Zuletzt hat man es in der Schweiz erlebt, deren Bürger in einer Volksabstimmung mehrheitlich für ein Verbot von Minaretten stimmten. Was immer die schweizerischen Vorbehalten im Einzelnen ausdrücken mögen, eines dokumentieren sie ganz gewiss: die Unruhe der Europäer angesichts einer fremden, offenbar unaufhaltsam voranschreitenden Kultur. Der Islam breitet sich aus in Europa, und wie immer man dazu stehen mag, eines zeigt sich ganz deutlich: Die europäische Kultur ist nicht mehr, was sie einmal war. Homogen, abgeschlossen gegenüber anderen Kulturen ist sie nie gewesen, aber einen zumindest grob identifizierbaren Kern hatte sie doch. Christentum, Humanismus, Aufklärung und Rationalismus – das mag man im Groben als die Grundelemente europäischer Kultur definieren. Und nun also der Islam, die mächtigste, jedenfalls offensichtlichste Vorhut einer ganzen Reihe fremder Kulturen, von denen die meisten allerdings, wie etwa der Buddhismus, in Deutschland zahlenmäßig unbedeutend sind. Wenn sie überhaupt in Erscheinung treten, geben sie sich meistens ausgesprochen friedlich. Außenpolitisch entspricht diesen Phänomenen die wachsende Macht der südlichen Welt, offenbar geworden etwa beim jüngst zu Ende gegangenen Klimagipfel in Kopenhagen, wo die Menschen der südlichen Welthalbkugel mit Macht ihre Stimme erhoben. Phänomene wie diese zeigen eines in aller Deutlichkeit: Die Zeit, in der Europa, Amerika und die mit ihnen verbündeten Länder definierten, was wahr und falsch, gut und richtig ist, diese Zeit ist vorüber. Und dieses Phänomen, so der Philosoph Bernhard Waldenfels, wird uns in Zukunft noch des Öfteren beschäftigen.
"Wir waren gewohnt, die Welt zu beschreiben nach einem Kalender und einer Uhr sozusagen und alle Kulturen dort einzuordnen. Da sind wir gründlich aus dem Schlummer geweckt worden. Es gibt also eine Vielschichtigkeit und auch eine Polychronie, also viel Zeitstrukturen, und auch Zeitordnungen gleichzeitig in der Welt."
Für die Bürger des Westens bedeutet das: Sie müssen ein neues Verhältnis zu den nicht-westlichen Kulturen entwickeln – und damit auch neue Methoden, sich dem zu nähern, was sie als fremd empfinden. Aber was ist das, das Fremde? Die Vorstellung, es gäbe klar gezogene Grenzen zwischen dem Fremden und dem Vertrauten, lässt sich, aller vermeintlichen Eindeutigkeit der europäischen Kultur zum Trotz, nicht aufrechterhalten. Denn fremd, zeigt Waldenfels, sind einander auch die Bürger ein und desselben Staates.
"Ich finde, dass wir bei der Fremdheit nicht immer nur nach außen schauen sollten. Der große Spalt, der durch unsere Gesellschaft geht, nicht mehr Arm und Reich, in dieser Form, wie es das früher der Fall war. Ein Arbeitsloser ist auch ein Fremder für solche, die genau wissen, wann morgens die Uhr schlägt und wo man sein Gehalt abholt. Das vergessen wir. Also die Fremdheit ist ein Phänomen überall, wo die Grenzen einer bestimmten Ordnung auftreten."
Das heißt aber auch: Es ist schlichtweg unmöglich, KEINE Grenzen zu ziehen. Identität beruht auf Unterscheidung. Selbst Menschen mit dem allerbesten Willen, sich Fremden gegenüber zu öffnen, grenzen sich ab: nämlich denen gegenüber, die dazu nicht bereit sind. Abgrenzung, zeigt dieses kleine Beispiel, ist schlechterdings nicht vermeidbar. Selbst Menschen mit hohem moralischem Anspruch gehen auf Distanz – nämlich zu denen, die einen bescheideneren Anspruch stellen als sie. Aber gerade der Umstand, dass Menschen sich mit anderen vergleichen, ist das zentrale Unterscheidungszentrum aller moralischen Wertung. Aber gerade dadurch wissen die angeblich oder tatsächlich moralisch höher entwickelten Menschen, dass sie es sind. Jede Identität, die persönliche ebenso wie die einer Gruppe, beruht darum auf Abgrenzung gegenüber Dritten. Dieser Ausschluss, so der in Hagen lehrende Philosoph Thomas Bedorf, ist der grundlegende Mechanismus aller Identitätsbildung überhaupt.
"Und sobald man identifiziert, das heißt also, Kriterien herausgreift – etwa bestimmte kulturelle Überlieferungen, also das, was wir im Museum sehen – soll dann als entscheidend für eine Kultur gelten oder eben ein Set von Werten und Überzeugungen. Oder aber auch eine bestimmte Sprachkultur, also wenn Sie eben an die Rede von der deutschen Kulturnation denken, dann können wir das eben nur als Kriterien unter anderen verstehen, die aber nie erlauben, dass wir daran wirklich festmachen, was nun diese Kultur beinhaltet, Denn wenn wir das tun, dann ist das automatisch ein Ausschlusskriterium, das heißt, der, der nicht Deutsch kann, kann dann per definitionem kein Deutscher sein. ... Das heißt, bündig gesagt, sobald man Kriterien definiert für eine Kultur, ist man schon beim Ausschluss."
Da dieser Mechanismus auch auf globaler Ebene gilt, bleibt die Vorstellung einer glücklich vereinten Menschheit auf alle Zeiten ein frommer Traum. Ein Multikulturalismus, der alle Unterschiede am liebsten negierte, stößt darum sehr schnell an seine Grenzen, erklärt Thomas Bedorf, der soeben eine große Studie zum Thema abgeschlossen hat.
" Wir müssen verstehen, dass das nicht etwas ist, was wir vermeiden können, sondern dass das notwendigerweise zu Interkulturalität hinzugehört. Also das heißt Reibung, das heißt Konflikt. Das heißt Streit. Man muss nur gewissermaßen darauf achten, dass das in humanen Bahnen verläuft, dieser Streit. So wie es keinen Krieg der Kulturen gibt, wie Fokuyama mal gesagt hat, so sehr gibt es auch keine Harmonie der Kulturen. Und das heißt, diese Konflikte sind dynamisch, die sind im Fluss. Und wir müssen eben dazu kommen, dass wir das nicht als ein Problem betrachten, dass es Konflikte gibt, sondern sie selber sozusagen als die Erfindung von etwas Neuem verstehen können."
Das Problem ist, dass diese Mechanismen auch dann gültig sind, wenn man sie durchschaut hat. Der Mensch muss sich definieren, und das heißt auch, er muss sich von anderen Menschen unterscheiden. Das gilt natürlich auch für die Europäer, denen nationale Identitätsvorstellungen eher verdächtig sind. Aber außer Kraft gesetzt, so der an der Universität Witten-Herdecke lehrende Kulturwissenschaftler Mathias Kettner, sind diese darum noch lange nicht.
"Ich glaube nicht, dass die Europäer mit ihren Identitätskonstruktionen sich da auf anderem Terrain bewegen als andere Weltgegenden mit deren Identitätskonstruktionen. Vielleicht ist in Europa über einen langen Zeitraum doch ein bisschen ein reflexiver und distanzierter Umgang mit Identitäten eingeübt worden. Aber das kann auch schnell wieder verloren gehen."
Derzeit sieht sich Deutschland, sehen sich aber auch viele andere europäische Länder vor allem durch den Islam herausgefordert: Wie sollen sie ihm gegenüber auftreten? Noch dringlicher ist die Frage: Was überhaupt ist der Islam? Was will er? Welche Wertordnung haben die Muslime? Wie sehen sie das Verhältnis von Staat und Religion, was halten sie vom Grundgesetz? Ganz wesentlich sind diese Fragen schon durch den Hinweis entschärft, dass sie womöglich falsch oder besser: zu unpräzise gestellt sind. Auf dem Höhepunkt des mörderischen ETA-Terrorismus wies der spanische Autor Juan Goytisolo einmal darauf hin, dass man unterscheiden müsse: nämlich zwischen einem Basken, einem baskischen Nationalisten und einem ETA-Terroristen. Ein eindeutiger Staatsfeind sei nur der letzte. Mit dem Nationalisten hingegen lasse sich reden. Ähnlich bunt wie die Basken sind auch die Muslime. Auch hier muss man genau hinschauen, erklärt der Islamwissenschaftler Raoul Motika.
"Wenn Sie zum Beispiel jemanden haben, der aus einer türkischen Familie stammt, die nach 1980 wegen des Militärputsches hierher als Linker geflohen ist, dann womöglich sich hier in der SPD engagiert hat und dessen Kinder jetzt hier auf die Universität gehen, haben Sie natürlich was völlig anderes als wie wenn Sie ländlich-ostanatolische Eltern, Großeltern haben mit einem extrem niedrigen Bildungshintergrund oder eben wo die Frau in Anführungszeichen "importiert" wurde für die Heirat, wenn es um die zweite Generation geht, die vielleicht eine Grundschulbildung in der Türkei durchlaufen hat und kaum noch lesen und schreiben kann und aus einem geschlossenen religiös-konservativen Milieu kommt – und so weiter, also das sind ganz große Dinge."
Gut möglich, darum, dass sich die deutschen und europäischen Integrationsdebatten vorschnell auf die Religion als entscheidenden Faktor der Integration – oder Nicht-Integration – eingelassen haben. Es scheint, dass es den Europäern an Selbstvertrauen mangelt, der eigenen Lebensweise eine große Überzeugungskraft zuzutrauen. Relativer Wohlstand, die individuellen Freiheiten, Bürgerrechte all dies Errungenschaften, deretwegen Menschen hierher kommen. Dass es mit der Integration trotzdem oft nicht klappt, das, erklärt Raoul Motika, hat oft ganz andere als religiöse Gründe.
" Sehr viel ausschlaggebender ist tatsächlich der soziale Status der Leute. Wenn Sie die gleichen niedrigen Bildungshintergründe bei sogenannten Altdeutschen vergleichen mit diesen Zuwanderern – Zuwandererkindern, wenn sie auch da die häufig desolaten Familienverhältnisse hernehmen, dann finden Sie auch da hohe Gewaltbereitschaft, starke Männer, die Männlichkeitsideale, die sehr auf patriarchalischen Vorstellungen beruhen. Also da werden die Unterschiede sehr schnell viel geringer. Und wir haben hier ja unter jungen Muslimen zwar eine theoretische relativ hohe Bereitschaft, was weiß ich, wenn man beleidigt wird oder wenn die Religion beleidigt wird, dann auch mit Gewalt darauf zu reagieren. Nur: In der Praxis sind die Raten gerade bei solchen Fällen nirgendwo signifikant höher als bei der vergleichbaren sozialen Gruppe bei Deutschen. Weil wenn Sie einen türkischen Gymnasiasten haben mit irgendeinem muslimischen Glaubenshintergrund oder türkischstämmigen muslimischen, der wird nicht signifikant höher gewaltbereit sein als eben die vergleichbaren Altdeutschen und so weiter. Also von dem her hier muss man sehr vorsichtig sein."
"Am Anfang war Erziehung" heißt einberühmtes Buch der US-amerikanischen Psychoanalytikerin Alice Miller. Dasselbe lässt sich auch über die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg hiesiger Integrationsbemühungen sagen. Die staatlichen Einrichtungen können sich mühen, wie sie wollen, sagt der Soziologe Hartmut Esser, Autor einer einschlägigen, am Beispiel des Spracherwerbs argumentierenden Studie. Sie können sich mühen, wie sie wollen – doch das Wesentliche ist schon im Elternhaus angelegt.
"Wenn Integrationspolitik irgend etwas ändert, dann kommt das nur über tausend Umwege an und vermag gegen die alltäglichen Zwänge aus der Familien- und Migrationsbiografie heraus eigentlich relativ wenig auszurichten. Was sich immer wieder zeigt, dass etwas drei Viertel der erklärten Varianz – so nennen wir das – auf die individuellen Faktoren zurückzuführen ist, und das restliche Viertel auf irgendetwas an der Aufnahmegesellschaft. Das muss keine spezifische Politik sein, das kann alles möglich sein. Ob es traditionelle Einwanderungsgesellschaften sind oder so. Aber nur ein Viertel! Sodass also, wenn man jetzt guckt, wo drehe ich dran, an welcher Schraube, man sagen muss, an der Familienangelegenheit, das heißt Alltag, Stadtteil, Schule, Kindergarten vor allen Dingen und so weiter. Und das andere zur Unterstützung - wenn das nichts kostet, kann man das ja machen, auch Symbolpolitik kann man ruhig machen. Aber man sollte sich nicht allzu viel davon versprechen."
Der Familienhintergrund als entscheidender Faktor für Erfolg oder Misserfolg der Integration. Das ist ein sehr starkes Argument dafür, dass eine Einwanderungsgesellschaft, jenseits grundsätzlicher humanitärer Erwägungen, sehr genaue Vorstellungen davon haben muss, wen sie ins Land lässt und wen nicht. Und ein Weiteres kommt hinzu: die Zahl derer, die sie ins Land lässt. Hartmut Esser hat die Situation türkischer Einwanderer in Deutschland mit der hispano-amerikanischer in den USA verglichen. Die Integration beider Gruppen gilt als schwierig. Das ist kein Zufall, so unterschiedlich ihre Herkunft auch ist. Denn beide Gruppen, beobachtet Hartmut Esser, verbindet etwas.
"Es sind einfach die größten Gruppen. Ich meine, das ist eine einfache Erklärung, aber mit einfachen Erklärungen kommt man, wenn sie funktionieren, natürlich viel weiter als mit allen möglichen komplizierten Sachen. Und das ist ganz klar. Ich meine, da gibt es die Theorie von Peter Blau, der im Grunde gesagt hat, wenn du der einzige Eskimo bist, weit und breit, und du willst jemand heiraten, dann musst du jemand andere heiraten als einen Eskimo. Damit habe ich Assimilation sozusagen strukturell erzwungen. Je größer die Gruppe wird, muss das nicht mehr sein. Und ich vermute, dass es eine ganze Reihe von Phänomen gibt. Ich muss nicht von Parallelgesellschaften sprechen. Aber wenn ich Sprache Netzwerke, auch Identitäten auch immer wieder im eigenen Bereich bestätigt kriege – und Sprache Netzwerke, Identitäten helfen mir außerhalb dieses Bereiches beim Aufstieg überhaupt nichts, so wie sich zeigt, also das mit der ethnischen Ressource ist so oder so – es kann eine sein, aber für Unterschichten ist es keine Ressource. Dann ist es eher eine Belastung oder ein Stigma sogar."
Eine entscheidende Frage ist demnach die, auf welchen Wegen ein Einwanderer aufsteigt: Gemäß den Spielregeln der Aufnahmegesellschaft? Oder nach denen der Einwanderergruppe selber, innerhalb derer er sich zwar nach oben arbeiten kann, die ihm jedoch zuletzt sehr enge Grenzen setzt? Der letztgenannte Weg führt nicht weit. Eben darum, so der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der 1990 mit seinem Buch "Multikulti" die deutsche Integrationsdebatte entscheidend mit anstieß, darum, kommt es auf die Aufstiegsmöglichkeit nach den Maßgaben der Aufnahmegesellschaft an.
"Und da stellen wir halt fest, dass die durchaus gegeben in der deutschen Gesellschaft, gewissermaßen die türkische Gruppe als diejenige anzusiedeln, die am schlechtesten zurechtkommt, geht von irgendwelchen Durchschnittswerten aus, die man immer nur bilden kann, aber es gibt natürlich höchst unterschiedliche Gruppen in der türkischen Einwanderung. Die Erfolgsgeschichten sind ja durchaus vorhanden. Die betreffen nicht die Mehrheit der türkischen Einwanderer, aber sie betreffen strategische Gruppen. Es gibt ein schönes Beispiel hier aus der Gegend: Duisburg Marxlow. Da hat man also eine berühmte Moschee gebaut, die größte in ganz Deutschland bisher, bevor dann die in Köln wurde. Das Viertel, in dem diese Moschee steht, hat deswegen keinen Moscheekonflikt gehabt nicht nur wegen der Integrationsanstrengungen, die die Landesregierung dort macht, sondern auch deswegen, weil die umliegende Bevölkerung, die ja bekanntlich Opfer eines Strukturwandels im Industriegebiet Ruhr gewesen ist, anerkannt hat, dass die ökonomisch wirklich progressiven Kräfte, die diesen Stadtteil wieder rausbringen, im Wesentlichen die dort lebende türkische Bevölkerung ist."
Die Minarette mögen weiter fremd bleiben. Aber nicht alles, was fremd ist, ist darum zwangsläufig bedrohlich. Vielmehr, so der Philosoph Bernhard Waldenfels, hat auch die Aufnahmegesellschaft einige Aufgaben zu bewältigen. Vor allem muss sie sich fragen, ob ihre Vorstellungen von Richtig und Gut ausnahmslos die richtigen sind. An den politischen Grundwerten muss man darum noch lange nicht wackeln. Philosophisch aber stellt der Islam, stellt die multikulturelle Gesellschaft durchaus eine Herausforderung dar, aus der die Bürger der westlichen Welt auch lernen können.
"Ich gebrauche "Vernunft" immer im Plural – "Rationalitäten", wie "Kulturen" auch. Und dann gibt es also nicht ein Nebeneinander, wie so Monaden. Sondern es gibt dann eine Überschneidung von vielen. Und die schafft natürlich auch Friktionen. Also der "clash of cultures" oder "civilizations" ist ein Phänomen, das natürlich dann genau auftritt, wenn man nicht ein Zentrum hat und das andere ohnehin an den Rand drängt und sich dagegen verteidigt oder die Grenzen hinausschiebt. Das ist eine Situation, wo wir umlernen müssen."
"Wir waren gewohnt, die Welt zu beschreiben nach einem Kalender und einer Uhr sozusagen und alle Kulturen dort einzuordnen. Da sind wir gründlich aus dem Schlummer geweckt worden. Es gibt also eine Vielschichtigkeit und auch eine Polychronie, also viel Zeitstrukturen, und auch Zeitordnungen gleichzeitig in der Welt."
Für die Bürger des Westens bedeutet das: Sie müssen ein neues Verhältnis zu den nicht-westlichen Kulturen entwickeln – und damit auch neue Methoden, sich dem zu nähern, was sie als fremd empfinden. Aber was ist das, das Fremde? Die Vorstellung, es gäbe klar gezogene Grenzen zwischen dem Fremden und dem Vertrauten, lässt sich, aller vermeintlichen Eindeutigkeit der europäischen Kultur zum Trotz, nicht aufrechterhalten. Denn fremd, zeigt Waldenfels, sind einander auch die Bürger ein und desselben Staates.
"Ich finde, dass wir bei der Fremdheit nicht immer nur nach außen schauen sollten. Der große Spalt, der durch unsere Gesellschaft geht, nicht mehr Arm und Reich, in dieser Form, wie es das früher der Fall war. Ein Arbeitsloser ist auch ein Fremder für solche, die genau wissen, wann morgens die Uhr schlägt und wo man sein Gehalt abholt. Das vergessen wir. Also die Fremdheit ist ein Phänomen überall, wo die Grenzen einer bestimmten Ordnung auftreten."
Das heißt aber auch: Es ist schlichtweg unmöglich, KEINE Grenzen zu ziehen. Identität beruht auf Unterscheidung. Selbst Menschen mit dem allerbesten Willen, sich Fremden gegenüber zu öffnen, grenzen sich ab: nämlich denen gegenüber, die dazu nicht bereit sind. Abgrenzung, zeigt dieses kleine Beispiel, ist schlechterdings nicht vermeidbar. Selbst Menschen mit hohem moralischem Anspruch gehen auf Distanz – nämlich zu denen, die einen bescheideneren Anspruch stellen als sie. Aber gerade der Umstand, dass Menschen sich mit anderen vergleichen, ist das zentrale Unterscheidungszentrum aller moralischen Wertung. Aber gerade dadurch wissen die angeblich oder tatsächlich moralisch höher entwickelten Menschen, dass sie es sind. Jede Identität, die persönliche ebenso wie die einer Gruppe, beruht darum auf Abgrenzung gegenüber Dritten. Dieser Ausschluss, so der in Hagen lehrende Philosoph Thomas Bedorf, ist der grundlegende Mechanismus aller Identitätsbildung überhaupt.
"Und sobald man identifiziert, das heißt also, Kriterien herausgreift – etwa bestimmte kulturelle Überlieferungen, also das, was wir im Museum sehen – soll dann als entscheidend für eine Kultur gelten oder eben ein Set von Werten und Überzeugungen. Oder aber auch eine bestimmte Sprachkultur, also wenn Sie eben an die Rede von der deutschen Kulturnation denken, dann können wir das eben nur als Kriterien unter anderen verstehen, die aber nie erlauben, dass wir daran wirklich festmachen, was nun diese Kultur beinhaltet, Denn wenn wir das tun, dann ist das automatisch ein Ausschlusskriterium, das heißt, der, der nicht Deutsch kann, kann dann per definitionem kein Deutscher sein. ... Das heißt, bündig gesagt, sobald man Kriterien definiert für eine Kultur, ist man schon beim Ausschluss."
Da dieser Mechanismus auch auf globaler Ebene gilt, bleibt die Vorstellung einer glücklich vereinten Menschheit auf alle Zeiten ein frommer Traum. Ein Multikulturalismus, der alle Unterschiede am liebsten negierte, stößt darum sehr schnell an seine Grenzen, erklärt Thomas Bedorf, der soeben eine große Studie zum Thema abgeschlossen hat.
" Wir müssen verstehen, dass das nicht etwas ist, was wir vermeiden können, sondern dass das notwendigerweise zu Interkulturalität hinzugehört. Also das heißt Reibung, das heißt Konflikt. Das heißt Streit. Man muss nur gewissermaßen darauf achten, dass das in humanen Bahnen verläuft, dieser Streit. So wie es keinen Krieg der Kulturen gibt, wie Fokuyama mal gesagt hat, so sehr gibt es auch keine Harmonie der Kulturen. Und das heißt, diese Konflikte sind dynamisch, die sind im Fluss. Und wir müssen eben dazu kommen, dass wir das nicht als ein Problem betrachten, dass es Konflikte gibt, sondern sie selber sozusagen als die Erfindung von etwas Neuem verstehen können."
Das Problem ist, dass diese Mechanismen auch dann gültig sind, wenn man sie durchschaut hat. Der Mensch muss sich definieren, und das heißt auch, er muss sich von anderen Menschen unterscheiden. Das gilt natürlich auch für die Europäer, denen nationale Identitätsvorstellungen eher verdächtig sind. Aber außer Kraft gesetzt, so der an der Universität Witten-Herdecke lehrende Kulturwissenschaftler Mathias Kettner, sind diese darum noch lange nicht.
"Ich glaube nicht, dass die Europäer mit ihren Identitätskonstruktionen sich da auf anderem Terrain bewegen als andere Weltgegenden mit deren Identitätskonstruktionen. Vielleicht ist in Europa über einen langen Zeitraum doch ein bisschen ein reflexiver und distanzierter Umgang mit Identitäten eingeübt worden. Aber das kann auch schnell wieder verloren gehen."
Derzeit sieht sich Deutschland, sehen sich aber auch viele andere europäische Länder vor allem durch den Islam herausgefordert: Wie sollen sie ihm gegenüber auftreten? Noch dringlicher ist die Frage: Was überhaupt ist der Islam? Was will er? Welche Wertordnung haben die Muslime? Wie sehen sie das Verhältnis von Staat und Religion, was halten sie vom Grundgesetz? Ganz wesentlich sind diese Fragen schon durch den Hinweis entschärft, dass sie womöglich falsch oder besser: zu unpräzise gestellt sind. Auf dem Höhepunkt des mörderischen ETA-Terrorismus wies der spanische Autor Juan Goytisolo einmal darauf hin, dass man unterscheiden müsse: nämlich zwischen einem Basken, einem baskischen Nationalisten und einem ETA-Terroristen. Ein eindeutiger Staatsfeind sei nur der letzte. Mit dem Nationalisten hingegen lasse sich reden. Ähnlich bunt wie die Basken sind auch die Muslime. Auch hier muss man genau hinschauen, erklärt der Islamwissenschaftler Raoul Motika.
"Wenn Sie zum Beispiel jemanden haben, der aus einer türkischen Familie stammt, die nach 1980 wegen des Militärputsches hierher als Linker geflohen ist, dann womöglich sich hier in der SPD engagiert hat und dessen Kinder jetzt hier auf die Universität gehen, haben Sie natürlich was völlig anderes als wie wenn Sie ländlich-ostanatolische Eltern, Großeltern haben mit einem extrem niedrigen Bildungshintergrund oder eben wo die Frau in Anführungszeichen "importiert" wurde für die Heirat, wenn es um die zweite Generation geht, die vielleicht eine Grundschulbildung in der Türkei durchlaufen hat und kaum noch lesen und schreiben kann und aus einem geschlossenen religiös-konservativen Milieu kommt – und so weiter, also das sind ganz große Dinge."
Gut möglich, darum, dass sich die deutschen und europäischen Integrationsdebatten vorschnell auf die Religion als entscheidenden Faktor der Integration – oder Nicht-Integration – eingelassen haben. Es scheint, dass es den Europäern an Selbstvertrauen mangelt, der eigenen Lebensweise eine große Überzeugungskraft zuzutrauen. Relativer Wohlstand, die individuellen Freiheiten, Bürgerrechte all dies Errungenschaften, deretwegen Menschen hierher kommen. Dass es mit der Integration trotzdem oft nicht klappt, das, erklärt Raoul Motika, hat oft ganz andere als religiöse Gründe.
" Sehr viel ausschlaggebender ist tatsächlich der soziale Status der Leute. Wenn Sie die gleichen niedrigen Bildungshintergründe bei sogenannten Altdeutschen vergleichen mit diesen Zuwanderern – Zuwandererkindern, wenn sie auch da die häufig desolaten Familienverhältnisse hernehmen, dann finden Sie auch da hohe Gewaltbereitschaft, starke Männer, die Männlichkeitsideale, die sehr auf patriarchalischen Vorstellungen beruhen. Also da werden die Unterschiede sehr schnell viel geringer. Und wir haben hier ja unter jungen Muslimen zwar eine theoretische relativ hohe Bereitschaft, was weiß ich, wenn man beleidigt wird oder wenn die Religion beleidigt wird, dann auch mit Gewalt darauf zu reagieren. Nur: In der Praxis sind die Raten gerade bei solchen Fällen nirgendwo signifikant höher als bei der vergleichbaren sozialen Gruppe bei Deutschen. Weil wenn Sie einen türkischen Gymnasiasten haben mit irgendeinem muslimischen Glaubenshintergrund oder türkischstämmigen muslimischen, der wird nicht signifikant höher gewaltbereit sein als eben die vergleichbaren Altdeutschen und so weiter. Also von dem her hier muss man sehr vorsichtig sein."
"Am Anfang war Erziehung" heißt einberühmtes Buch der US-amerikanischen Psychoanalytikerin Alice Miller. Dasselbe lässt sich auch über die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg hiesiger Integrationsbemühungen sagen. Die staatlichen Einrichtungen können sich mühen, wie sie wollen, sagt der Soziologe Hartmut Esser, Autor einer einschlägigen, am Beispiel des Spracherwerbs argumentierenden Studie. Sie können sich mühen, wie sie wollen – doch das Wesentliche ist schon im Elternhaus angelegt.
"Wenn Integrationspolitik irgend etwas ändert, dann kommt das nur über tausend Umwege an und vermag gegen die alltäglichen Zwänge aus der Familien- und Migrationsbiografie heraus eigentlich relativ wenig auszurichten. Was sich immer wieder zeigt, dass etwas drei Viertel der erklärten Varianz – so nennen wir das – auf die individuellen Faktoren zurückzuführen ist, und das restliche Viertel auf irgendetwas an der Aufnahmegesellschaft. Das muss keine spezifische Politik sein, das kann alles möglich sein. Ob es traditionelle Einwanderungsgesellschaften sind oder so. Aber nur ein Viertel! Sodass also, wenn man jetzt guckt, wo drehe ich dran, an welcher Schraube, man sagen muss, an der Familienangelegenheit, das heißt Alltag, Stadtteil, Schule, Kindergarten vor allen Dingen und so weiter. Und das andere zur Unterstützung - wenn das nichts kostet, kann man das ja machen, auch Symbolpolitik kann man ruhig machen. Aber man sollte sich nicht allzu viel davon versprechen."
Der Familienhintergrund als entscheidender Faktor für Erfolg oder Misserfolg der Integration. Das ist ein sehr starkes Argument dafür, dass eine Einwanderungsgesellschaft, jenseits grundsätzlicher humanitärer Erwägungen, sehr genaue Vorstellungen davon haben muss, wen sie ins Land lässt und wen nicht. Und ein Weiteres kommt hinzu: die Zahl derer, die sie ins Land lässt. Hartmut Esser hat die Situation türkischer Einwanderer in Deutschland mit der hispano-amerikanischer in den USA verglichen. Die Integration beider Gruppen gilt als schwierig. Das ist kein Zufall, so unterschiedlich ihre Herkunft auch ist. Denn beide Gruppen, beobachtet Hartmut Esser, verbindet etwas.
"Es sind einfach die größten Gruppen. Ich meine, das ist eine einfache Erklärung, aber mit einfachen Erklärungen kommt man, wenn sie funktionieren, natürlich viel weiter als mit allen möglichen komplizierten Sachen. Und das ist ganz klar. Ich meine, da gibt es die Theorie von Peter Blau, der im Grunde gesagt hat, wenn du der einzige Eskimo bist, weit und breit, und du willst jemand heiraten, dann musst du jemand andere heiraten als einen Eskimo. Damit habe ich Assimilation sozusagen strukturell erzwungen. Je größer die Gruppe wird, muss das nicht mehr sein. Und ich vermute, dass es eine ganze Reihe von Phänomen gibt. Ich muss nicht von Parallelgesellschaften sprechen. Aber wenn ich Sprache Netzwerke, auch Identitäten auch immer wieder im eigenen Bereich bestätigt kriege – und Sprache Netzwerke, Identitäten helfen mir außerhalb dieses Bereiches beim Aufstieg überhaupt nichts, so wie sich zeigt, also das mit der ethnischen Ressource ist so oder so – es kann eine sein, aber für Unterschichten ist es keine Ressource. Dann ist es eher eine Belastung oder ein Stigma sogar."
Eine entscheidende Frage ist demnach die, auf welchen Wegen ein Einwanderer aufsteigt: Gemäß den Spielregeln der Aufnahmegesellschaft? Oder nach denen der Einwanderergruppe selber, innerhalb derer er sich zwar nach oben arbeiten kann, die ihm jedoch zuletzt sehr enge Grenzen setzt? Der letztgenannte Weg führt nicht weit. Eben darum, so der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der 1990 mit seinem Buch "Multikulti" die deutsche Integrationsdebatte entscheidend mit anstieß, darum, kommt es auf die Aufstiegsmöglichkeit nach den Maßgaben der Aufnahmegesellschaft an.
"Und da stellen wir halt fest, dass die durchaus gegeben in der deutschen Gesellschaft, gewissermaßen die türkische Gruppe als diejenige anzusiedeln, die am schlechtesten zurechtkommt, geht von irgendwelchen Durchschnittswerten aus, die man immer nur bilden kann, aber es gibt natürlich höchst unterschiedliche Gruppen in der türkischen Einwanderung. Die Erfolgsgeschichten sind ja durchaus vorhanden. Die betreffen nicht die Mehrheit der türkischen Einwanderer, aber sie betreffen strategische Gruppen. Es gibt ein schönes Beispiel hier aus der Gegend: Duisburg Marxlow. Da hat man also eine berühmte Moschee gebaut, die größte in ganz Deutschland bisher, bevor dann die in Köln wurde. Das Viertel, in dem diese Moschee steht, hat deswegen keinen Moscheekonflikt gehabt nicht nur wegen der Integrationsanstrengungen, die die Landesregierung dort macht, sondern auch deswegen, weil die umliegende Bevölkerung, die ja bekanntlich Opfer eines Strukturwandels im Industriegebiet Ruhr gewesen ist, anerkannt hat, dass die ökonomisch wirklich progressiven Kräfte, die diesen Stadtteil wieder rausbringen, im Wesentlichen die dort lebende türkische Bevölkerung ist."
Die Minarette mögen weiter fremd bleiben. Aber nicht alles, was fremd ist, ist darum zwangsläufig bedrohlich. Vielmehr, so der Philosoph Bernhard Waldenfels, hat auch die Aufnahmegesellschaft einige Aufgaben zu bewältigen. Vor allem muss sie sich fragen, ob ihre Vorstellungen von Richtig und Gut ausnahmslos die richtigen sind. An den politischen Grundwerten muss man darum noch lange nicht wackeln. Philosophisch aber stellt der Islam, stellt die multikulturelle Gesellschaft durchaus eine Herausforderung dar, aus der die Bürger der westlichen Welt auch lernen können.
"Ich gebrauche "Vernunft" immer im Plural – "Rationalitäten", wie "Kulturen" auch. Und dann gibt es also nicht ein Nebeneinander, wie so Monaden. Sondern es gibt dann eine Überschneidung von vielen. Und die schafft natürlich auch Friktionen. Also der "clash of cultures" oder "civilizations" ist ein Phänomen, das natürlich dann genau auftritt, wenn man nicht ein Zentrum hat und das andere ohnehin an den Rand drängt und sich dagegen verteidigt oder die Grenzen hinausschiebt. Das ist eine Situation, wo wir umlernen müssen."