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Millionenschaden durch Orthographie-Chaos?

Karin Fischer: Wer lange genug Grammatikunterricht erfahren hat, erträgt die Leiden der Welt besser, soll Lenin einmal gesagt haben. Die Frage wäre jetzt, machen die Reformer der einst mühsam eingebläuten Rechtschreibregeln den Lohn der Qual einfach zunichte, oder erträgt, wer zweimal im Leben Grammatik lernen musste, die Leiden der Welt vielleicht doppelt so gut? Einer, der das Leiden an der reformierten Rechtschreibung bestens kennt, ist der Aachener Germanist Professor Christian Stetter, denn seit nunmehr 23 Jahren betreuen er und sein Team unter anderem das so genannte "grammatische Telefon". Fünf mal in der Woche werden dort für ein paar Stunden Fragen zur Rechtschreibung, Grammatik oder Zeichensetzung beantwortet. Nun denkt sich der Laie, dass mit der Reform, die ja auch der Systematisierung dienen sollte, diese Regeln einfacher zu erläutern seien. Christian Stetter, ist dem so?

Moderation: Karin Fischer |
    Christian Stetter: Nein, also das kann man eindeutig sagen. Das neue Regelwerk ist viel komplizierter als die alten Regeln. Das hat sich längst herausgestellt. Es gibt ein paar Erleichterungen in Bezug auf den Wortschatz, der in der Grundschule vermittelt wird, aber alle orthografischen Probleme, die in späteren Schulstufen behandelt werden, also die ganze Kompositumsbildung, die Zeichensetzung, die Groß- und Kleinschreibung, die Getrennt- und Zusammenschreibung, das sind alles Probleme, die in der Grundschule nicht auftauchen, die tauchen später auf, und es hat sich in der Debatte längst herausgestellt, dass hier die entscheidenden Schwachpunkte der neuen Regelung sind, weil die Regeln so unübersichtlich sind, dass niemand sie genau versteht.

    Fischer: Nun sagen Sie, dass ein sehr wichtiger Aspekt dieser ganzen Reform überhaupt noch nicht in der Öffentlichkeit debattiert worden ist.

    Stetter: Ja, und das hängt damit zusammen, dass man sich die Grundfunktion einer Orthografie klarmachen muss. Die Grundfunktion besteht darin, die Schreibung eindeutig zu machen. Das haben wir schon mal bis Ende des 18. Jahrhunderts. Dann gibt es noch mal eine Verwerfung in der Romantik durch Jakob Grimm, aber Ende des 19. Jahrhunderts steht die Orthografie des Neuhochdeutschen fest. Die wird da nicht neu geregelt. Wenn sie den Brockhaus von 1880 nehmen, dort steht exakt die Orthografie drin mit Ausnahme des "th", das einzige, was man 1901 wirklich geregelt hat, die angeblich da erst erfunden worden ist. Das ist eine eindeutige Regelung. Das heißt auch, dass die Tendenz der Orthografie dahin geht, Varianten zu vermeiden. Die Neuregelung hat Tausende von Varianten erzeugt, und das hat nun einfach folgende Konsequenz, dass in einem Zeitpunkt, wo man ja schriftliche Informationen weitestgehend auf EDV umstellt, die ganze Datenverarbeitung eigentlich voraussetzt, dass die Schreibung eindeutig ist. Das heißt, wir haben zum Beispiel bei den Bibliothekaren eine große Debatte darüber, dass die Informationen, die in den Bibliothekskathalogen repräsentiert sind, nun an nicht übersehbaren Punkten von der Neuregelung tangiert werden. Das muss natürlich Einfluss auf die Informationsverarbeitung haben.

    Fischer: Sie sprechen von der einheitlichen Orthografie, und Sie vermitteln festgelegte, aber nicht immer konsistente Sprachregeln. Ist das aber nicht ein Widerspruch zu dem dauerhaften Bekenntnis auch der Reformer, Sprache sei etwas Lebendiges, und man müsse und würde auch in Zukunft deren natürliche Entwicklung zur Kenntnis nehmen und in so eine Reform einarbeiten?

    Stetter: Aber dann genau kann man das nicht machen, was die Reformer gemacht haben. Einen solchen Versuch wie die Reform hat es noch nie gegeben, in Deutschland nicht, in anderen schriftlichen Kulturen auch nicht. Die Orthografie ist keine willkürliche Regelung, die von irgendeiner Gruppe gemacht wird. Das hat auch der Duden nie gemacht. Die Orthografie ist ein Evolutionsprodukt, das sich mit der Schrift entwickelt. Wir könnten ja ohne die orthografischen Register die Alphabetschrift überhaupt nicht benutzen. Die Orthografie hat sich mit der Alphabetschrift allmählich entwickelt und ist immer gemacht worden von denjenigen, die schreiben, das heißt von den Schriftstellern, Verlagen usw. Das ist der Prozess gewesen. Da haben sich Lösungen herausgebildet, und die stehen Anfang des 20. Jahrhunderts fest. Der Duden hat nichts anderes gemacht als sehr vorsichtig und sehr konservativ das zu beschreiben und allmähliche Veränderungen in der Schrift festzuhalten. Der hat nie mehr normiert.

    Fischer: Es beginnt auch im Moment wieder eine Debatte darüber, wo die Grenzen des staatlichen Einflusses und der Regulierbarkeit von Sprache überhaupt liegen. Gibt es da neue Erkenntnisse aus dieser acht- bis zehnjährigen Diskussion, die wir jetzt haben?

    Stetter: Jetzt allmählich nähert man sich zunächst mal dem Bewusstsein des Problems an. Der Staat kann das nicht regeln. Das kann nur eine Institution machen, die wirklich die Methoden und die Empirie hat, die die Duden-Redaktion zum Beispiel hat. Die hat auch ihre Fehler gemacht, aber die Praxis war nach meinem Dafürhalten insgesamt ganz vernünftig. Man könnte das durch den Beirat ergänzen, aber von Leuten, die wirklich wissen, was Schrift ist, und nicht von Kultusministerkonferenzen, die ja gar nicht wissen, was Schrift ist. Das muss man mal deutlich sagen. Der Staat kann das nicht, es ist ein Evolutionsprozess. Schriftliche Normen stehen nicht unter der Jurisdiktion des Staates, das ist eine absurde Vorstellung.

    Fischer: Vielen Dank für das Gespräch.