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Minderjährige Flüchtlinge
Freiwillige übernehmen Vormundschaft

Unter den Flüchtlingen, die derzeit Deutschland erreichen, sind viele Kinder, die ihre Eltern verloren haben. In Berlin übernehmen Freiwillige nun die Vormundschaft für diese Kinder, um sie in allen rechtlichen Fragen zu vertreten oder sie zum Arzt zu begleiten. Oft geht das Engagement auch darüber hinaus.

Von Kemal Hür |
    Drei minderjährige Jungen hocken auf einem Absperrgitter.
    Auch Kinder müssen alle sechs Monate zur Ausländerbehörde und ihre Duldung verlängern lassen - eine unzumutbare Belastung, findet Vormund Susanne Ahlers. (dpa / Matthias Balk)
    Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Berlin. Mehrere hundert Menschen warten auf dem Gelände eines ehemaligen Krankenhauses darauf, sich registrieren zu lassen. Ehrenamtliche helfen den Flüchtlingen. In Zelten servieren sie Essen, sie geben Auskunft. Junge Männer vertreiben sich das Warten mit Trommelmusik und arabischem Tanz. Frauen mit Kindern sitzen unter den Bäumen. An einem Infostand verteilen Mitarbeiter des Kurdistan Kultur- und Hilfsvereins Stadtpläne und informieren die Flüchtlinge in Kurdisch, Arabisch und Englisch über ihre kostenlosen Deutschkurse. Der Verein möchte sich auch um Kinder kümmern, die ohne Begleitung nach Berlin gekommen sind, erzählt Geschäftsführer Fevzi Aktaş:
    "Demnächst werden wir eine Veranstaltung organisieren über die Vormundschaft, unter welchen Bedingungen man die machen kann. Wir wollen, dass unsere Landsleute diese ehrenamtliche Tätigkeit übernehmen und den Jugendlichen dabei helfen."
    Duldung: "Das ist eine enorme psychische Belastung"
    Auch türkische und arabische Vereine haben ihre Mitglieder dazu aufgerufen, sich ehrenamtlich zu engagieren und Vormundschaften zu übernehmen. Beim für minderjährige Flüchtlinge zuständigen Jugendamt haben sich sehr viele Interessenten gemeldet. Sie müssen nun geschult werden, um von den Familiengerichten bestellt werden zu können. Susanne Ahlers ist bereits Vormund für ein 15-jähriges Mädchen aus Westafrika.
    Die selbstständige Personalberaterin Ahlers telefoniert mit einer Mitarbeiterin des Vereins AKINDA. Dieser informiert und koordiniert in Zusammenarbeit mit den Jugendämtern die Vormundschaften. Einmal im Monat treffen sich die Vormünder zum Austausch. Ahlers möchte dort zum wiederholten Male das Thema Duldung besprechen. Die minderjährigen Flüchtlinge leiden darunter, sagt sie, dass sie keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis haben. Sie müssen alle sechs Monate zur Ausländerbehörde und ihre Duldung verlängern lassen.
    "Sie können nicht ausgewiesen werden; auch aufgrund der UN-Kinderrechtskonvention, die die Bundesrepublik unterschrieben hat. Aber machen sie das einem Kind oder Jugendlichen klar. Dass sie trotzdem immer dahin müssen und jedes Mal eine Verlängerung beantragen müssen, die glauben Ihnen das nicht. Und das verstehe ich auch. Das ist eine enorme psychische Belastung, über die ich mich total aufregen kann, weil ich überzeugt bin, das kann man anders regeln."
    In allen Alltagssituationen da sein
    Susanne Ahlers begleitet das Flüchtlingskind, das sie ihr Mündel nennt, jedes Mal zur Ausländerbehörde. Sie fühlt sich verantwortlich, auch wenn sie als Vormund keine Erziehungsberechtigte ist. Zu ihren Pflichten gehört es, ihr Mündel mindestens einmal im Monat zu treffen, bei schulischen und medizinischen Entscheidungen mitzuwirken. Das Mündel von Susanne Ahlers ist ein 15-jähriges Mädchen. Es kam vor drei Jahren aus einem westafrikanischen Land nach Berlin, wohnt in einem betreuten Heim und besucht zur Zeit ein deutsch-französisches Gymnasium. Über die Fluchtgründe und die Familie des Mädchens weiß Ahlers nur wenig:
    "Sie hat keine Eltern mehr. Sie sind gestorben. Warum sie tatsächlich nach Deutschland gekommen ist, ich weiß es schlicht nicht. Ich bohre nie. Ich frage durchaus mal. Aber wenn ich merke, es kommen keine Antworten, oder die Situation ist unangenehm, dann lasse ich es auch wieder. Ich muss es ja nicht wissen für die Situation hier. Sie ist hier mutterseelenallein; sie hat niemanden. Und das reicht mir als Information."
    Die 56-Jährige versucht, für das Flüchtlingskind in allen schwierigen, aber auch schönen Alltagssituationen da zu sein. Sie fahren gemeinsam Fahrrad, kochen manchmal zusammen oder gehen zum Sport. Einmal, sagt Ahlers, habe ihr Mündel auch angerufen, um von ihrem Liebeskummer zu erzählen. Ahlers hat immer ein offenes Ohr. Besonders hellhörig ist sie beim Thema Bildung.
    "Weil viele sind ungeheuer ehrgeizig. Auch mein jetziges Mündel hat super Zeugnisse. Und das kann sie nur haben, weil sie auf einer bilingualen Schule ist; weil ein Teil der Fächer in Französisch ist und nicht in Deutsch."
    Es war die Entscheidung von Susanne Ahlers, ihr Mündel auf eine Schule zu schicken, wo sie auch in der Muttersprache unterrichtet wird. Eine richte Entscheidung, sagt Ahlers, die sich als eine Art Tante für das westafrikanische Kind versteht.