Donnerstag, 28. März 2024

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Milton Nascimento und Hamilton de Holanda
Superstars brasilianischer Musik

Milton Nascimento und Hamilton de Holanda verbindet nicht nur eine langjährige Freundschaft, sie sind auch die Superstars der brasilianischen populären Musik. Jetzt hat de Holanda die oft politischen Songs seines Freundes Nascimento eingespielt.

Von Camilla Hildebrandt | 01.12.2017
    Hamilton de Holanda hält eine Mandoline über seine rechte Schulter.
    Hamilton de Holanda: der "Jimi Hendrix der Mandoline" (Marcos Portinari)
    Musik: "Bola de Meia" - Hamilton de Holanda
    "Meine Band und ich, wir haben schon immer viel Musik von Milton Nascimento gehört. Seine Lieder inspirieren ungemein. Wir arbeiten jetzt seit rund fünf Jahren mit ihm und empfinden sehr viel Respekt und Liebe für seine Musik. Das ist auch etwas, was uns als Quintett zusammenhält. Jetzt war es an der Zeit, diese Zusammenarbeit und Freundschaft auf einer CD festzuhalten."
    Miltons Musik sei ein Ort der Menschlichkeit, sie sei Freundschaft im poetischen Sinne, sagt der Brasilianer Hamilton de Holanda über seinen Kollegen Milton Nascimento. Beide Musiker spielen in der Liga der Superstars der MPB – der Música Popular Brasileira. Der eine ist mehr Jazz-orientiert, der andere mehr dem Samba und Bossa Nova verbunden.
    Im Oktober hatte Altmeister Milton Nascimento einen runden Geburtstag. Unter anderem ein Grund für den rund 35 Jahre jüngeren Hamilton ihm ein Album zu widmen und damit auch selbst ein Jubiläum zu feiern: das 10-jährige Bestehen seines "Hamilton de Holanda Quinteto".

    Hamilton de Holanda ist einer der weltbesten Mandolinenspieler. Der 41-Jährige kommt aus einer Musiker-Familie, hat also schon die Mandoline - auf Portugiesisch sagt man: Bandolím - zu spielen gelernt, bevor er lesen und schreiben konnte. Als junger Mann wurde er dann als kongenialer Begleiter von Jazzgrößen bekannt, darunter der italienische Pianist Stefano Bollani, der französische Akkordeonisten Richard Galliano und alle großen brasilianischen Stars, unter anderem Hermeto Pascoal. In Brasilien hat er sämtliche Musikpreise abgeräumt und das Mandolinenspiel revolutioniert, indem er dem Instrument Saiten hinzugefügt hat, um damit mehr Basstöne spielen zu können.
    Hamilton de Holanda spielt auf seiner Mandoline
    Hamilton de Holanda - einer der weltbesten Mandolinenspieler (imago/GlobalImagens)
    Musik: "Vera Cruz" - Hamilton de Holanda
    "Jimi Hendrix der Mandoline" nennt ihn die amerikanische Presse, und wer ihn mal live erlebt hat, der kann das einfach nur bestätigen. Hamilton de Holandas Finger fliegen mit einer Geschwindigkeit, Perfektion und Leidenschaft über die Saiten, zupfen sie in filigranster Feinarbeit, dass man nicht umhin kommt in Jubel auszubrechen. Seit 2006 Jahren hat er sich nun mit dem "Hamilton de Holanda Quinteto" einen Namen gemacht, mit André Vasconcelos am Bass, Gabriel Grossi, Mundharmonika, Márcio Bahía, Schlagzeug und Daniel Santiago an der Gitarre.
    Hommage an den Altmeister
    "Vera Cruz", das Stück stammt von Hamilton de Holandas aktueller CD "Casa de Bituca". Bituca ist der Spitzname von Milton Nascimento und mit dem Album "Das Haus von Bituca" erweist er dem Altmeister eine Hommage. Es sei Nascimentos Haltung zum Leben die ihn beeindrucke, der Wert von Freundschaft, die sich in seinen Liedern widerspiegele, betont Hamilton. Für seine CD hat er unter anderem eines der bekanntesten Nascimento Stücke ausgesucht "Canção da América" – "das Lied von Amerika", 1980 komponiert. Im Liedtext heißt es:
    Ein Freund – das ist etwas,
    das man sehr gut aufbewahren muss
    Wie unter sieben Schlüsseln verborgen
    Mitten im Herzen.
    Musik: "Canção da América" - Milton Nascimento & Boca Livre
    "Die größte Herausforderung bei diesem Stück: die Poesie der Worte Miltons in die Musik zu übertragen. Ja, ich habe mir die maximale Freiheit in der Interpretation erlaubt. Aber gleichzeitig ist die musikalische Idee, sind die Harmonien, die Akkorde dieselben wie bei Milton. Wir fügen dem Ganzen nur unsere Vision des Stückes hinzu.
    Poesie ohne Worte
    Wenn ich in Deutschland bin, dann verstehen die Leute den Text ja auch nicht, aber sie verstehen das Feeling. Natürlich, das Wort ist präziser als die Musik, aber auch die Musik verfügt über die Mittel der Poesie, ohne Worte."
    Musik: "Cancao da America" - Hamilton de Holanda
    Milton Nascimento wurde 1942 in Rio de Janeiro geboren und wuchs bei Adoptiveltern auf. Seine Adoptivmutter war Musiklehrerin und so erlernte er früh die musikalischen Basics und spielte in Samba-Gruppen. Mit Anfang Zwanzig ging er nach Belo Horizonte, wo er den Schriftsteller Fernando Brant kennenlernte. Schon die erste gemeinsame Komposition "Travessia" - 1967 - wurde auf einem Liederwettbewerb mit dem zweiten Platz ausgezeichnet.
    Stilistische Bandbreite
    Miltons internationaler Durchbruch kam dann durch die Zusammenarbeit mit dem Jazzsaxophonisten Wayne Shorter. 1974 spielten die beiden das Album "Native Dancer" ein, am Klavier: Herbie Hancock. Im Laufe seiner Karriere kam Milton mit vielen großen Künstlern zusammen, mit Jorge Ben Jor, Caetano Veloso, Chico Buarque, Gilberto Gil, Paul Simon oder James Taylor. Was ihn berühmt und für Kollegen begehrt machte, ist sein Falsettgesang und sein großer Stimmumfang. Hinzu kommt seine stilistische Bandbreite von der Música Popular Brasileira bis zum Jazz.
    Musik: "Travessía" – Milton Nascimento, Liveaufnahme 2015
    Als Du weggegangen bist,
    wurde es Nacht um mich herum.
    Ich bin stark, aber es gibt auch keine andere Wahl.
    Heute muss ich weinen.
    Mein Haus ist nicht das Meine,
    und dieser Ort ist nicht mehr der Meine.
    Ich bin alleine und kann nicht anders.
    Ich habe viel zu erzählen.
    Ich erhebe die Stimme auf der Straße,
    und ich will nicht aufhören.
    Mein Weg ist aus Steinen gemacht.
    Wie kann ich träumen…
    Texte wie diese waren in der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien, also von 1964-1985, mutig, weil doppeldeutig. Damals reichte ein vermeintlich "subversiver" Liedtext aus, um festgenommen zu werden.
    Musik: "Travessía" - Hamilton de Holanda Quinteto
    Der Brasilianische Musiker Milton Nascimento 1988 bei einem Konzert in Berlin
    Der Brasilianische Musiker Milton Nascimento 1988 bei einem Konzert in Berlin (imago / Brigani-Art)
    In der Interpretation des "Hamilton de Holanda Quinteto" singt Alcione, Brasiliens legendäre Sambasängerin das Stück "Travessía".
    "Alcione ist sehr berühmt in Brasilien. Aber dieses Stück hatte sie noch nie davor gesungen. Es war wie ein Geschenk für Milton, es von einer Sängerin mit solch hohem Niveau interpretieren zu lassen, mit solcher Popularität. Am Tag der Aufnahme sagte ich noch zu ihr: soll ich Dir den Text ausdrucken? Und sie antwortete: Also, wie kann man als Sänger den Text von Travessía nicht kennen? Bitte, es gibt keinen Sänger, der den Text nicht kennt! Es ist ein sehr berührendes und berühmtes Lied, ein Teil der brasilianischen Geschichte."
    Offen für freie Interpretation
    Milton Nascimento, so erzählt es Hamilton de Holanda, sei recht offen für die freie Interpretation seiner Stücke. Obwohl natürlich jeder Komponist - und da schließt sich de Holanda selbst mit ein - gerne seine eigene Version des Stückes hört.
    "Ich glaube, dass es Milton gefallen hat. Zufälligerweise traf ich ihn im Flugzeug kurz bevor die CD herauskam. Wir saßen da mit dem Laptop, und ich schaute in sein Gesicht, um zu sehen, ob ihm die Aufnahme gefiel. Und es gefiel ihm! Später bedankte er sich, schrieb einen sehr schönen Text an uns, und ich glaube, er war auch sehr berührt."
    Ein weiteres Stück von Nascimento, von dem sich Hamilton de Holanda inspirieren ließ, ist "Maria tres filhos", komponiert 1970.
    Musik: "Maria tres filhos" - Hamilton de Holanda Quinteto
    Hamilton de Holanda hat Nascimentos Songs nicht notengetreu nachgespielt, die Grundharmonien aber respektiert. Er lässt Raum für Improvisationen, interpretiert die Stücke in wesentlich jazzigerer Variante. Das Tempo zieht er mal an, mal lässt er sich deutlich mehr Zeit als im Original.
    Deutlicher Einfluss des Choro
    Aber es ist nicht nur die Jazz-Interpretation, die seinen Stil ausmacht, auch der Einfluss des Choro ist deutlich zu hören. Choro - auch Chorinho, kleiner Choro genannt - ist einer der ältesten Musikstile Brasiliens. Er entwickelte sich noch vor dem Samba, gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Melodielinien bestehen aus Sechzehnteln, was eine unglaubliche Virtuosität verlangt. Hamilton ist Meister darin. Der Choro hat seine Wurzeln in europäischen und afrikanischen Rhythmen der Sklaven.
    "Ja, der Choro ist eine Mischung aus Polka, Walzer mit Lundu, einem afrikanischen Rhythmus und Maxixe, das ist ein brasilianischer Stil. Wenn ich das spiele, merke ich auch: irgendwie ist da was ‚barockes‘. Auch das Publikum in Deutschland erkennt etwas wieder, merkt aber auch, dass es etwas Neues, Interessantes ist."
    Lieder aus der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien
    Die meisten Stücke, die Hamilton von Milton Nascimento ausgewählt hat, stammen aus der Zeit der Militärdiktatur. Ehrliche, deutliche Lieder über die damalige Repression, die willkürlichen Verhaftungen und Morde – aber immer mit einer Spur Hoffnung. Die Stücke habe er ganz intuitiv gewählt, sagt Hamilton.
    "Diese Lieder repräsentieren eine Epoche. Wer damals etwas sagte, auch musikalisch, hatte eine Bedeutung. Heute ist das ähnlich. Unser Land leidet sehr unter der momentanen Krise. Korruption etc., das gibt es zwar überall, aber bei uns dauert das schon sehr lange an. Wir wollen zeigen, dass trotz der negativen Dinge, die hier passieren, auch Positives entsteht. Das stärkt die positiven Gedanken der Menschen."
    Zwei der Lieder auf dem Album "Casa de Bituca" sind Eigenkompositionen von Hamilton de Holanda.
    Musik: "Guerra e Paz" - Hamilton de Holanda Quinteto
    "Guerra e Paz" - "Krieg und Frieden", featuring Milton Nascimento. Selbst singt Hamilton de Holanda nur bei einer Eigenkomposition. Eine tolle Erfahrung, meint er.
    "Das größte Instrument überhaupt ist die Stimme, die schon erfunden wurde. Ich singe viel zuhause, obwohl ich Musiker, Instrumentalist, Jazzmusiker bin. Aber dieses Stück von Marcos und mir ist der Musik Miltons sehr ähnlich. Für mich war es wie eine kleine Botschaft, die ich versenden wollte. Sie kam von Herzen. Dazu habe ich meine und Marcos Kinder eingeladen, um den Chorpart zu übernehmen."
    Der Brasilianische Sänger und Komponist Milton Nascimento bei einem Konzert in Coliseu dos Recreios in Lissabon, Portual am 26 October 2013 aus Anlass seiner 50jährigen Karriere
    Der brasilianische Sänger und Komponist Milton Nascimento bei einem Konzert in Lissabon am 26. Oktober 2013 (LUSA / EPA / Mario Cruz)
    "Marcos und ich waren wie unter Schock"
    "Mar de indiferenca" - "Meer der Gleichgültigkeit" - das Stück erzählt von dem mittlerweile weltberühmten Foto eines syrischen Jungen, der 2015 auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken ist. Den Text hat Marcos Portinari geschrieben, unter anderem der Produzent der CD.
    "Marcos und ich waren wie unter Schock, als wir dieses Foto sahen. Aber gleichzeitig ist es doch so, dass jeden Tag, wenn ein Kind geboren wird, ein neues Licht aufgeht und Hoffnung entsteht. Also, es geht um diese große Traurigkeit, aber auch um die tagtägliche Arbeit daran, dass die Hoffnung bleibt. Für mich hat die Musik die Aufgabe, diese Hoffnung zu tragen."
    Musik: "Mar da Indiferenca" - Hamilton de Holanda Quinteto
    Während der brasilianischen Militärdiktatur, die bis 1985 dauerte, wanderten zahlreiche Musiker aus oder kamen wegen ihrer Texte ins Gefängnis. Heute sei es unmöglich etwas gegen die Macht von Musik zu tun, sagt Hamilton. Und ja, es gebe zahlreiche Musiker, die wie damals offen in ihren Liedern über gesellschaftspolitische Probleme sprechen.
    "Diesmal feuere ich Dich nicht an"
    2014 zur Fußballweltmeisterschaft zum Beispiel, als Millionen für neue Stadien ausgegeben wurden, Menschen ihre Häuser verloren, komponierte Edu Krieger ein Lied. Darin listet er auf, wo das Geld tatsächlich gebraucht wird: in Schulen, Krankenhäusern und an vielen anderen Orten. "Desculpe Neymar", heißt das Lied. "Entschuldige Neymar" – gemeint ist der Fussballspieler -, "aber diesmal feuere ich dich nicht an. Ich bin müde, da wir von Dieben regiert werden, die in die eigene Tasche wirtschaften".
    "Musiker sind sehr einflussreich, ja. Und Edu Kriger ist einer davon! Ich mag ihn sehr. Diese Musik gibt das wieder, was die Bevölkerung denkt. Musik ist wie Wasser, sie fließt überall hinein und lässt die Pflanzen wachsen."
    Musik: "Clube da Esquina" - Hamilton de Holanda Quinteto
    "Dieses komische Tier Mensch"
    Musik: "Bicho Homen"- Hamilton de Holanda Quinteto
    "Bicho Homen" heißt übersetzt in etwa: "dieses komische Tier "Mensch". Eine Komposition von Milton Nascimento. Der Text stammt von Fernando Brant.
    "Die erste Aufnahme hatte keinen Text; aber es gibt eine Version von Fafa de Belém, alle hier kennen sie. In diesem Liedtext wird der Mensch mit einem Tier verglichen. Aber wenn der Mensch Gefühl und Vernunft vereint, dann kann er das Tier überwinden und eine bessere Welt erschaffen."
    Dieses Tier "Mensch" muss singen,
    im Licht der Sonne und im Schein des Mondes.
    Der Gesang hat die Macht uns zu vereinen und uns zu entdecken.
    Der Gesang ist ein Leuchtturm, der die Leidenschaft entfacht,
    die in uns allen steckt.
    Der Gesang wird immer das Gegenteil der Einsamkeit sein.
    Mein Gesang wird immer mein Leben sein.
    Er wird dem Diktator in den Hintern treten.
    Mein Gesang wird immer mein Sein, mein Schmerz,
    meine Freude und meine Liebe sein!