme Kind, die kann nicht”, sie wird dann so als doof im Kopf, wie man hier so sagt, das kommt dann....weil sie was am Kopf hat. Und die Leute hier, die wissen gar nicht so genau, was mit der Jennifer los ist, aber sie stempeln die so regelrecht ab. Und das kann man denen auch gar nicht so erklären, die haben dafür kein Verständnis. Aber Jenny ist ja gar nicht so, sie ist in keinster Weise behindert und für das was sie hat kann sie absolut nichts für. Und wahrscheinlich ist das von den Kindern, die hier leben, die werden von ihren Eltern nicht richtig aufgeklärt. Aber die Eltern sind ja selbst nicht richtig aufgeklärt. Und die gehen dann hin und hänseln die Jennifer...und das sind dann Sachen, da ist man schneller dran als man denkt. Und jeder ist davon schnell betroffen dann.

    Aber damit soll nun endlich Schluss sein. Deswegen ist sie nach Bonn in das Epilepsiezentrum gekommen. Dort wollen die Ärzte die Ursache für Jennys epileptische Anfälle aus ihrem Gehirn herausschneiden.

    Die Erkrankung Epilepsie zu definieren, ist deshalb so schwierig weil es keine einheitliche Erkrankung ist. Epilepsie ist zunächst einmal daraus abgeleitet, das es ein wiederkehrendes Phänomen gibt, den epileptischen Anfall. Ursachen für dieses wiederkehrende Phänomen sind enorm vielfältig, wir haben einmal epileptische Anfälle, die nur einmal im Leben eines Patienten auftreten. Von einer Erkrankung Epilepsie spricht man dann, wenn ohne akute Ursache, wiederkehrende epileptische Anfälle auftreten. Und da gibt es ein riesiges Ursachengefüge, was auf der einen Seite bei genetischen Veränderungen anfängt, weitergeht über angeborene Strukturveränderungen des Gehirnes, Aufbaustörungen der Hirnrinde. Missbildungen der Hirnrinde, weitergeht durch Verletzungen der Hirnrinde also ein ganz breit gefächertes Spektrum von Einzelerkrankungen.

    Professor Christian Elger leitet die Klinik für Epileptologie der Universität Bonn. Seine Klinik gehört weltweit zu den führenden Epilepsiezentren. Hierher kommen Patienten aus dem gesamten Bundesgebiet, denen sonst nirgends geholfen werden konnte.

    Ich glaube es gibt kaum ein neurologisches Krankheitsbild, was so viele Fortbildungen anbietet, trotzdem ist der Wissensstand schon auf dem Arztniveau sehr gering. Diese Erkrankung hat irgendwas, womit keiner etwas zu tun haben will. Ich kann gar nicht sagen woran es liegt und bei der Bevölkerung ist es noch mehr. Dadurch das die Ärzte schon nicht so gut informiert sind, geben sie die Information nicht an Laien weiter und damit haben die Laien immer wieder die Angst es kann doch was passieren. Patienten mögen es nicht gesehen zu werden im epileptischen Anfall...Es gibt eben einfach Anfälle, die sehen albern aus, der Patient macht sich lächerlich im Anfall weil er kaut schmatzt es läuft im Speichel aus dem Mund . Das ist für ihn diskriminierend, das will er nur seiner engsten Umgebung zeigen und die macht er immer enger, damit hat er einen Ausstieg schon aus seiner Sozialisation. Da die Vorurteile auch beim Arbeitgeber sind, wenn dies bekannt ist, dann heißt es, wie kann jemand eine Aufgabe machen, bei der er Öffentlichkeit hat, zum Beispiel Banken sind ganz kritisch, man vertraut doch keinem Bankmenschen mehr, der da gerade einen epileptischen Anfall hat......so dass einige Leute einen sozialen Abstieg haben oder gar nicht in der sozialen Leiter aufsteigen.

    Rund 800.000 Menschen in Deutschland leiden unter einer Epilepsie. Den meisten helfen Medikamente, aber bei rund 30 Prozent wirken die Tabletten nicht. Ihnen kann nur eine Operation helfen, bei der die Ursache für die Anfälle aus dem Gehirn herausgeschnitten wird. Das kann ein kleiner Tumor sein oder ein winziges Gewebestück, das durch eine Verletzung oder eine Entwicklungsstörung so verändert ist, dass es die epileptischen Anfälle hervorruft.

    Prinzipiell kann man sagen, das jede Epilepsieform in Frage kommt, wo der Beginn herdförmig ist...., vor allem die, die schon bereits sichtbare Strukturveränderungen im Gehirn haben, die man mit dem Kernspintomogramm erkennen kann, sind sehr gut Kandidaten. Wir sprechen heute von sehr gut operierbaren Patienten, wo die Chance bei neunzig Prozent liegt, die Chance durch Medikamente sehr schlecht ist, da wird man nicht mehr sehr lange testen. Ist das ein schwierig zu operierendem Patient, weil der herd in einer funktionell wichtigen Hirnstruktur liegt, dann würde man mehrere Medikamente ausprobieren und erst zu einem späteren Zeitpunkt eine Operation in Erwägung ziehen.

    Alle Arten von Epilepsien haben eins gemeinsam: den epileptischen Anfall. Aber nicht jede Epilepsie lässt sich auch operieren. Und das ist zum Glück auch nicht immer notwendig. Ärzte unterteilen die Epilepsien in zwei Gruppe: generalisierte und fokale Epilepsien. Beide unterscheiden sich in der Art und Weise, wie die Anfälle im Gehirn entstehen. Bei den generalisierten Anfälle beginnt die unkontrollierte Aktivität gleichzeitig praktisch im gesamten Gehirn. Ganze Verbände von Nervenzellen feuern synchron, weil irgendetwas grundsätzliches in der Hirnchemie nicht stimmt. Aber das lässt sich bei den meisten Patienten durch Medikamente ausgleichen. Bei fokalen Epilepsien breitet sich die Aktivität immer von demselben Ursprungsort aus. Zu Beginn erfasst der Anfall nur ein eng begrenzten Hirnbereich. Erst danach kann er sich auf das gesamte Gehirn ausbreiten. Solche fokalen Epilepsien lassen sich durch Medikamente nur schlecht behandeln. Für viele Patienten ist eine Operation die einzige Chance. So ohne weiteres, kann allerdings kein Chirurg im Gehirn herumschneiden. Vor der Operation müssen viele Untersuchungen und Tests klären, wo im Gehirn das Anfallszentrum liegt und ob durch den Eingriff keine wichtigen Funktionen – wie Sprache und Gedächtnis – gefährdet werden.

    Wir haben eine aus Wissenschaftlersicht enorm glückliche Position. Wir haben einen Patienten, den wir aus diagnostischer Sicht besonders gründlich untersuchen müssen und weil bei vielen Patienten die Anfälle in Regionen liegen, die wichtige Funktionen haben, die man nur am Menschen untersuchen kann, sie können am Tier nicht Sprache untersuchen, sie können am Tier nur sehr eingeschränkt Gedächtnis untersuchen. ...Dies führt inzwischen auch dazu, das Wissenschaftler aus der ganzen Welt zu uns kommen, weil wir eine besonders leistungsfähige Einrichtung sind mit zahlenmäßig besonders vielen Daten und sich dran ankoppeln. Wir haben für eine Erkrankung des Gehirnes die einmalige Situation das wir nicht nur den Patienten haben mit seinen Störungen, das ist schon Hinweis genug, diese Gedächtnisstörung die er hat mit dem was sich verändert hat. Aber bei einigen Patienten müssen wir Elektroden ins Gehirn führen, so dass wir da seine Leistung noch viel besser untersuchen können und zur Vorgängen auf der Ebene kleiner Nervenzellen korrelieren.

    An Jennys Kopf ist ein Gewirr von Kabeln befestigt. Ihre Hirnströme werden Tag und nacht aufgezeichnet. Zum Glück haben die Ärzte schon nach wenigen Tagen genug Daten gesammelt, um ihr weiteres Vorgehen zu planen.

    Jennys Mutter Da ist dann festgestellt worden, dass die Jennifer Anfälle hat, wo die Anfälle sind, und das sie kleine Anfälle hat, die wir gar nicht sehen.

    Die sogenannten Ableitungszimmer sind halbkreisförmig um einen Raum angeordnet, der wie ein Kontrollzentrum auf einem Flughafen wirkt. Und tatsächlich ist seine Funktion ähnlich. Die Kurven auf den vielen Monitoren sind die Hirnströme der Patienten in den Ableitungszimmern. Sie liegen dort manchmal wochenlang und warten auf ihre Anfälle. Dabei müssen sie ununterbrochen überwacht werden. Die Daten helfen den Ärzten bei der Diagnose. Aber auch im Keller des Klinikgebäudes interessiert sich jemand für die vielen Daten, die ständig anfallen. Klaus Lehnertz ist Arzt und Physiker. Er wertet die Hirnstromkurven aus, so genannte EEG-Ableitungen.

    Das Ziel unserer Arbeit ist es Anfälle vorher zu sagen, mit Hilfe verschiedener mathematisch, physikalischen Verfahren, und zwar geht es darum, nicht nur bei einem möglichst kurzem Zeitraum vor einem Anfall eine Dedektion zu haben, sondern möglichst lange vorher, um den Patienten warnen zu können, oder durch entsprechende Verfahren die gesamte Anfallsentwicklung zu unterbrechen.

    Ein Frühwarnsystem für epileptische Anfälle: Das könnte ein implantierbarer Chip sein, der die Aktivität des Gehirns vor Ort ständig misst und den Patienten vielleicht schon Stunden vor einem herannahenden Anfall warnt. Vielleicht aktiviert dieser Chip auch eine Mikropumpe, die ein Medikament freisetzt, das den Anfall unterdrückt. Oder der Chip erzeugt selbst einen kleinen elektrischen Reiz, der die Hirnzellen kurzfristig blockiert, und damit den Anfall verhindert. All das ist bereits jetzt theoretisch denkbar. Es gibt dabei nur ein kleines Problem: Die Wissenschaftler müssen erst einmal verstehen, was vor und während eines Anfalls im Gehirn eigentlich passiert. Dazu werten weltweit viele Forschungsgruppen schon seit Jahren die Langzeit –EEG- Ableitungen von Epilepsiepatienten aus.

    Die Entwicklung ist deshalb zäh, weil jede Gruppe für sich behauptet, sie haben entsprechende Verfahren, mit denen man Anfälle vorhersagen kann. Das Problem ist aber, dass die Fehlerquellen, die auftreten können, bei der Datenerfassung, bei der Auswahl der Patienten, bei der Messtechnik, bei der Analyse – alles was da bei der gesamten Kette zusammenkommen kann natürlich darauf hindeuten, dass dann jede Gruppe nur für sich alleine, mit ihren Daten, mit ihren Verfahren die entsprechenden Ergebnisse nur produzieren kann, aber was würde passieren, wenn man die Daten mal untereinander austauscht.

    Genau das ist auf Initiative von Klaus Lehnerts in Deutschland geschehen. Das Ergebnis dieses Austauschs hat alle verblüfft: Die Vorgänge im Gehirn von Epilepsiepatienten sind viel komplizierter als alle dachten. Ginge es nach Klaus Lehnerts und seinen Kollegen müssten die Mediziner ihr Konzept von dem, was ein epileptischer Anfall ist, komplett umstellen.

    Wenn man jetzt davon ausgeht, dass ein Anfall nicht so etwas ist, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sondern eher so etwas, das sich langsam aufschaukelt, und im wesentlichen nur die Spitze eines Eisbergs ist, dann könnte man auch noch weiter denken und sagen ja warum muss dieser Anfall überhaupt auftreten, das heißt es ist wahrscheinlich vorher in diesem Gehirn ein Prozess abgelaufen, der dazu geführt hat, dass irgendein Mechanismus auftritt, um das ganz zu normalisieren, dass heißt man könnte den Anfall als ein Reset-Phänomen.... darstellen.

    Der epileptische Anfall ein Reset? Alles auf Anfang. Zurück zum Normalzustand. Aber was ist eigentlich der Normalzustand in einem Gehirn, dass nur durch unkontrollierte Aktivität wieder in den Ruhezustand gelangt.

    Es ist bekannt, dass das epileptische Gehirn auch zwischen den Anfällen nicht – in Anführungszeichen – normal ist. Man sieht eben auch da im EEG verschiedene Aktivitäten, die darauf hin deuten, dass es sich um einen Epilepsiepatienten handelt. Und natürlich kann man erwarten, dass dort auch etwas ähnliches zu sehen ist, wie vor einem Anfall oder während eines Anfalls nur eben nicht in einer derartig ausgeprägten Form. Und wenn man so etwas herstellen will wie ein Anfallswarnsystem oder ein Anfallverhinderungssystem dann sollte man sich auch tunlichst darum kümmern, was zwischen den Anfällen passiert, weil das ist das was eigentlich die meiste Zeit ausmacht. Wenn ein Patient im Monat 5 Anfälle hat, die vielleicht insgesamt 5 Minuten dauern, dann sind das 5 Minuten von den vielen 10 000 Minuten, die da sonst noch übrig bleiben und das ist die normale Aktivität mit denen, so ein System klar kommen muss. Und es muss eigentlich die normale Aktivität, die ein Patient so hat mit erfassen und interpretieren können und das ist eigentlich die Hauptaufgabe, an die momentan viele Leute eigentlich gar nicht dran denken, dass es das größte Problem überhaupt ist.

    Der Alltag des Gehirns eines Epilepsiepatienten ist also am schwierigsten zu begreifen. Und Klaus Lehnertz hat sich auch dieser Aufgabe gestellt:

    Was sind fünf Minuten im Gehirn? Das ist nichts. Wir analysieren im Moment Daten, die über mehrere Tage bis mehrere Wochen erfaßt worden sind - also möglichst viel. Aber es ist immer noch nicht alles, und nicht das, was der Patient zu Hause erlebt, weil er hier in der Klinik ist, das ist eine artifizielle Situation, aber das sind die ersten Schritte, die man einmal durchgehen muss.

    Aber selbst wenn es den Forschern mit Hilfe komplizierter mathematischer Verfahren gelingt, die Vorgänge im Gehirn genau zu verstehen, bleibt immer noch ein Problem ungeklärt. Wie lässt sich der Anfall verhindern? Die meisten Wissenschaftler meinen, das ließe sich am besten durch die so genannte Neurostimulation erreichen: Der implantierte Chip, der die Aktivität des Gehirns ständig überwacht, müsste durch einen kurzen elektrischen Reiz die Hirnzellen blockieren, und so den herannahenden Anfall verhindern.

    Dann stellt sich die Frage, wann ist der günstigste Zeitpunkt eine Intervention zu machen. Also auf Neudeutsch, gibt es einen "Point of No Return”. Wenn ich vor einem Anfall versuche zu stimulieren und versuche dieses System zu stimulieren, dann kann es natürlich auch genauso gut sein, dass ich diesen Patienten in den Anfall treibe. Also wo ist der Punkt sagen zu können, hier ist die Stimulation am sinnvollsten. Und das ist im Moment nicht klar.

    Egal wie ein Anfallverhinderungssystem einmal aussehen wird – es wird noch etliche Jahre dauern, bis es dem ersten Patienten implantiert werden kann. Dann allerdings könnte es vielen Epilepsiepatienten eine schwierige und oft auch gefährliche Operation ersparen.

    Jenny hat endlich alle Untersuchungen hinter sich. Die Ursache für Ihre Anfälle ist ein inaktiver Tumor. Er liegt im Bereich des Hippokampus. Dieser Hirnteil ist auch eine Art Gedächtniszentrum. Jenny hat diesen Tumor schon sehr lange und leidet bereits seit ihrem 5. Lebensjahr an Anfällen. Trotzdem ist eine Operation möglich. Es bleibt jedoch ein Risiko: Vielleicht kann Jenny nach dem Eingriff nicht mehr sprechen. Aber die Aussicht endlich ihre Anfälle loszuwerden ist dieses Risiko wert.

    Mutter Die Risiken sind zwar sehr groß, aber die Jenny möchte es gerne, denn sie möchte gerne anders leben nicht so wie bisher, das war kein Leben für die Jenny. Und ich denke mal, wenn die Operation erfolgreich war und davon gehen wir aus, dann kann die Jenny anfangen zu leben. Nicht wahr?

    Jenny Ja ganz genau.

    Als die Schwestern sie für die Operation vorbereiten, kann Jenny ihre Angst nicht verbergen.

    Jenny Das habe ich von meiner Oma bekommen, das ist mir sehr sehr heilig, darum nehme ich das auch mit bei der Op, das soll mich beschützen.

    Die Operation führt Bernhardt Meyer durch. Zumindest den wichtigsten Teil: Das Entfernen des linken Hippocampus. Zuvor hat ein Kollege einen Zugang freigelegt. Also Jennys Schädeldecke aufgesägt, die Hirnhaut vorsichtig freipräpariert und schließlich arbeitete er sich mit dem Skalpell immer weiter in Richtung Hippokampus vor, dorthin wo der Tumor liegt, der die Anfälle verursacht. Mit dem Skalpell mitten hinein, in die beige-graue Masse, in der Jennys Bewusstsein, ihre Empfindsamkeit – vielleicht ihr Geist – verborgen liegen.

    Als Bernhard Meyer hinzukommt, um die Feinarbeit zu übernehmen, hat die Operation bereist einige Stunden gedauert. Bewaffnet mit Spatel, Ultraschallzerstörer und Sauger macht er sich ans Werk. Jeden einzeln Handgriff beobachtet er durch sein Mikroskop.

    Ich weiß nicht ob sie das sehen können, ich zeige Ihnen jetzt mal den kranken, den Tumorinfiltrierten und bestrahlten Hippocampus im Gegensatz zu den hinteren Anteilen, die nicht ganz so krankhaft sind, wie das da aussieht, hier vorne das ist praktisch kranker Hippocampus, der da so fast lose ist, wenn sie das dann weiter nach hinten verfolgen sehen sie das der ganz weiß und glatt ist, so sollte der eigentlich aussehen.

    In diesem Fall ist es so, das man einen etwas modifizierten Zugang gewählt hat und zwar durch Gewebe, das schon erkrankt war, so das wahrscheinlich alles was entfernt worden ist, eigentlich im Prinzip erkrankt war und wahrscheinlich funktionslos war.

    Sie können bei der Operation Katastrophen erzeugen. Sie können heutzutage auch noch an der Folge eines Eingriffs im Gehirn sterben, aus diffusen Gründen heraus, weil in der unmittelbaren Nähe Gefäße sind, die sie zum Beispiels schonen müssen, die können relativ klein sein, aber trotzdem überlebenswichtig, dann sind in der ganzen Nähe auch die großen Gefäße, das sind alles Dinge die auftreten können. Was in diesem Fall jetzt noch am ehesten Komplikationen wären, wobei die in einem Prozentsatz von ein bis zwei Prozent liegen sind zum Beispielssprachstörungen, Sehstörungen oder Bewegungsstörungen an der gegenüberliegen Körperhälfte, weil die Bewegungsbahn in unmittelbarer Nähe ist, das sind so die Standarddinge, die man sagen muss, die sind so in einem Bereich von zwei bis drei Prozent Risiken da dabei sind, wobei das in den allermeisten Fällen nicht bleibend ist, das geht dann auch wieder weg.

    Am Epilepsiezentrum Bonn geschieht kaum etwas, dass nicht auch der Forschung dient. Jeder Gedächtnistest wird ausgewertet, jede EEG-Kurve analysiert und auch das Hirngewebe, dass den Patienten bei den Operationen entnommen wird, muss eingehend untersucht werden. Vom Gehirn des Patient gelangt es direkt in einen gekühlten Behälter mit künstlicher Hirnflüssigkeit. Im Keller des Gebäudes kommt es dann in feine Scheibchen geschnitten in die Messkammer von Heinz Beck:

    Man kann hier Schnitte wenn sie angefertigt sind auf ein Netz legen und dann wird dieser Schnitt nur von einem sehr dünnen Film von Nährlösung umspült. In solchen Kammern kann man Schnitte zwölf bis vierundzwanzig Stunden am Leben halten.

    Und das ist nicht zuletzt auch ein Verdienst dieser speziellen Netze: Sie sind nämlich aus einem ganz besonderen Material:

    Das sind Damenstrumpfhosen, getragene sind am besten.

    Wenn die Hirnschnitte, dank der Netze aus Damenstrümpfen überleben, kann Heinz Beck Messungen an den Membranen der einzelnen Nervenzellen durchführen. Dabei interessieren ihn vor allem die sogenannten Ionenkanäle in den Zellmembranen. Durch sie werden elektrische geladene Atome und Moleküle, so genannte Ionen, in die Zelle hinein und wieder hinaus transportiert. Durch die Ionenkanäle reguliert die Zelle ihre elektrische Aktivität. Wenn diese Kanäle fehlerhaft sind, können sie die unkontrollierte Aktivität im Anfallszentrum von Epilepsiepatienten hervorrufen. Auch die meisten Medikamente gegen Epilepsie, so genannte Antiepileptika, wirken an den Ionenkanälen. Ein Beispiel dafür ist der sehr häufig verordnete Wirkstoff Carbamazepin. Warum gerade Carbamazepin bei manchen Patienten versagt, fand Heinz Beck mit seinem Experimenten heraus. Offenbar ist der Ionenkanal im Anfallszentrum einiger Epilepsiepatienten so verändert, dass Carbamazepin dort nicht angreifen kann.

    Das ist ein interessanter Befund, weil das bedeutet, das möglicherweise Veränderungen direkt am Wirkort von Antiepileptika also an einzelnen Ionenkanälen an der Membran von Nervenzellen dafür verantwortlich sind, das Substanzen bei einzelnen Patienten nicht mehr wirken und im Nebenschluss birgt das natürlich die Perspektive, das man irgendwann hingehen kann und sagen kann, ich weiß genau, welche Zusammensetzung die Ionenkanäle in diesem epileptischem Gewebe habe ich muss jetzt einen Substanz designen , die diesen veränderten Ionenkanal blockiert, das eröffnet natürlich schon die Perspektive, das man wesentlich gezielter Substanzen designen kann, die im Anfallsherd wirksam sind.

    Wenn es Heinz Beck gelingt einen Wirkstoff zu finden, der auch an den veränderten Ionenkanälen angreift, dann könnte auch den Patienten geholfen werden, die für eine Operation nicht in Frage kommen.

    Jenny hat die Operation überstanden. Acht Wochen danach ist nichts mehr wie vorher – plötzlich hat die 16jährige ein ganz normales Teenagerleben:

    Jenny Also ich habe auch ein richtig gutes Gefühl gehabt, als erstes so richtig dolle Kopfschmerzen, aber ich habe gespürt, das es mir besser geht.

    Vater Sie hat auch schon ein paar Stunden wieder am Klavier gesessen. Seit einer Woche ist sie auch schon wieder in der Schule aber ich denke noch ein paar Wochen weiter und dann kann sie auch die volle Stundenzahl mitmachen.

    Mutter Es ist sehr schwer, wenn man ein Kind hat, das jahrelang Anfälle hatte, das ist sehr schwer zu verstehen, das auf einmal keine Anfälle mehr da sind. Man wartet ja sonst immer drauf, ah jetzt kann sie wieder einen Anfall kriegen oder das kann jetzt passieren aber ich glaube die Jenny versteht das selber auch noch gar nicht so. Ich meine wir sind alle froh, dass das alles vorbei ist, aber das ist schwer zu verstehen, aber auf einmal ist das nicht mehr da, was die ganze Zeit gestört hat.

    Jenny Bis jetzt hatte ich keinen einzigen Anfall mehr. Ich finde das gut im ganzen, das ich keine Anfälle mehr kriege. Ich merk das einfach, dann freue ich mich nicht darüber, aber ich merk das einfach, auch im Herzen, das ich normal bin, das ich tun und lassen kann was ich möchte, später den Führerschein machen darf. Und dann merke ich, ich habe die Operation überstanden, das sage ich auch manchmal noch zu meinen Eltern und dann merke ich, ich habe keine Anfälle mehr.

    Im Jennys Dorf ist gerade Kirmes. Jenny fährt Autoscouter – wie alle anderen Teenager auch.